Künstler, Idol und streitbarer Geist

Zum Tod von Mikis Theodorakis

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Tag der Freiheit in Athen

Im September 1968 trat der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt bei den Internationalen Essener Songtagen auf die Bühne und spielte ein Lied „Für Mikis Theodorakis“: „Deine Lieder sind auf ihrem langen Marsch / Die kurze Rast“, heißt es dort. „Darum hassen sie die Lieder, unsere Feinde. / Ihre wurmstichigen Ohren / Trifft dein Name wie ein Schlag. / Und im Bellen ihrer Stimmen, / In den kurzsichtigen Augen / Ist die Angst vor jenem Tag / [… ] Roter Tag der Freiheit in Athen. / Jener Tag, / An dem wir auf den Straßen tanzen / Und uns wiedersehn.“

Jener Tag der Freiheit in Athen war damals noch fern, die Militärjunta saß noch fest im Sattel, Mikis Theodorakis lebte zu dieser Zeit in der Verbannung in Zatouna auf dem Peloponnes, kurz zuvor wurde er aus dem Gefängnis dorthin deportiert. Doch er war viel mehr als eine Persona non grata. Er galt den Generälen an der Macht als gefährlich, als unbeugsam. Die Führer der Militärdiktatur versuchten, ihn aus dem Gedächtnis der Griechen zu tilgen. Im sogenannten „Armeebefehl Nummer 13 vom Juni 1967“ wurde verfügt: „Wir haben beschlossen, und wir befehlen: Wir verbieten für das ganze Land die Wiedergabe oder das Spielen der Musik und Lieder des Komponisten Mikis Theodorakis“. Auch der Besitz der Schallplattenaufnahmen oder das bloße Singen war verboten.

Im Herbst 1969 wurde er erneut verhaftet und in das Internierungslager Oropos nördlich von Athen gebracht und gefoltert, erst nach massivem internationalen Druck durfte er, schwer an Tuberkulose erkrankt, im April 1970 ins Exil nach Paris ausreisen. Für seine Freilassung hatten sich neben Künstlern wie Dmitri Schostakowitsch, Leonard Bernstein, Arthur Miller und Laurence Olivier auch Mitglieder der französischen Regierung eingesetzt. Doch auch im Exil blieb Mikis Theodorakis ein Symbol des Widerstands. Der von Degenhardt prophezeite Tag der Freiheit kam schließlich im Juli 1974, die Obristen waren gestürzt, kurz danach reiste Theodorakis zurück in seine Heimat. Sein erstes öffentliches Konzert am 10. Oktober 1974 im Karaiskakis-Stadion in Piräus war ein Triumph, die Ränge waren bis auf den letzten Platz gefüllt, 40.000 Menschen sangen mit Theodorakis die verbotenen Lieder. Aber es sind nicht nur seine Lieder, das zeigen die Aufnahmen, es sind auch ihre, es sind Volkslieder im besten Sinne, darunter das Oratorium Axion Esti des Literaturnobelpreisträgers Odysseas Elytis, die Vertonung des Canto General von Pablo Neruda, die Mauthausen-Kantate nach Texten des Holocaust-Überlebenden Iakovos Kambanellis. Theodorakis selbst ist hoch konzentriert, lebt in seiner Musik, es ist kein Groll, keine Anklage bei ihm auszumachen. Das Konzert war ein Erweckungserlebnis für das demokratische Griechenland, ein Symbol für die Kraft des Widerstands gegen den Faschismus und gegen den Totalitarismus. Und gleichzeitig eine hochprofessionelle Aufführung zeitgenössischer griechischer Musik. Der WDR zeigte unter dem Titel „Die Zeit ist für die Lieder und gegen die Panzer“ Ausschnitte daraus im deutschen Fernsehen.

Eine Jugend im Widerstand

Politik und Kunst oder Widerstand und Musik waren bei Theodorakis nie zu trennen. 1925 auf der Insel Chios geboren, bekam er schon während seiner Kindheit Musikunterricht, mit 15 gründete er einen Chor, mit 17 führte er seine ersten eigenen Werke auf. Als im April 1941 die italienischen und deutschen Truppen Griechenland besetzten, ging er in den Widerstand, kurz zuvor hatte er seine ersten symphonischen Werke fertiggestellt. Er wurde verhaftet, gefoltert, schloss sich aber unmittelbar nach seiner Freilassung der kommunistisch geführten Griechischen Volksbefreiungsarmee (ELAS) an, die gegen die Besatzer einen Partisanenkrieg führte. Auch während dieser Zeit komponierte er unermüdlich weiter. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geriet Theodorakis während des griechischen Bürgerkriegs erneut ins Visier der Machthaber. Er wurde im Juli 1947 verhaftet und auf die Insel Ikaria verbannt, nach kurzer Freilassung erneut verhaftet und verbannt. Im Dezember 1948 wurde der als Staatsfeind Angesehene in das Internierungslager Makronisos deportiert und brutal gefoltert. Erschütternde Berichte dazu gab er in seinem Buch „Bis er wieder tanzt“ (siehe https://literaturkritik.de/id/4233) wieder. Nach seiner Entlassung 1949 musste er sich von den Folgen der Misshandlungen erholen, konnte aber Anfang der 1950er-Jahre seine Abschlussprüfungen am Athener Konservatorium abschließen.

Paris und die Rückkehr nach Griechenland

1953 ging er mit seiner Frau mithilfe eines Stipendiums nach Paris und studierte dort bei Olivier Messiaen. Dort entstanden zahlreiche symphonische Werke, Ballettmusiken und Sonaten. Seine Erste Symphonie, die er während des Bürgerkriegs begonnen hatte, widmete sich der Aussöhnung unter den Griechen. Gewidmet hatte er das Werk zwei Freunden, die sich im Bürgerkrieg als Gegner bekämpften und ihr Leben ließen. Schon hier zeigt sich, wie auch in späteren Werken, der Wille zur Versöhnung, den sich der Politiker Theodorakis auch immer zu eigen machte, etwa bei seinen in Griechenland äußerst kontrovers diskutierten Bemühungen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Griechen und Türken.

Doch Theodorakis, dessen Erfolg sich in der europäischen Kunstmusik gerade abzuzeichnen begann, ging zurück nach Griechenland – und widmete sich der traditionellen griechischen Musik, holte sie aus ihrer angestaubten Ecke und hauchte ihr neues Leben ein. Mit anspruchsvollen Texten bedeutender Literaten wie Jannis Ritsos verband sein Liederzyklus Epitaphios verschiedene Traditionen und führte nicht nur zu musikalischen, sondern auch zu politischen Kontroversen. Theodorakis unterstützte diese Diskussion mit zahlreichen theoretischen Texten und gründete nach der Ermordung des Politiker Grigoris Lambrakis (zu der Constantin Costa-Gavras 1969 den wegweisenden politischen Film „Z“ inszenierte, zu dem Theodorakis die Filmmusik schrieb) die sogenannte Lambrakis-Jugend, die sich in der Bildungsarbeit und in der Elektrifizierung entlegener Orte engagierte. Der Erfolg seiner Lieder war enorm, auch die aufkommende Liedermacher- und Folk-Szene – siehe das Beispiel Degenhardt – nahm von Theodorakis und der neuen griechischen Volksmusik Kenntnis. Aus dieser Zeit stammt auch die in Deutschland und weltweit wohl bekannteste Komposition, die Filmmusik zum Film Alexis Sorbas (1965).

Erneutes Exil und Rückkehr

Nach der Machtübernahme der Obristen, seiner Verhaftung und der bereits erwähnten Ausreise nach Paris nahm Theodorakis den Kampf gegen die Diktatur wieder auf und gründete den Nationalen Widerstandsrat. Musikalisch ging er auf diverse Welttourneen und sorgte so dafür, dass die in Griechenland verbotene Musik weltweit Bekanntheit erlangte. Nach seiner Rückkehr 1974 widmete sich Theodorakis in den 1980er-Jahren vor allem den orchestralen Werken, es entstanden die 2. bis 7. Symphonie und bis Ende der 1990er-Jahre einige Opern wie Medea (1981), Elektra (1995) und Antigone (1999). Politisch war er ebenfalls nach wie vor äußerst aktiv, so wurde er, der überzeugte Linke, zum Staatsminister ohne Geschäftsbereich in der konservativen Regierung unter Konstantinos Mitsotakis. Auch wenn er dieses Engagement in der Regierung später als einen Fehler bezeichnete, konnte er doch wesentlichen Anteil an der Kultur- und Erziehungspolitik dieser Jahre nehmen. Hier war er besonders – in Verbindung mit dem türkischen Musiker Zülfü Livaneli – um die Aussöhnung zwischen Griechen und Türken bemüht, auch wenn er in Griechenland für die Gründung der Griechisch-türkischen Freundschaftsgesellschaft bisweilen heftig angefeindet wurde.

Ende der 1990er-Jahre zog sich Theodorakis aus dem öffentlichen Leben weitgehend zurück und widmete sich beinahe ausschließlich seinem musikalischen Schaffen, auch wenn er sich immer wieder mit Streitschriften und Äußerungen zu Wort meldete, etwa zur Behandlung Abdullah Öcalans oder zum Irakkrieg 2003. „Ich musste einsehen, dass meine Ideale nicht durchzusetzen sind“, so meinte Theodorakis einmal, „ich vertraue nur noch dem alten griechischen Prinzip der Demokratie. Es gibt nur den Kampf um Demokratie und Freiheit, nichts weiter“.

Ein Antisemit?

In seinen späteren Äußerungen zeigte sich Theodorakis nicht immer treffsicher und bisweilen äußerst verstörend. So zeugten seine Äußerungen 2003 zur israelischen Politik gegenüber den Palästinensern von einem irritierenden Tonfall, den auch der Zentralrat der Juden Griechenlands aufs schärfste verurteilte. Theodorakis selbst bestritt, sich je antisemitisch geäußert zu haben. Im Februar 2011 wurde er aus einem TV-Interview heraus mit den Worten zitiert, er sei Antisemit. Was war hier los? Der unselige linke Antisemitismus mit seinem Geraune von den zionistischen, imperialistischen Kräften? Das Daherreden eines alten Mannes, der nicht mehr ganz bei Sinnen ist? Der linke Antisemitismus ist in Griechenland schon immer recht ausgeprägt, man schlägt sich zu gerne und unreflektiert einseitig auf die Seite der Palästinenser. Dass Theodorakis sich von diesem Grundton verleiten lässt, ist tragisch. Und vielleicht war er auf seine alten Tage zu wenig von sich und seinem Status in Griechenland eingenommen. „I am a Living Symbol of anti-racism, whatever form it takes, including, of course, anti-Semitism”, schrieb er in seinem Brief an den Zentralrat. Wie schrieb die TAZ einst so treffend: „Weil man berühmt ist, äußert man sich zu Themen, für die man weder kompetent noch sensibel ist. Und wenn es schief geht, beruft man sich auf die eigene Persönlichkeit, deren Integrität doch außer Frage stehe“. Theodorakis war aber dennoch in der Lage, sich zu erklären und auf die Vorwürfe einzugehen. Er sprach von einem Fehler, sich so geäußert zu haben. Und in der Hinsicht zeigte er sich selbstkritisch und fähig, Positionen zu revidieren. Wenn Du geschwiegen hättest, wärst Du Philosoph geblieben, da ist leider etwas Wahres dran. Theodorakis hat mit seinen Äußerungen seinen Ruf beschädigt, aber ein Antisemit war er, der Widerstandskämpfer, nicht, sicher aber ein Kind der nicht immer guten griechischen politischen Kultur in Bezug auf Israel.

Am 2. September 2021 ist Mikis Theodorakis in Athen im Alter von 96 Jahren gestorben, ein großer Künstler, ein griechischer Volksheld und ein unermüdlicher Kämpfer für die Freiheit und gegen die Unterdrückung. Jetzt können sie also wieder zusammen tanzen, Franz-Josef Degenhardt und Mikis Theodorakis.