Von grausamen Vergangenheiten in ungeahnte Zukünfte

In ihrem Romandebüt „Tage des Vergessens“ begleitet Yvonne Zitzmann die Leser:innen auf einem Weg des Erinnerns, Träumens, Verdrängens und Vergessens durch eine Medikamentenstudie mit ungewissem Ausgang für alle Beteiligten.

Von Elena HafeneckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Hafenecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bevor Yvonne Zitzmann 2021 mit Tage des Vergessens ihr Romandebüt feierte, arbeitete sie zunächst für diverse Printmedien und verfasste als freie Autorin seit bereits einem Jahrzehnt Lyrik, Hörspiele und Prosa sowie Übersetzungen literarischer Werke vom Russischen ins Deutsche. Womöglich geprägt durch ihren Geburtsort in der ehemaligen DDR, ließ sie sich von Medikamentenstudien, die von der BRD an DDR-Bürger:innen durchgeführt wurden, zu ihrem Roman inspirieren, der aber – wie sie in einer Nachbemerkung schreibt – „in allen Details fiktional ist“.

Tage des Vergessens ist in 8 Kapitel aufgeteilt – oder besser die 8 Tage, die die Medikamentenstudie dauert. Getestet wird ein Medikament, das eine spezifische, vorher von den Teilnehmer:innen bestimmte Erinnerung aus ihrem Gedächtnis entfernen soll. Jeder dieser Studientage ist wiederum unterteilt, zumeist in Gespräche, manchmal in Geschehnisse, die der Protagonist und Studienleiter Dr. Marian Wechsler führt oder erlebt. Auf den ersten Seiten erfährt man zunächst, wie Marian Wechsler der Studie selbst gegenübersteht: Er, der für einen Professor Marx arbeitet, versteht zu Anfang nicht, wieso man etwas aus dem eigenen Leben vergessen wollen würde. Seine Meinung über die Studie wird über die Erzählung hinweg vor allem durch Gespräche mit seiner Frau Eva vermittelt, deren Rolle wie die einer moralischen Kontrollinstanz wirkt. Eva hinterfragt nicht nur die Moral ihres Mannes kritisch, sondern als außenstehende Beobachterin ebenso das Ziel und den Verlauf der Studie. Mit dem Beginn des ersten Kapitels – oder des ersten Tages – entfalten sich schließlich sowohl die Struktur des Romans als auch die von Marian Wechslers Arbeit im Institut.

Die meisten der einzelnen Kapitelabschnitte sind mit den Namen von Personen betitelt, die an der Studie teilnehmen oder an einer früheren Studie teilgenommen haben, sowie mit den Namen derer, die nicht zur Studie zugelassen werden. So erfährt man die Namen Ulla, Anton, Ania, Ole, Malek, Helmut und Gisela, Wilhelm, Joachim und Sabine bevor die jeweiligen Geschichten erzählt werden.

Nahezu repetitiv verfolgt man beim Lesen Marian Wechslers Termine mit den Studienteilnehmer:innen, die an 7 aufeinanderfolgenden Tagen zu je derselben Uhrzeit ins Institut kommen. Sie hören sich ihre zu vergessende Erinnerung an, die zuvor auf einem Tonband festgehalten wurde. Sie sprechen mit Marian Wechsler. Sie nehmen die Pille, die ihnen Vergessen verspricht. Sie verlassen das Institut. Die nächsten Teilnehmer:innen folgen.

Alle tragen sie Traumata oder schlechte Erinnerungen mit sich herum, die sie vergessen möchten. Von Verlust, Schuld und Krieg über Ehebruch bis hin zu Vergewaltigung wird eine große Bandbreite an Traumata und Erinnerungen behandelt. Zitzmann schafft es, unter anderem durch Gespräche zwischen den Romanfiguren, auch die Leser:innen Teil der philosophischen Auseinandersetzung werden zu lassen, was Erinnern und Vergessen für das einzelne Leid, für das einzelne Leben bedeuten und ob man über das Erinnern-wollen oder nicht-wollen anderer Menschen urteilen kann.

Nicht nur die siebentägige Dauer der Studie und so mancher Kapitelabschnitt wie beispielsweise „Auf dem Berg“, der das zyklische Wiederkehren der immergleichen Reihenfolge durchbricht, lassen einen mit der leichten Ahnung zurück, es werde eine religiöse Analogie geschaffen. Auch Aussagen von den Studienteilnehmer:innen und von Marian Wechsler evozieren einen Vergleich zu göttlicher Entscheidungs- und Kontrollgewalt und die indirekte Frage, ob Mensch und Medizin sich eigenständig zu solcher Macht über menschliches Leben erheben dürfen.

Am sechsten Tag schuf Gott den Menschen und vertraute ihm alles an, was lebte. Mir wurden sechs Geschichten anvertraut. Vielleicht wird am sechsten Tag alles gut, dachte ich.

Der medizinische Hintergrund von Zitzmanns Erzählung mag auch Quelle der distanziert-klinischen Ausdrucksweise sein, die es bisweilen müßig macht, die knapp 300 Seiten durch zu wälzen. Gut gelungen ist es der Autorin dennoch, durch verschiedene Sprachstile die doch recht kurzen Abschnitte in ihren Kapiteln erzählerisch voneinander zu trennen: So spricht eine der Figuren beinahe ausschließlich in Monologen, zwischen anderen finden nur Dialoge statt, und manchmal berichtet schlichtweg ein auktorialer Erzähler, was vermittelt werden soll. 

Wer sich durch den letzten Satz des Klappentextes „[d]och bereits nach wenigen Tagen läuft die Studie aus dem Ruder“ eine actionreiche oder thriller-ähnliche Entwicklung der Geschichte verspricht, geht am Ende eventuell leer aus. Wer sich jedoch auf die wortgewandte und subtile Darstellung von unerwarteten Wendungen im Studienverlauf und dessen Beteiligten einlässt, wird nicht enttäuscht. Allem voran regt Zitzmanns Roman zum Nachdenken über ethische Fragen in Wissenschaft und Gesellschaft und über den Wert des Erinnerns und Verdrängens an.

Titelbild

Yvonne Zitzmann: Tage des Vergessens.
Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2021.
288 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783990142141

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