Recensio, interpretatio, editio
Uwe Maximilian Korn legt eine „Geschichte der neugermanistischen Editionsphilologie bis 1970“ vor
Von Bernhard Judex
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVon der Textkritik zur Textologie nennt Uwe Maximilian Korn seine überblicksartige Studie über die Geschichte der deutschsprachigen Editionswissenschaft von etwa 1750 bis 1970. Skizziert werden dabei nicht nur zentrale, sondern auch weniger bekannte Ausgaben und Editionsprojekte dieses Zeitraums. Eine ausführlichere Darstellung ist freilich der Genese der Weimarer Goethe-Ausgabe nach dem Prinzip „letzter Hand“ im Sinne des „Vermächtnis“ des Autors, vorbereitet durch Wilhelm Scherer und begründet durch Erich Schmidt als ersten Leiter des 1885 gegründeten Goethe-Archivs, gewidmet. Auch der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, die mit ihrem „Treppenapparat“ eine wichtige Entwicklung der Editionswissenschaften und textlichen Darstellungsweise („ideelles Wachstum“) markiert, wenngleich zuvor bereits ähnliche Modelle existiert haben, sowie den Arbeiten Friedrich Beißners insgesamt wird ein breiterer Raum gegeben. Daneben schildert Korn aber beispielsweise auch die neben den beiden Editionen Frank Zinkernagels und Norbert von Hellingraths weniger bekannten Hölderlin-Ausgaben durch Wilhelm Böhm oder Marie Joachimi-Dege Anfang des 20. Jahrhunderts.
Der untersuchte Zeitraum der Studie, die nicht nur eine Vielzahl an Quellen und Sekundärliteratur anführt, sondern sowohl sehr genau gearbeitet als auch wohltuend verständlich formuliert ist, folgt der Begründung, dass zum einen die „ersten neugermanistischen Editionen […] die Vorgeschichte der zeitgenössisch und retrospektiv sehr bedeutenden Weimarer Ausgabe der Werke Goethes bilden.“ Neben den frühen Bemühungen der beiden Schweizer Literaturwissenschaftler Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger um die Werke von Martin Opitz – editorisch realisiert wurde damals allerdings lediglich ein Gedichtband – ist hier vor allem die Lessing-Ausgabe (ab 1838) des von den Methoden der Altphilologen herkommenden Karl Lachmann als „Anfangspunkt der neugermanistischen Editionsphilologie“ (S. 14) zu nennen. Auch Karl Goedekes Schiller-Ausgabe oder Bernhard Suphans Edition der Werke Herders rücken dabei ins Blickfeld.
Zum anderen beschränkt sich die Untersuchung auf den Zeitraum bis 1970, weil danach, etwa im Anschluss an die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe mit ihrer diplomatischen Wiedergabe der Faksimile-Handschriften, „neue technische Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung“ (S. 14) eine andere wissenschaftliche Darstellungsform der Editionsgeschichte verlangen würden als die gewählte. Dieser Argumentation Korns mag man – sieht man von dem, inklusive ausführlichem Anhang (Literaturverzeichnis, Register), mit über 300 Seiten ohnehin bereits beträchtlichen Umfang der vorliegenden Untersuchung einmal ab – nur bedingt folgen. Denn bis auf wenige Ausnahmen führt die wissenschaftsgeschichtliche Darstellung nur wenig praktische Beispiele der dargestellten Editionen selbst an, sondern konzentriert sich viel mehr auf die Hintergründe, die Entwicklungen und auch die zeitgenössische Rezeption der beschriebenen Ausgaben und verdeutlicht damit auch die gesellschaftlichen, politischen sowie marktökonomischen Rahmenbedingungen der Germanistik und speziell der Editionswissenschaft.
Gerade in jener Zeit zwischen 1890 bis 1970, die im Zentrum der als Dissertation approbierten Studie steht, bilden einerseits die Etablierung einzelner Autoren als „Nationaldichter“ und andererseits die die politischen Grenzen verdeutlichende, gelegentlich aber auch überwindende Entwicklung einer Ost- und West-Germanistik in Deutschland Aspekte, welche die jeweiligen Editionsprojekte maßgeblich beeinflusst haben. Auch der später in Prag lehrende Wiener Germanist August Sauer, der neben den Werken Franz Grillparzers und Ferdinand Raimunds Adalbert Stifter edierte und gemeinsam mit Jakob Minor Studien zur Goethe-Philologie herausgab, bemühte sich, in diesem Fall österreichische Dichter als zentral für die Heranbildung eines kulturellen Selbstbewusstseins mittels entsprechender Textausgaben zu positionieren.
Ein wesentlicher Stellenwert als Voraussetzung der modernen Editionswissenschaft, das heißt für die Entstehung wissenschaftlich fundierter Textausgaben, kam dabei freilich auch dem Ende des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Dilthey nachdrücklich eingeforderten Archiv-Wesen zu. Durch die verlässliche Sammlung und den systematischen Vergleich der Textzeugen wurde es erst nach und nach möglich, die Textentstehung einzelner Werke von der ersten Hand bis hin zu späteren Bearbeitungen durch Dritte nachzuvollziehen. Auch die Entscheidungen des Editors, dessen Rolle sich zwischen „recensio“ und „interpretatio“ bis hin zum „Testamentsvollstrecker des Autors“ (Georg Witkowski) ebenso verändert hat wie in weiterer Folge die Zielsetzungen, die Struktur und der Aufbau der jeweiligen Editionen insbesondere im Umfang der wissenschaftlichen Apparate bzw. der Kommentare, ließen sich so transparent machen. Dabei eignete sich allerdings gerade „der Dilthey’sche Erlebnisbegriff“, der das dichterische Werk im Sinne des Verstehenszusammenhangs als Ausdruck der lebensgeschichtlichen Situation interpretierte, „nicht für Untersuchungen der stetigen Veränderungen eines Werkes“ (S. 97), sodass die Entstehungsgeschichte der Texte um 1900 in den Hintergrund geriet.
Für die Germanistik nach 1945 erweisen sich wiederum die kulturpolitisch gesteuerten Aktivitäten beider deutscher Staaten als entscheidender Faktor. Das Weimarer Goethe-Schiller-Archiv bzw. die Klassik-Stiftung Weimar und die Berliner Akademie der Wissenschaften in der DDR sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das DLA Marbach in der Bundesrepublik initiierten und förderten maßgebliche editorische Großprojekte. In diesem Rahmen stellt sich auch die anfänglich als grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Editoren Dietrich Germann und Helmut Holtzhauer bzw. Karl-Heinz Hahn geplante Ausgabe der Werke Heinrich Heines, wie sie dann später in zwei unterschiedlichen Großprojekten von der Klassik-Stiftung Weimar und von Manfred Windfuhr in Düsseldorf realisiert wurde, als spannende Dokumentation einer politisch motivierten Kontroverse der jüngeren Germanistik heraus.
Mit der Darstellung der Voraussetzungen, der Prinzipien und der Geschichte der einzelnen Ausgaben, von denen aufgrund manchmal zu ehrgeizig gesetzter Ziele freilich nicht alle vollständig realisiert werden konnten, gelingt es Korn insgesamt, einen systematischen Überblick über Entwicklungen und Tendenzen der modernen germanistischen Editionswissenschaften und verschiedener Ausgaben in ihrer zeitlichen Perspektivierung zu bieten. Gelegentliche Zusammenfassungen einzelner Kapitel in einem Fazit sowie als Resümee am Ende der Abhandlung erleichtern dabei den Überblick. Allerdings folgen nicht alle der insgesamt sechs, nach zeitlichen Abschnitten gegliederten Kapitel einer einheitlichen Struktur. Bei manchen Ausgaben hätte man sich durchaus eine umfangreichere Darstellung, auch was ihre praktische Umsetzung betrifft, gewünscht, wenngleich dies nicht das ursprüngliche Ziel der Studie gewesen ist und vermutlich deren Rahmen gesprengt hätte. Auch das Fehlen einzelner umfangreicherer Werkausgaben wie beispielsweise die Ausgabe Friedrich Schlegels durch Ernst Behler oder die beiden E.T.A. Hoffmann-Ausgaben durch Klaus Kanzog und Walter Müller-Seidel mag man vielleicht monieren. Dies soll die verdienstvolle Arbeit Korns jedoch in keiner Weise schmälern und nicht zuletzt zu einer vergleichbaren Studie für die Zeit nach 1970, die viele innovative editorische Modelle hervorgebracht hat, anregen.
|
||