Schreiben ist Kollaboration von Autor*in und Lektor*in
Ines Barner beschreibt an vier Fallbeispielen ein Schreiben „Von anderer Hand“
Von Stephan Wolting
Auch ohne das Werk von Ines Barner gelesen zu haben, ist vom Schaffen Raymond Carvers bekannt, dass einige seiner Werke erst auf Intervention seines (Knopf-) Lektor Gordon Lish fertiggestellt wurden, vor allem das Werk von 1981 Beginners/ Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden. Es sei dahingestellt, ob dies der Wahrheit entspricht, oder ob Lish an dem Werk nur so viel gekürzt hatte, bis die Originalfassung fertig war. Für die von ihm mitkreierte Stilrichtung und Carvers Minimalismus schienen Kürzungen von eminenter Bedeutung. In dem Sinne, wie es der 2016 verstorbene ungarische Schriftsteller Peter Esterhazy (geboren 1950) mal auf den Punkt gebracht hat: „Ich schreibe am Morgen einen Satz und streiche ihn am Nachmittag wieder aus.“ Zugleich schien in Zusammenhang mit Carvers Werk wesentlich, dass eine Figur plötzlich in der öffentlichen Wahrnehmung stand, die eigentlich nur als „stummer Zeuge“ bzw. maximal als heimlicher Mitgestalter galt.
Ines Barner, die die berufliche Beziehung Carver/Lish als das bekannteste Beispiel des Machtverhältnisses von Autor*in und Lektor*in zugunsten der bzw. des letzteren nennt, kommt der Verdienst zu, mit ihrem Band die Position des/der Lektor*in zu stärken, gleichwohl ohne “den Autor zu stürzen“ oder den/die Lektor*in in der Folge zur „eigentlichen Autorin“ zu adeln. Es geht ihr letztendlich darum zu zeigen, „dass es sich beim Lektorieren um eine Tätigkeit handelt, die eine nicht zu unterschätzende Triebkraft für […] den Produktionsprozess entfalten kann“.
Dieser Zwischenbereich zwischen Autor*in und Lektor*in galt lange Zeit als durchaus von allen Beteiligten beabsichtigte „Dunkelzone“. Noch heute taucht der/die Lektor*in im Buch, außer evtl. in den Danksagungen der Autor*innen, nicht auf. Von daher war es auch nie leicht, zu diesem Bereich überhaupt Dokumente zu finden.
Goethe oder Schiller hatten noch keinen Lektor. Die Figur des Lektors taucht erst im 19. Jahrhundert, eigentlich erst seit 1900, in der Literatur auf und wird erst seit dieser Zeit in der Literaturgeschichte wahrgenommen, aber weiterhin eher als im wahrsten Sinne des Wortes „unscheinbare Figur“ oder als der/die „unsichtbare Zweite“. Im Gegensatz zum/zur Verleger*in galt es als unfein oder gar verpönt, die Figur der Lektor*in zu nennen. Im Werk selbst sind vermehrt Beispiele dafür zu finden, dass Briefwechsel zwischen Autor*in und Lektor*in nicht veröffentlicht wurden, zwischen Autor*in und Verleger*in schon. Es bestand lange Jahre eine stillschweigende Übereinkunft, über die Tätigkeit des Lektors oder der Lektorin zu schweigen, manchmal wurden sie gar als „Schattenexistenzen“ bezeichnet. Vielleicht ist nicht zuletzt deshalb der Anteil des/der Lektor*in am Prozess des Schreibens bislang nicht ausreichend gewürdigt worden.
Die an der ETH Zürich lehrende Germanistin Ines Barner, die 2020 u. a. den Fakultätspreis der Philosophisch-Historischen Fakultät der Uni Basel erhielt, geht nun einen anderen Weg, indem sie in ihrem Werk an vier Fallbeispielen aufzeigt, dass Schreiben keinesfalls ein einsamer Prozess sein muss. Stattdessen entsteht es aus einer Art Komplizenschaft, „kollaborativem Schreiben“, wie sie das nennt, zwischen Autor*in und Lektor*in bzw. „der unsichtbaren Zweiten“, so der Titel einer anderen Studie von Ute Schneider aus dem Jahre 2005 zu diesem Thema. Dabei kann diese Figur für den Entstehungsprozess eines Buches sehr wirkungsmächtig sein und den Text auf subtile Weise mitgestalten.
Mit Barner ist von der Voraussetzung auszugehen, dass zwischen Lesen und Schreiben kein prinzipieller Unterschied besteht, dass „Arbeit am Text“ zugleich Lesen und Schreiben im Wechsel bedeutet. Schreiben ist dabei als eine Praxis zu begreifen, „die maßgeblich auf dem Austausch mit anderen beruht, zur Revision und Modellierung der Gedanken und Formulierungen in der Interaktion.“
Um ihre These zu untermauern, schlägt sie einen Bogen von der Moderne bis zur Gegenwartsliteratur, um an den Beispielen von Christian Morgenstern und Robert Walser (Geschwister Tanner, 1907), Fritz a. Hünisch und Rainer Maria Rilke (Duineser Elegien, 1923), Elisabeth Borchers und Peter Handke (Langsame Heimkehr, 1975) sowie Christian Döring und Marcel Beyer (Flughunde, 1995) ihre These zu belegen. Interessanter Weise nennt sie in den jeweiligen Kapiteln im Titel zuerst den/die Lektor*in und dann den/die Autor*in, was schon die Bedeutung zeigt, die sie dem Anteil des Lektorierens bei der Entstehung dieser Werke beimisst.
Barner hat eine historisch fundierte und gut zu lesende Studie vorgelegt, die alle diejenigen ansprechen wird, die sich für einen bislang noch nicht weiter erhellten Zwischenbereich literarischen Schreibens interessieren. Bemerkenswerter Weise kommt sie selbst abschließend zu einer neuen Definition des Lektorierens, das weder allein ein kollektiver Produktionsprozess noch ein Verbeugung vor dem Autor-Genie ist, sondern neuen Raum eröffnet, der auf die Handschrift der Autor*in weder verzichten kann noch diese als singulär, absolut und unnachahmlich setzt.
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