Lebensmitte

Mit ihrem Debüt „Auszeit“ zeichnet Hannah Lühmann ein Porträt der bürgerlichen Mittdreißiger

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Dreißigern stehen naturgemäß viele richtungsweisende Entscheidungen an. Früh Familie oder eher Karriere, Jobwechsel oder Kontinuität, Kinder oder Singledasein, Miete oder Eigenheim, Stadt oder Land? Es ist eine Zeit, in der sich viele trotz der evtl. über die Zwanziger aufgebauten Sicherheiten mit neuen Unsicherheiten konfrontiert sehen. Unsicherheiten, deren Bewältigung meist eine bestimmte Richtung für die nächsten Jahrzehnte vorgibt. Beim Blick nach links oder rechts fallen dann die Gleichaltrigen auf, die das eine oder das andere bereits abgehakt haben, und beides scheint plötzlich gleichermaßen erstrebenswert.

So geht es auch Henriette, der Ich-Erzählerin in Hannah Lühmanns Debüt Auszeit. Noch dazu hat sie gerade eine Abtreibung gehabt und tritt mit ihrer Promotion auf der Stelle. Mehr als genug Anlass also, mit ihrer Freundin Paula für einige Tage auf eine Hütte am bayrischen Waldrand zu ziehen, um dem Trubel in Berlin und ihrem Leben dort ein wenig zu entfliehen. In der Holzhütte will sie langsam wieder zu sich und ihrer Dissertation kommen. Die beiden Freundinnen gehen spazieren, kochen und immer wieder blickt Henriette auf ihr bisheriges Leben und die Entscheidungen zurück, die sie an diesen Punkt hatten kommen lassen.

Bezeichnenderweise dreht sich die Dissertation der Protagonistin, die immer wieder diskutiert wird, um eine Kulturgeschichte des Werwolfs. Auch in dieser fantastischen Figur treffen schließlich gegensätzliche Leben in ein und derselben Person aufeinander. Hinzu tritt die animalische, instinktgetriebene Dimension des zum Tier mutierten Menschen. Ratio und Instinkt, Kultur und Natur könnte man noch hinterherrufen, doch im Zentrum steht hier mehr die Gleichzeitigkeit zweier Leben, die in der realen Welt oft nicht möglich ist. Und daraus abgeleitet: Die Trauer um das ungelebte Leben.

Der Roman Auszeit wird darüber hinaus aber auch selbst zu einer Auszeit. In ruhigen Hauptsätzen schreitet Lühmann durch die Geschichte und Henriette durch den Bayrischen Wald. Ihre Sprache ist schlicht, simpel, aber ehrlich. Ganz so wie die Hütte, in der sich die beiden Frauen, später auch mit Paulas Freund Tom, eingerichtet haben. Ruhe durch Reduktion.

Mit ihren Figuren aber gelingt es Lühmann, dem Leben und den Gedanken einer Generation in den 2010er und 2020er Jahren eine Form zu geben. Das Zweifeln in einem Wust aus Optionen, die ständige Konfrontation mit konkurrierenden Leben und Lebensentwürfen, das fortdauernde Vergleichen, der soziale Erfolgsdruck. Und dazu ist es ein Roman, der auch zeigt, was es bedeutet, eine Frau zu sein, in dieser Gegenwart, in der westlichen Hemisphäre, in der bürgerlichen Mittelschicht. In einer Welt aus unendlichen Möglichkeiten (u.a. beruflicher, partnerschaftlicher und modischer Natur), deren scheinbar permanente Verfügbarkeit in Abgründe des Zweifels am Bestehenden führen.

Dass diese Auszeit letzten Endes eine ganz andere Wendung nimmt, als zunächst erhofft und erwartet, überrascht wohl kaum. Und doch gibt die Auszeit in der Hütte Henriettes Leben eine neue Richtung. Das ist jedoch nicht als neoromantisches Plädoyer zur Rückkehr in die Natur misszuverstehen. Denn die hat damit nichts zu tun. Es ist nur konsequent, dass dieser neue Impuls für Henriette weniger einer Entscheidung der grübelnden Protagonistin als der mehr oder weniger zufälligen Fügung der Ereignisse entspringt. 

Am Ende wird also irgendwie alles gut? Man wird sehen. Was dieses Debüt angeht, so tut es das auf jeden Fall.

Titelbild

Hannah Lühmann: Auszeit.
hanserblau, Berlin 2021.
176 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783446261952

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