Zauberlehrlinge

Im Roman „Nil“ setzt sich Anna Baar mit den Tücken fiktionalen Erzählens auseinander

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich die Wirklichkeit, so wie wir sie kannten, rasant auflöst und dem Ich keine Möglichkeit gegeben wird, mit den Veränderungen mitzuhalten, dann ist es an der Zeit, sich auf die Funktion der Literatur zu besinnen und das Dichten neu auszurichten, das „Rumoren im Kopf“ in neue Bahnen zu lenken. Anna Baar versucht, diesen Veränderungen literarisch beizukommen, indem sie das Schreiben zum Thema ihres Romans Nil macht: Wenn die Gesetzmäßigkeiten des Erzählens ad absurdum geführt werden – unklar bleibt, wer die Figuren sind, wonach sie streben und was sie antreibt –, wird Schreiben zur Irritation. Baars Versuch ist intensiv, stellenweise verwirrend und dennoch sprachgewaltig. Die Autorin liefert in ihrem Roman Aussagen, die zum Mitdenken und Interpretieren anregen. „Manches muss geschrieben stehen“, heißt es an einer Stelle, „dass es überhaupt gilt“.

Worum geht es eigentlich? Eine ich-erzählende Person erfindet Fortsetzungsstorys für ein Frauenmagazin und wird vom Chefredakteur dazu aufgefordert, eine davon zu einem Ende zu bringen. Das steht auf der ersten Seite und auch sonst keinesfalls im Mittelpunkt des Romans. Erzählperspektiven, Figuren und Geschlechter wechseln, es gibt keinen Handlungsstrang, keinen roten Faden zum Festhalten und auch kein Ende für die Fortsetzungsstory. Der Text selbst hört auf – ohne Lösung, ohne Abschluss. Er hinterlässt Fragen, die auch beim wiederholten Lesen nicht alle beantwortet werden können.

Wer ist dieser Sobek? Der Held der Geschichte? Einer der Erzähler? Der Chefredakteur? Warum nennt die Erzählerin ihre Eltern „Papa“ und „Mama“, wenn es andererseits einen „Vater“ und eine „Mutter“ von Pippa, Ilse und Klaus, den Geschwistern von Sobek und Leon, dem verschwundenen Bruder, gibt? Ist Leon in Sobeks oder in den Armen der Erzählerin ertrunken? Was hat Sobek damals beim großen Steinbruch erlebt? Wessen Eltern starben im Flammenmeer und wer schreibt eigentlich bei wem mit? Kann ein Mensch in einem Fotoautomaten verschwinden? Die Antworten und die Figuren liegen wohl nah beieinander, es ist „[i]hre Geschichte, die in manchem, doch längst nicht in allem seiner [Sobeks] Geschichte gleicht“. Jeder einzelne Satz fordert zum Rekonstruieren, Verstehen oder Auseinandersetzen mit den Gedanken auf. Jede einzelne Lesart geht in eine eigene Richtung. 

Sind es mehrere Figuren? Ist es nur eine weibliche und eine männliche Figur? Oder etwa eine im Selbstgespräch: 

Der Chefredakteur weiß nichts von diesem verrannten Paar [aus der Fortsetzungsstory], das letztlich auf sein Geheiß von einer Klippe springt. Auch mir sind die beiden fremd und fremd bleibt mir auch der Erzähler, der mir, ob gewollt oder nicht, fortwährend unterstellt, es handle sich bei den Figuren um immer dieselbe: Mich. 

Der Wechsel von der Außenperspektive auf Sobek und den Chefredakteur zu den Rollen wie „Erzähler“, „Sprecherin“, „Spieler“, „Einsagerin“ und zum direkten Dialog, dem Ich und Du, ist ein befremdliches und doch faszinierendes Schreibverfahren. Was alles ist hier erfunden und was ein „Flickwerk erinnerter Anekdoten“?

Mit Nil hat Anna Baar, anders als beim gleichnamigen Fluss, die Tiefe und nicht die Länge betont. Entgegen der Behauptung, „(b)ald war alles erzählt und jedes Geheimnis gelüftet“, bleibt das Buch sogar bis über sein Ende hinaus rätselhaft und bietet eine bemerkenswerte Grundlage für eine poetische Auseinandersetzung mit Anlass, Wirkung und Ziel jeglichen literarischen Schreibens. Die über den Roman verteilten Thesen sind wohlformuliert, aber unstrukturiert. Und die Rolle der Dichter? Anna Baar beweist: „Selbst der größte von ihnen ist bloß ein Zauberlehrling, ruft sich alles herbei, ohne den Spruch zu kennen, es wieder loszuwerden.“

Titelbild

Anna Baar: Nil. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
150 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835339477

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