Ist das Ziel von Dante das Ende seiner Reise?

Karlheinz Stierle legt zum 700. Todesjahr von Dante Alighieri neue Untersuchungen zur „Commedia“ vor

Von Salvatore MartinelliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Salvatore Martinelli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das geheimnisvolle Leben von Dante Alighieri, dessen jahrhundertealte Werke nach wie vor legendär sind, ist aufgrund seines komplexen und exzentrischen Charakters immer im Dunkeln geblieben. Wie muss Dante gedeutet werden? Diese Frage wird in den Dante-Studien von Karlheinz Stierle, die in den Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erschienen ist, aufgeworfen und anhand einer detaillierten Auseinandersetzung mit seinem Hauptwerk, der Commedia, beantwortet. Das Werk Dantes wird in der Einleitung als „modellloser Solitär“ bezeichnet. Daraus ergeben sich drei verschiedene Untersuchungsrichtungen: In den ersten Abschnitten des Buches werden Dantes frühere Werke analysiert und die Voraussetzungen für die Interpretation seiner Dichtung untersucht. Die zweite Hälfte der Monographie konzentriert sich auf spezifische Elemente der Commedia wie Dantes Reise zur Verlassenheit und seine Verbindung mit Virgil. Im dritten Abschnitt wird schließlich eine umfassende Analyse der (Wirkungs-)Geschichte von Dantes Werk vorgenommen und dessen Beziehung zu den altfranzösischen Artuslegenden nachgewiesen.

Im ersten Untersuchungsabschnitt fragt der Autor nach den Voraussetzungen für die Anwendung einer hermeneutischen Methode. Daraus ergibt sich eine große Erweiterung des Werks: Dantes Commedia ist von Grund auf um die Schaffung eines triadischen Moduls aufgebaut, aus dem er den Fahrplan für dessen Vollendung ableitet. Die Ko-Präsenz der Konstruktion seines Werks gibt eine Antwort auf die Frage, ob die Bemühungen erfolgreich waren. So taucht etwa die Geschichte des Odysseus deutlich am Anfang aller drei Teile der Commedia auf, und sie erscheint auch in intertextuellen Anspielungen in den einzelnen Gesängen. Der Leser sieht den doppelten Blick auf Exil und Arbeit durch die Augen von Dante personaggio und, über ihn, durch die Augen von Dante persona.

Im Anschluss daran fokussiert sich Stierles zweite Untersuchung auf bestimmte Aspekte des Werks, um die in der ersten Studie etablierte einzigartige narrative Idee weiterzuentwickeln – nämlich die Erzählung einer Reise zum Werk, die zugleich auch das Werk selbst ist. Dantes äußerst komplizierte Beziehung zu Vergil, der ihm als Vorbild, Lehrer, Freund und Schicksalsgefährte dient, ist Gegenstand einer weiterführenden Untersuchung von Vergils Präsenz in Dantes Geist, während er und Beatrice im Laufe des Romans von einer himmlischen Sphäre zur anderen transportiert werden. Wird Vergil aus der Unterwelt gerettet werden? Dante lässt diese Frage, die für ihn mit dem Thema der Gerechtigkeit Gottes und seiner cortesia verbunden ist, offen. Er betont jedoch, dass seine Sehnsucht, ebenso wie Dantes realer Wunsch, nach Florenz zurückzukehren, nicht ohne Hoffnung ist.

Studien zur Commedia, die über die Immanenz der Kunstform hinausgehen, sind im dritten Teil enthalten. Als Architekten einer komplexen Subjektivität, die ihre jeweiligen literarischen Werke durchdringt, gelten Dante und Petrarca als Innovatoren. Der Autor hat eine gesamteuropäische Geschichte identifiziert, die das kulturelle Gedächtnis Europas repräsentiert und ihren Ursprung im griechischen Helden Odysseus hat, und dieser gesamteuropäische Mythos bildet wiederum den Rahmen für die Odyssee. Dantes altro viaggio, die „Extrareise“, wurde von Chrétien de Troyes inspiriert und steht für die Vorstellungskraft, die Chrétien für das zu lesende Buch nutzte. In der Geschichte des figurativen und semantischen Wortgebrauchs sind Dante und Vergil durch den Prozess der ritterlichen Courtoisie miteinander verbunden.

Dantes Schriften werden seit unzähligen Jahren erforscht, was nun in den Studien Stierles einen bemerkenswerten Höhepunkt findet. Laut Rudolf Borchardt ist Dante der tragisch gescheiterte Dichter des Reiches, was sich in seiner einsamen Existenz zwischen Zeitgebundenheit und irdischer Ewigkeit widerspiegelt. Letztendlich überrascht es so nicht, dass sowohl der Dichter als auch sein Werk dadurch quasi zeitlos geworden sind und bis heute nichts an ihrem Reiz eingebüßt haben. Die Dante-Studien richten sich dabei trotz ihrer Fachspezifik nicht nur an eine akademische Leserschaft, sondern bieten insbesondere auch denjenigen, die sich neben Dante selbst etwa für die Verbindung zwischen Komödie und Tragödie interessieren, die Möglichkeit, mehr über den besonderen kulturellen Kontext dieser beiden Konzepte zu erfahren.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Karlheinz Stierle: Dante-Studien.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2021.
295 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783825347864

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch