„Schöner Kopf“, „nicht ganz erfreulich“

Dante, von Goethe wieder gelesen

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1.

Dante als Dichter der Divina Comedia ist in Deutschland vor allem eine Entdeckung der Romantiker, zumal der Brüder Schlegel und wiederum besonders August Wilhelms (vgl. Meier, 108-109). Mit dessen Dante-Aufsatz von 1791 beginnt erst eigentlich die deutsche Rezeption der Göttlichen Komödie. Sie verbindet die stark protestantisch geprägte deutsche Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit der katholischen des italienischen Mittelalters. Ihre Bedeutung liegt dabei vor allem in der Neuentdeckung christlicher Dichtkunst. Die Divina Comedia avanciert in der Rezeption der Romantiker zum Inbegriff sowohl mittelalterlicher wie religiöser Literatur. Friedrich Schlegel galt deshalb, „Religion und Poesie verbindend, der große Dante“ als „der heilige Stifter und Vater der modernen Poesie“ (Schlegel, 295).

Goethe hat Dante anders gelesen. Ob er die Divina Comedia ganz gekannt hat, ist nicht sicher. Sie war, zumindest am Anfang, für ihn eine unerfreuliche Lektüre, die er vielleicht darum abbrach. Sein ästhetisches Urteil über sie hat er in der Italienischen Reise, datiert auf den Mai 1787, formuliert. In einem von beiden Seiten polemisch zugespitzten Gespräch mit einem jungen Italiener „von Stande und Geist“ nennt er „die Hölle ganz abscheulich, das Fegefeuer zweideutig und das Paradies langweilig“ (SW 15, 461). Noch in den Tages- und Jahresheften für 1821 hat er, knapp, sein Urteil über „Dantes widerwärtige, oft abscheuliche Großheit“ (SW 14, 305) festgehalten.

Nur langsam vermochte Goethe ein mehr als oberflächliches Interesse für den Dichter und sein Werk aufzubringen. Eine eingehende Beschäftigung mit ihm ist erst für den August 1826 verbürgt, während der Arbeit an Faust II, in dem man denn auch glaubte, manche Spuren einer produktiven Rezeption entdeckt zu haben, vor allem im Schluss (vgl. etwa Schmidt). In dieser Zeit hat Goethe auch aus der Divina Comedia übersetzt – allerdings nicht eben viel: genau 28 Zeilen. Es sind zwei Passagen des 12. Gesangs des Inferno, und zwar die Verse 1-10 und 29-46.

So prägnant der Anfang des 12. Canto sein mag – zu den Schlüsselstellen der Divina Comedia, selbst des Inferno gehört er nicht. In ihm treten Dante und Vergil in den siebenten Höllenkreis ein, in dem die Tyrannen und Räuber ihre Strafe finden, als Sünder, die Gewalt gegen ihre Nächsten verübt haben. Sie alle büßen im Phlegeton, den Dante, entgegen der antiken Überlieferung, in einen Strom des vergossenen Blutes verwandelt. Den Weg von der Hochebene der Ketzer in das Blutstromtal der Gewaltherrscher führt, vorbei am Minotaurus, über einen Felsensturz, von dem Vergil sagt, dass er erst durch das Erdbeben bei der Höllenfahrt und Auferstehung Jesu entstanden sei: „Ed in quell punto questa vecchia roccia/ Qui ed altrove tal fece riverso“ (Dante, I, 140). Die Passagen, die Goethe übersetzt hat, gelten der Beschreibung dieses Bergsturzes – der „Felsenmassen dem Gebirg entrissen“, „Fels über Felsen zackig hingeschmissen“ (SW 13.1, 427) – und der Erklärung seiner Entstehung.

2.

Goethe hat seine kleine Dante-Übertragung nicht veröffentlicht; wie es scheint, war sie auch nicht zur Publikation bestimmt. Sie steht im Zusammenhang mit einigen Überlegungen zu Dante, die er im September 1826 an seinen Freund Carl Friedrich Zelter geschickt hat. Sie waren gedacht für den Berliner Staatsrat Karl Streckfuß, der ihm seine in drei Teilen zwischen 1824 und 1826 erschienene Übertragung der Göttlichen Komödie zugesandt hatte. Goethe las sie im August 1826 und berichtete Zelter darüber zweimal, zuerst am 12. August, dann am 3. September. Das zweite Mal fügte er seinem Brief einige Gedanken über Dante und das in diesen Tagen entstandene Gedicht an Streckfuß „Von Gott dem Vater stammt Natur“ bei.

In seinem kleinen Aufsatz hat Goethe die beiden Stellen erläutert, die er zur Übertragung ausgewählt und die Streckfuß in seinen dem Text nachgestellten Anmerkungen weitgehend unkommentiert gelassen hatte. Goethes Kommentar unterscheidet sich grundlegend von dem Streckfuß’schen. Dessen Erläuterung der Verse 3-20 gilt ausschließlich dem Minotaurus (vgl. Streckfuß, I, 306). Goethe hingegen erklärt gleich, dass dieses Monster nach seinem Verständnis in Vers 3 und 4 nicht – mit – gemeint sei:

Zuvörderst nun muß ich folgendes erklären: Obgleich in meiner Originalausgabe des Dante, Venedig 1739. die Stelle: e quel bis schivo, auch auf den Minotaur gedeutet wird, so bleibt sie mir doch bloß auf das Local bezüglich (SW 13.1, 427).

Dieser Deutung, der sich spätere Übersetzer, von Philaletes bis Hermann Gmelin, nicht angeschlossen haben, erlaubt es Goethe, sich ganz auf das „Local“ zu beschränken. So fährt er in seinem Kommentar fort:

der Ort war gebirgig, rauh-felsig (alpestro), aber das ist dem Dichter nicht genug gesagt; das Besondere daran (per quel ch’iv’er’anco) war so schrecklich daß es Augen und Sinn verwirrte. Daher, um sich und andern nur einigermaßen genug zu tun, erwähnt er, nicht sowohl gleichnisweise als zu einem sinnlichen Beispiel, eines Bergsturzes (ebd., 427). 

Goethe identifizierte den Bergsturz, einer alten Deutung folgend, mit dem Felsen, der „wahrscheinlich zu seiner [d.i. Dantes, D.L.] Zeit, den Weg von Trento nach Verona versperrt hatte“ (ebd., 427-428). Den Eingang des 12. Gesangs versteht er ganz mimetisch: als realistische Darstellung des Felsensturzes. Deshalb stellt er weitere, durch geographische und geologische Kenntnisse gesättigte Vermutungen über das Aussehen des „Locals“ an:

dort mochten große Felsenplatten und Trümmerkeile des Urgebirgs noch scharf und frisch übereinander liegen, nicht etwa verwittert, durch Vegetation verbunden und ausgeglichen, sondern so daß die einzelnen großen Stücke hebelartig aufruhend durch irgend einen Fußtritt leicht ins Schwanken zu bringen gewesen. Dieses geschieht denn auch hier als Dante herabsteigt. (ebd., 428)

Fast 100 Jahre vor Erich Auerbach, dessen Buch Dante als Dichter der irdischen Welt 1929 erschien, begriff Goethe schon den Dichter der Divina Comedia als Realisten. Doch bleibt er bei dieser Charakteristik nicht stehen, wie der Kommentar zum zweiten Teil seiner Übersetzung deutlich macht:

Nun aber will der Dichter jenes Naturphänomen unendlich überbieten, er braucht Christi Höllenfahrt, um nicht allein diesem Sturz, sondern auch noch manchem andern umher in dem Höllenreiche eine hinreichende Ursache zu finden. (ebd., 428)

Der Anfang des 12. Gesanges gilt den Kommentatoren der Divina Comedia als ein Beispiel für Dantes allegorisches Dichten. Hermann Gmelin hat die „anagogische Bedeutung“ betont, die der „Schutthalde“ des Felsensturzes zukommt: „ohne diese Bresche wäre den Wanderern der Weg versperrt“ (Dante, IV, 205). Vergil, der „das Bild des Felsensturzes“ „kosmisch ausweitet“, erinnere sich „des Erdbebens, das er zunächst im Sinne der antiken Kosmologie als chaotischen Liebesakt des Universums gedeutet hatte, bis er, der Wissende des Inferno, die Deutung durch den Tod Christi erkannt hatte“. Das ist, so Gmelin weiter, „ein Beispiel für die tiefsinnige danteske Überlagerung von antikem und christlichem Mythus“ (Dante, IV, 205-206).

Goethe setzte einen anderen, kritischeren Akzent. Dante begnügt sich, in seiner Deutung, nicht damit, das „Naturphänomen“ realistisch zu beschreiben. Er will es in seiner Eigentümlichkeit erklären und tut das mit „Christi Höllenfahrt“ (SW 13.1., 428). Für die geophysische Besonderheit des ,Locals‘ sucht er also keine naturwissenschaftliche, sondern eine religiöse oder genauer: heilsgeschichtliche Ursache. Bezeichnenderweise hält Goethe es offenbar nicht für nötig, diese religiöse ‚Erklärung‘ auch nur zu diskutieren.

3.

Es ist kein Zufall, dass Goethe die Darstellung des ,Locals‘ hervorhebt. Dantes Raumkonzeption hat offenbar nicht nur an dieser Stelle seine Aufmerksamkeit erregt. In seinem Aufsatz hat er auch die Anlage des Höllentrichters in der Göttlichen Komödie erörtert und als ein problematisches ästhetisches Konzept kritisiert:

Die ganze Anlage des Danteschen Höllenlokals hat etwas Mikromegisches und deshalb Sinneverwirrendes. Von oben herein bis in den tiefsten Abgrund soll man sich Kreis in Kreisen imaginieren; dieses gibt aber gleich den Begriff eines Amphitheaters, das, ungeheuer wie es sein mochte, uns immer als etwas künstlerisch Beschränktes vor die Einbildungskraft sich hinstellt, indem man ja von oben herein alles bis in die Arena und diese selbst überblickt. Man beschaue das Gemälde des Orgagna (*) und man wird eine umgekehrte Tafel des Cebes zu sehen glauben; die Erfindung ist mehr rhetorisch als poetisch, die Einbildungskraft ist aufgeregt, aber nicht befriedigt. (ebd., 426)

Gegen die problematische Konzeption des Höllentrichters lobt Goethe jedoch „den seltsamen Reichtum der einzelnen Lokalitäten“, durch die der Leser „überrascht, in Staunen gesetzt, verwirrt und zur Verehrung genötigt“ werde:

Hier, bei der strengsten und deutlichsten Ausführung der Scenerei, die uns Schritt für Schritt die Aussicht benimmt, gilt das was ebenmäßig von allen sinnlichen Bedingungen und Beziehungen, wie auch von den Personen selbst, deren Strafen und Martern zu rühmen ist. (ebd.)

Die „strengste und deutlichste Ausführung“ der Szene hält Goethe offenbar für poetischer, weil sie Dantes Detailrealismus zur Geltung kommen und alles „vollkommen gegenwärtig“ erscheinen lässt. Dantes visuell starken Realismus versteht er allerdings als Teil einer für die Zeit um 1300 typischen ästhetischen Bemühung, die nicht auf die Literatur beschränkt war:

Bei Anerkennung der großen Geistes- und Gemüts-Eigenschaften Dantes werden wir in Würdigung seiner Werke sehr gefördert, wenn wir im Auge behalten, daß gerade zu seiner Zeit, wo auch Giotto lebte, die bildende Kunst in ihrer natürlichen Kraft wieder hervortrat. Dieser sinnlich-bildlich-bedeutend wirkende Genius beherrschte auch ihn. Er faßte die Gegenstände so deutlich ins Auge seiner Einbildungskraft, daß er sie scharf umrissen wiedergeben konnte; deshalb wir denn das Abstruseste und Seltsamste gleichsam nach der Natur gezeichnet vor uns sehen. (ebd., 425)

Mit der Begriffstrias „sinnlich-bildlich-bedeutend“ charakterisiert Goethe das aus seiner Sicht für Dante charakteristische Vorgehen von der sinnlichen Wahrnehmung über die bildlich-anschauliche Darstellung bis zur übersinnlichen, religiösen Deutung. Deren Problematik sieht er offenbar gerade in der Entfernung vom Geschauten und Erkannten: im ,Abstrusen‘ und ,Seltsamen‘ mittelalterlich-christlichen Denkens.

4.

Goethe mag mehrere Gründe gehabt haben, die Anfangspassagen des 12. Höllen-Cantos zu übersetzen. Die Strecke von Trient nach Verona, durch das Tal der Etsch, kannte er aus eigener Anschauung; er hatte sie Anfang September 1786 auf der Reise nach Rom zurückgelegt, voll „Entzücken“, wie er in der Italienischen Reise schreibt (SW 15, 26). Die Beschreibung des Felsensturzes traf zudem auf sein altes Interesse an Geologie, dem er auch auf der italienischen Reise nachgegangen war. Schließlich war ihm das Sujet nicht unvertraut, das Vergil mit seiner Erklärung des Felsensturzes anspricht. Er hatte es selbst bearbeitet, wahrscheinlich 1765: in seinem Gedicht Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi. Es war seine erste Veröffentlichung gewesen, ohne sein Wissen 1766 in der Frankfurter Wochenschrift Die Sichtbaren erschienen.

Noch im Februar 1826 war Goethe an das Gedicht wieder erinnert worden, von Eckermann. Die Wiedersehensfreude des Alten war gedämpft gewesen: „Es fehlte mir damals an Stoff“, beschied er Eckermann nüchtern, „und ich war glücklich, wenn ich nur etwas hatte, was ich besingen konnte“ (SW 19, 159). Vier Jahre später, gegenüber Soret, wurde er noch deutlicher: „Das Gedicht ist voll orthodoxer Borniertheit und wird mir als herrlicher Paß in den Himmel dienen“ (zit. n. SW 1.1, 784). Nicht nur seine Bearbeitung, auch das Sujet selber nötigte ihm im Alter offenbar wenig Respekt ab.

Goethe entschloss sich vermutlich, gerade die Passagen aus dem Anfang des 12. Höllen-Cantos zu übersetzen, weil er glaubte, sie aus eigener Erfahrung gut beurteilen zu können, den ,Stoff‘ ebenso wie seine Verbindung mit dem Motiv der Höllenfahrt Jesu. Die Verse, die er auswählte und übersetzte, eigneten sich aus seiner Sicht offenbar besonders gut dazu, eine Eigenart des Dichters Dante, seinen „Dichtergeist“ (SW 13.1, 428) zu demonstrieren: das Nebeneinander realistischer Beschreibung und ‚unrealistischer‘ metaphysischer Erklärung eines Naturphänomens. Goethe trennt dabei genau zwischen dem realistischen Dichter und dem metaphysischen Denker Dante. Den einen kann er für sein poetisches Genie loben, der andere befremdet ihn durch die Verstiegenheit seiner Gedanken. Der eine regt seine Einbildungskraft an, der andere provoziert seinen Widerspruch.

5.

Etwas von seinen Vorbehalten gegen Dante hatte Goethe schon am 3. Dezember 1824 Eckermann wissen lassen, als sie zusammen „eine kolossale Büste“ betrachteten.

„Es ist Dante“, sagte Goethe. „Er ist gut gemacht, es ist ein schöner Kopf, aber er ist doch nicht ganz erfreulich. Er ist schon alt, gebeugt, verdrießlich, die Züge schlaff und herabgezogen, als wenn er eben aus der Hölle käme“ (SW 19, 115).

Ein „schöner Kopf“ und „doch nicht ganz erfreulich“: Das mag Dante als Autor der Göttlichen Komödie für Goethe auch im übertragenen Sinn gewesen sein.

In seiner Ambivalenz unterscheidet sich Goethes Dante-Bild deutlich von dem der Romantiker. Dante ist für ihn nicht der Begründer einer aktuellen Moderne, sondern längst historisch, dadurch allerdings in seinem Genie wie in seinen Grenzen deutlicher zu erkennen: als ein großer Dichter, dessen Denken aber dem Mittelalter verhaftet ist und nunmehr, in aufgeklärter Zeit, befremdet. Gerade in der Verbindung von ,Religion und Poesie‘ ist Dante Goethe problematisch. Den Dichter schätzt er für seinen Realismus und sein visuelles Genie, sein religiöses Denken bleibt ihm jedoch fremd, letztlich vor-aufklärerisch.

Öffentlich darzulegen, was es mit Dantes „Naturell, Zweck und Kunst“ (SW 13.1., 877) auf sich habe, hütete sich Goethe. Seine Überlegungen waren zunächst für seinen Freund Zelter bestimmt, der entscheiden sollte, ob er sie Streckfuß mitteilen könne, ohne „ihm weh tun“ (ebd.) zu müssen. Goethe war sich, wohl zurecht, nicht sicher, ob der Übersetzer – aber nicht nur – bereit war, zu erkennen, dass dem ,schönen Kopf‘ des gerade erst von den Deutschen entdeckten und nun hochverehrten Dichters auch manch ,Abtruses‘ und ,Seltsames‘ entsprungen war. Er selbst hatte, wie fast immer, wenn es um Dichtung ging, einen scharfen Blick.

Literaturhinweise

Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Übersetzt und erläutert von Karl Streckfuß. 1. Theil: Die Hölle. Halle 1824; 2. Theil: Das Fegefeuer. Halle 1825; 3. Theil: Halle 1826 (zit. als Streckfuß mit Band- und Seitenzahl).

Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Herman Gmelin. 6 Bände München 1988 (zit. als Dante mit Band- und Seitenzahl). 

Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. München 2006 (zit. als SW mit Band- und Seitenzahl).

Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München o.J.

Franziska Meier: Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie. Biographie eines Jahrtausendbuchs. München 2021.

Erich Schmidt: Danteskes im Faust. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 107, S. 241-252.

Scherenschnitt von Simone Frieling

Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne: Wiedergelesen