Zeit der Spinnen

John Sauter fragt in „Zone“ in Schleifen nach den Überresten eines Lebens in einer still zurückgelassenen, aber Geschichten und Gedächtnis atmenden Heimat

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

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Unruhig, rastlos und in Fragmenten denkend treibt das lyrische Ich in Sauters erst zweitem Gedichtband auf seinem Weg durch braches Land – erinnert an den einst nomadisch umherziehenden Menschen vor aller Sesshaftigkeit. Die Stoßrichtigkeit der Bewegung, das Movens des eigenen Handelns ist dabei klar umrissen: Alles kreist um das Verlassen der (ostdeutschen?) Zone, eines weitgehend veränderten, umgegrabenen, nicht mehr zu erkennenden und im Wesentlichen nicht mehr hörbaren Gebiets („Ein kalter Planet kann es sein / Wir müssen uns festhalten“). Einzig die Geschichte, die Geschichten schreien das nomadische Ich noch an, bezeugen die fragil gewordenen Erinnerung an das Alte und Zurückgelassene, kultivieren einen imaginären Ort des Gedächtnisses, dessen symbolische Kraft noch spürbar ist.

Und so sind die Aufzeichnungen durchzogen von farbigen Gedankensplittern, die eine alte Welt skizzieren, eine Welt des eigenen Aufwachsens und der Jugend, eine Welt der produktiven Arbeit und regionalen Industrie, eine Tier-Welt, eine Welt menschlicher Zuneigung und Verbundenheit, aber auch der Gewalt, der vulgären Körperlichkeit und der kalten Arbeit und des Eigennutzes. Sauters Ich zeichnet keine binäre Trennung von vergangenem Idyll und gegenwärtigem Verfall, sondern überblendet beide Zeitebenen und zeigt dabei die Wucherungen der Krise im Fortschritt: sein Blick wandert und verschwimmt zwischen den symbolträchtigen Orten des Hier und des Damals (Deponie, Kraftwerk, Bunker, Kneipe, Bolzplatz, Bordell, Westbahnhof, …).

In dieser Tristesse befindet sich das lyrische Ich fortwährend im Dialog mit einem Du („Denn da sind nur wir / Und ein paar wenige andere / In der sonst leeren Welt“) – eine Form der Zwischenmenschlichkeit, die gewissermaßen zum rettenden Ufer wird, aber auch nicht konfliktfrei bleibt: Sauter schafft ein zuhörendes Du, ein beglaubigendes Gefäß der eigenen Geschichte („Natürlich suche ich nach dir / In diesen Nächten Wonach sonst“), markiert aber auch den rasenden Sog einer vergänglichen Körperlichkeit, die Lust am Anderen, den sexuellen Akt als Ausweg aus aller Resignation („Wir sind selbst zu Spinnen geworden“). Darüber hinaus sucht das Ich die Entgrenzung und Weite vor dem Hintergrund des sichtbaren Zerfalls: das Meer, die Gerüche, die Bäume und den Wind – eine bewusste Naturnähe (versinnbildlicht auch in der Rettung der Tiere), die den Ungeheuern von Industrie, menschlicher Gewalt und gesprengter Architektur eine besondere Vitalität entgegensetzt.

Auch wenn Sauters Lyrik manchmal etwas grell und motivisch wiederholend anmutet, entfaltet sie eine zum Nachdenken anregende Mehrdeutigkeit und eine zuweilen auch politische Kraft und Lesart: Das poetische Bewegen durch Gedächtnisorte einer vergangenen Heimat lässt sich dabei interpretieren als persönliches Drama der Zweisamkeit, als gesellschaftspolitischer Blick auf das Ende fossiler Industrien oder als apokalytisch-dystopische Form des „Ende vom Menschen“ im Rahmen einer „seltsamen, neuen Ordnung“. Dass darin gegenwärtige Diskussionen um die Folgen des Klimawandels, die Neugestaltung globaler Energieversorgung und sämtliche Fragen um die wirtschaftlichen Folgen dieser Entwicklungen aufscheinen, ist sicher kein Zufall – darf den Blick auf die Vielschichtigkeit und das poetisch Offene der sehr zu empfehlenden Gedichte aber keinesfalls verengen.

Titelbild

John Sauter: Zone. Gedichte.
edition AZUR, Dresden 2021.
120 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783942375498

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