Vater und Tochter

In „Vater und ich“ thematisiert Dilek Güngör das Sprechen und das Tun

Von Monika WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman von Dilek Güngör zeigt einmal mehr, wie maßgeblich das Migrationszeitalter die deutschsprachige Literatur geprägt und verändert hat. Im Text Vater und ich bildet die Migrationserfahrung einer Familie den Hintergrund der erzählten Geschichte. In den Vordergrund rücken Themen wie die Veränderung der familiären Beziehungen durch das Erwachsenwerden der Kinder, die Belastung durch die Bildungsunterschiede zwischen Kindern und Eltern und die kulturelle Entfremdung in migrantischen Familien. Der Roman, besser die Novelle, beginnt mit der Frage „Wann haben wir aufgehört, miteinander zu sprechen?“. Im Weiteren sucht die Ich-Erzählerin Ipek in einem fingierten Gespräch mit dem Vater nach den Ursachen für diesen, sie stark belastenden, Umstand. 

Der Inhalt des schmalen und sehr gut zu lesenden Bands ist schnell erzählt. Ipek, die seit elf Jahren als erfolgreiche und preisgekrönte Journalistin in Berlin wohnt und arbeitet, leistet einige Wochentage lang ihrem Vater Gesellschaft. Die Mutter ist mit Freundinnen zu einem Wellnessurlaub aufgebrochen. Während dieser Zeit kochen die beiden zusammen, essen, trinken Tee im Garten, räumen auf, empfangen Gäste. Ipek schneidet dem Vater die Haare, aber sie sprechen wenig miteinander, bzw. sie führen keine Gespräche. Ihre Kommunikation beschränkt sich auf den alltäglichen Informationsaustausch. Diese Konstellation ließe sich als Drehpunkt des Romans betrachten: 

Uns […], dir und mir, uns ist das Sprechen eine Last. […] Wir schleppen uns von einem Satz zum nächsten, ziehen uns die Worte mühsam aus dem Mund, auf eine kurze Frage folgt eine noch kürzere Antwort. Dann eine quälende Weile nichts. Wir wechseln Worte, gerade so viele, dass der Schein gewahrt bleibt, die Peinlichkeit verdeckt wird, dass wir, Vater und Tochter, nicht wissen, wie miteinander sprechen. Gehen einander aus dem Weg, doch nur so weit, dass wir uns immer noch im Weg stehen. 

Das Nicht-Sprechen ist zu einer Last für beide geworden, die körperliche Nähe wollen aber beide nicht missen. So versucht Ipek, den Aufenthalt beim Vater dazu zu nutzen, diese andere Möglichkeit des Miteinanderseins auszuprobieren. Der Plan geht auf, die Nähe wird durch das gemeinsame Handeln für beide angenehm, was eine neue Basis für ihre Beziehung bilden kann. Der Roman endet mit einer Anhäufung von Verben, die unterschiedliche Handlungen betonen: „wir räumen auf“, „wir haben nichts durcheinandergebracht“, „Du sammelst Reklame […], faltest das Papier, drückst es flach“, „mitkommen“, „mit Traditionen nicht brechen“, „rausholen“, „helfen“, „Trauben für die Fahrt einpacken“. Man kann sich aufeinander beziehen, ohne es über die Sprache zu markieren, das Tun selbst reicht dazu aus.

Sprachlich haben sich Vater und Tochter über Jahre voneinander entfernt bzw. waren sich nie wirklich nahegekommen, was unterschiedliche Gründe hatte. Als sie noch ein Kind war, torkelten sie beide spielend durch die Wohnung, hatten Unmengen Spaß miteinander: „Du nahmst meine Hand und riebst sie an dein raues Kinn, das kitzelte. Du kitzeltest mich an den Füßen. Du prustetest mir sanft ins Ohr. Du kratztest mich am Kopf, riebst mir den Rücken ein […]“. Als Ipek in die Schule kam und mit der deutschen Sprache, später mit Bildung und Kultur konfrontiert wurde, fand sie mit dem Vater keine gemeinsame Sprache mehr. Die verbindenden kindlichen Spiele hörten auf. Diese Lücke wurde durch gemeinsame Gespräche nicht ausgefüllt. Die Erfahrung mit der deutschen Sprache hat sie zunächst der Muttersprache entfremdet. In der Schule beteuerte Ipek oftmals, kein Türkisch sprechen zu können. Als sie im Studium Türkisch lernte, war es nicht die Sprache des Vaters, es war kein Dialekt mehr, sondern Hochtürkisch, in dem sie sich mit dem Vater ebenfalls nicht mehr unterhalten konnte, seinen Dialekt hat sie bereits verdrängt und vergessen. Die Entfremdung vom Vater wurde noch zusätzlich durch die Vertrautheit mit der deutschen Kultur vertieft. 

Der Assimilationsprozess war für Ipek nicht einfach, sie litt stark unter den Hänseleien der Mitschüler und der Zurückgesetztheit. Aber auch das teilte sie den Eltern nicht mit: „Ihr wusstet nicht, dass sie in der Schule lachten, im Bus tuschelten, grinsten oder einfach wegguckten, wenn ich mitspielen wollte“. Die Erfahrungswelt der Kinder und Eltern verlor irgendwann den gemeinsamen Nenner. Die Distanz zwischen ihnen wurde immer größer und deutlicher: „Wir hielten Abstand zueinander, mit Händen und mit Worten. Ihr verstandet ja kein Deutsch und wusstet nichts“. Dieses „nichts“ scheint die größte Rolle für den Beziehungsverlust zu spielen. Die Eltern sahen sich nicht mehr imstande, die Tochter auf ihrem zunächst schulischen Weg, später dann aber auch auf ihrem Lebensweg zu begleiten. Irgendwann fallen Sätze wie „Auch ich habe nichts mitzuteilen“. Das Bedürfnis nach Nähe, nach der Kontinuität einer engen Vater-Tochter-Beziehung bleibt aber dennoch bestehen. Die beiden Protagonisten finden schließlich einen gemeinsamen Weg, einander nah zu sein, ohne über die trennenden Erfahrungen und Erlebnisse sprechen zu müssen: 

Machen hilft. Wie oft habe ich es gedacht und doch vergessen, es kommt mir vor wie frisch gedacht. Wir müssen über das Machen zum Machen kommen […].

Güngörs Roman ist heiter und zugleich durchdrungen von der Traurigkeit über den Verlust der Vertrautheit zwischen Vater und Tochter. Die Suche nach Nähe wirkt zeitweise beklemmend, aber am Ende finden sie einen Weg dahin im gemeinsamen Handeln. Der letzte Satz des Romans lautet: „Du hast mir Trauben eingepackt“.

Titelbild

Dilek Güngör: Vater und ich. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2021.
112 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957324924

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