Das Ganze und seine Selbstwidersprüche

Frank Witzel setzt seine minutiösen Ich-Erkundungen in „Erhoffte Hoffnungslosigkeit“ auf bemerkenswerte Weise fort – losgelöst von thematischen Zwängen und radikal den Verästelungen des eigenen Denkens folgend

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ereignischarakter von Frank Witzels zweitem (Denk-)Tagebuch resultiert gewissermaßen aus seiner Unmöglichkeit, lebensweltliche Ereignisse und praktische Erfahrungen überhaupt ausfindig und beschreibbar machen zu können. Während der erste, genauso lesenswerte Band (Uneigentliche Verzweiflung) noch thematisch lose verknüpft war mit dem Tod der Eltern, einer zwischenmenschlichen Beziehungskrise und der eigenen Schreibkrise sowie den alltäglichen Panikattacken des Schriftstellers, verschreibt sich die Fortsetzung einer Art leerem Zentrum, was die Annäherung in Form einer irgendwie immer zusammenfassenden Rezension in besonderer Weise verunmöglicht.

Ein solch philosophischer Glutkern eigener Beobachtungen ist in diesem Sinne die Essenz erlebter Alltäglichkeit und bringt einen Existenzialismus in die Literatur zurück, der nach den Grundbedingungen des Menschseins und des menschlichen Denkens in der Welt fragt. Witzel postuliert so (weitgehend implizit) einen Typus von Intellektualität, einen Modus des In-der-Welt-Seins, der sich radikal distanziert von einem, gerade auch spätmodernen Erfahrungsverständnis, dass das Physische, das Sichtbare, letztlich auch das von Anderen Legitimierbare (in Form des Austauschs über „soziale Medien“) zum Zentrum des eigenen Handelns werden lässt. Interessant ist der damit notwendigerweise verbundene Selbstwiderspruch: Das Zurückgeworfensein auf den Innenraum des Denkens, das Zustandekommen von Selbstreflexion und das Nachgehen der Ambivalenzen im Ich findet am Ende doch ein Außen, eine Öffentlichkeit in Form der Literatur.

Das Pure und die Ausschließlichkeit der Reflexion, das Wegbrechen jedweder Orientierungsmöglichkeiten raumzeitlicher und/oder gesellschaftspolitischer Art im Tagebuch, das Schleifenhafte und sich Wiederholende erzeugt dabei Widerstand: Wurde der erste Teil des Tagebuchs noch breit, aber enorm ambivalent (zwischen Bewunderung und Vorwürfen des „philosophischen Slapsticks“ und der Einordnung des Buches als „Kitschtagebuch eines Bildungsbürgers“) besprochen, sind Rezensionen des zweiten Bandes (bisher) noch rar gesät. Witzels (aus meiner Sicht) einnehmender Stil lässt klassische Interpretationsreflexe (Spricht hier der Autor? Welche Themen werden angesprochen?) ins Leere laufen, seine Grundidee ist eine der Auflösung des Erwartbaren, der Auflösung des Entweder-Oder, der Auflösung des einseitig Realen: Im Nachdenken über die eigene Existenz tritt so das Andere, das Verdrängte und bisher Unsichtbare zutage: der Traum, die Differenz, der Zweifel von Ich und Werk sowie die Fragilität der Erfahrung. Von zentraler Bedeutung sind nicht die Resultate der Reflexion, sondern ihr Prozesscharakter, die Wege, Sackgassen und Abgründe – die Scharfstellung und selbstkritische Neu-Konstruktion der Ganzheit menschlicher Existenz. Dies in der Lektüre nachzuverfolgen, für sich und sein Leben greifbar zu machen und dialogisch bei aller Widersprüchlichkeit und Vorläufigkeit zu verstehen, ist anstrengend und in Zeiten niedrigschwelliger Angebote, der schnelllebigen Feier des Konsums und der Unzumutbarkeit von Komplexität fast schon unerhört.

Titelbild

Frank Witzel: Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Metaphysisches Tagebuch II.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
314 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800228

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