Lyrische Naturkunden

Im „Buch der Bestimmungen“ dichtet Mara-Daria Cojocaru fantasievoll und erdnah

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wahrheit, eher empirisch erfahrbar als kritisch-reflektiert durchdacht, ist manchmal ganz einfach: Wir werden beobachtet, von der „Nachbarskatze“ etwa, die, natürlich nicht, ganz klassisch theoretisch philosophiert, aber wachsam zuschaut – wie die Dichterin, professionelle, auch passionierte Tierethikerin zudem, dies tut. Mara-Daria Cojocarus Dichtungen verfließen rauschend, fließen ineinander. Sie beschreibt Phänomene dieser Welt ganz leise, einer besonderen Sprache verbunden, nämlich der Sprache der Natur. 

Mit den ersten Gedichten, die die Lyrikerin in ihrem neuen Band verknüpft und damit miteinander in Beziehung setzt, klärt sich manches auf, auch der „Himmel“ über uns, bisweilen zumindest. Mancher endliche Verstand traut so sehr der eigenen Klugheit und hat zu sehen verlernt. Menschen sehen zwar noch, ja, aber nicht wie die Dohle, die eine alte Dame erblickt: „Aber sehen Sie. … Der Dohle / Liegt etwas auf der Zunge. Wir sind / Nicht mehr allein in unseren Städten / Sie studieren uns. Sie nicken leicht.“ Wir, die wir zu studieren meinen, werden studiert, auf andere Art, ohne Not, ohne Ehrgeiz und erst recht ohne Benotungen.  

Manche Tiere besitzen, so scheint es, auch eine sehr besondere, ganz eigene Art von Theologie und Philosophie, denn Dachse „gehen gern in die Tiefe“, aber nicht wie ein „Griesgram / Auf dem Weg zum Priesterseminar“. Der Pastor erwägt spröde Begriffe, missmutig grummelnd. Auch er ist ein Einzelgänger, wie der Dachs, folgt jedoch einer anderen Mission. Der Dachs ist nur ein Dachs, und das genügt ihm auch:

Was bleibt? Der Dachs schüttelt sich
Es fallen lange Grannenhaare
Aus den Flanken, wie Funken
Die Erneuerung des dunklen
Systems aus dem Geist der Eleganz

So sind, auch dies ist eine poetische Zuschreibung, der dräuende Gottesmann, der dem Begriff von Gott, den er sich gemacht hat, nicht mehr traut, und der Dachs auf gewisse Weise einander verwandt. Der Dachs murrt nicht, bleib derselbe und wird neu, elegant sogar. Aber sind sie einander wirklich nahe? Vielleicht bewundert der Theologe die tierische Geschmeidigkeit und bleibt unverändert, möglicherweise neidisch, ganz er selbst, weil er jeden Wandel scheut, bis auf den Wechsel der Straßenseite:

Du hältst den Atem an
Für das Priesterseminar. Du lässt ihn
Gehen, wechselst auf die andere Seite.

Dann erzählt die Dichterin vom Schwimmen. Wer schwimmt, schwimmt. Braucht jemand dazu „ein Argument“, philosophisch wuchtig, stringent und überzeugend? Ein Argument, das erhabene Denker zustimmen lässt und ernsthaft bedacht sein will? Die Dichterin möchte schwerelos sein, also nicht von bedeutenden Argumenten belastet, die am entspannten Schwimmen hindern. So schwimmt sie sich „im Gefühl“ frei. Doch mancher Gedanke heftet sich noch an das verschollene Argument:

Warum Überleben unstrittig
Wertvoll sei, politisch, nicht
Im Sinne einer dicken
Theorie des Guten
Bare essentials: kein Grund
unter den Füßen

Niemand vermisst das Argument. Schwimmende diskutieren nicht mehr. Sie schwimmen, schwimmen drauflos, lassen Argumente forttreiben, mit ihnen momenthaft die ganze Philosophie – den „bare essentials“ trauend. Die Philosophie versinkt vielleicht oder treibt anderswo an, wo ihre Argumente aufgelesen werden. Gedankenlos zu schwimmen ist schön – und so malt sich nicht nur die Dichterin ihre außerphilosophischen Fantasien und Wirklichkeiten aus, sondern die Leserschaft folgt ihr versonnen in meerhafte Träume hinein, auch über die Liebe und Liebende:

Es ist ein kleiner Fuchs
Der es eilig hat
Zwischen all den Autos
In der Nacht und den Menschen
Die es lieben, sich als Liebende
Zu denken, sommerhaft
Lautloses Geplänkel

Beschreibe einen Kuss
Ohne Hände

Erneut versinken Worte und Argumente, immerhin in einem „Kuss“. Nicht nur der Fuchs ist gut beobachtet, auch die Liebenden, die denken mögen oder müssen und denen es nicht genügt, einfach Liebende zu sein. Oder doch? Sie lieben nicht nur einander, sondern auch den Gedanken dazu. Größer aber ist die Liebe, sonst würden sie einander nicht küssen.

Mara-Daria Cojocarus Gedichte nehmen wechselnde Formen an, manche tragen Überschriften, verheißungsvoll oder präzise, andere verbinden prosaische Gedanken zu einer lyrischen Form – und umgekehrt. Im Lied von der leichten Diesigkeit fährt ein Kutter hinaus, nahe der „Küstenlandschaft“, dem „Zwischenland“. Beobachtet werden die Farben der See, staunend und begeistert. Wer hinausschaut, könnte fehl am Platz sein – wie ein analytisch gestimmter Zeitgenosse inmitten der Natur. Doch freundliche Begleiter gesellen sich dazu, also stören die Menschen nicht, „denn die Hunde verbürgen sich ja auch für sie“, auch für jene, die bewundernd dastehen und, wie immer, zu viele Worte machen über die Schönheit der See:

Und dieser Wind nimmt all diese Geräusche
Verschluckt sie, dann sich, dann
Mich, diese störende biographische Notiz

Da nimmt die Dichterin sich selbst nicht davon aus. Fortgetragen wird im Spiel der Elemente jeder Laut. Die Philosophin bleibt metaphysisch unbegabt, wenn auch Arthur Schopenhauers leidvoller Pessimismus ihr gewiss nicht unbekannt ist, aber doch fremd erscheint. Trostreich mutet es an, dass die Konversationskünste, auch das intellektuelle Dialogtheater, am Strand wie aufgehoben und verweht erscheinen. Dass ihr aber wehmütige Erinnerungen, auch die düsteren Stunden nicht fremd sind, zeigt sie mit kargen Worten:

Den verfallenen Liebesbrief noch
In den Händen
Sind wir schockiert vom eigenen
Verschütteten
Unglück

Neue Erfahrungen warten und folgen. Manchmal geschieht rückblickend nicht mehr als, was Cojocaru mit „Mosaik“ beschreibt:

Ich ersetze diese einen Stein
Im Herzen
Traurigkeit
Durch einen anderen
Der passt genauso rein

Nüchterne, doch herzliche Prosastücke folgen, etwa über die Kuhluft auf dem Land. Sie stellt fest: „Die Rehe wollen nichts mehr von mir wissen; wenn wir ehrlich sind, das wollten sie noch nie. That’s okay.“ Auch die Natur bleibt mitunter strapaziös, aber anstrengender noch sind die „Hominiden“, etwa Menschen im Café. Gestalten räsonieren über diese Welt, die Zeitgenossen – „brandgefährlich“ seien sie –, reden über die Natur und alle Katastrophen, rühren im Tee, aufrichtig besorgt. Die Dichterin bekommt, so denkt sie sich, aber auch „gewaschen und geschrubbt“ einfach „diesen Geruch nach Affe“ nicht los. Sie hört zu, hört weg: „Ich hatte den starken Drang, einfach mal wieder einem Pferd / einen Apfel ins Maul zu stecken.“

Am Ende dieses Bandes schenkt uns die Lyrikerin, die durch die „stillgelegte Grube des Denkens und Schreibens“ schlendert, ein paar Ansichten, Aussichten und Kommentare über die eigenen Gedichte:

Hiermit bestimme ich, Mara-Daria Cojocaru, dass … Wäre nicht das, wenn ich bestimmen könnte, wie meine Gedichte zu lesen, zu drehen, zu verstehen, zu entwickeln, auszupacken und zu begehen wären? Das wäre sehr langweilig, höre ich mein zukünftiges, mutigeres Selbst flüstern. Wäre es.

Wir lesen Gedichte, die sich in und mit uns neu öffnen, mit denen unsere Fantasie zu spielen beginnt. Lesend dichten wir fort, was Mara-Daria Cojocaru uns nahebringt und erkunden mit ihr den Reichtum der Natur, damit zugleich auch das weite Land der Seele.

Titelbild

Mara-Daria Cojocaru: Buch der Bestimmungen.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
112 Seiten, 20 EUR.
ISBN-13: 9783895616488

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