Adele Schopenhauer über „Darstellungen des Dante in vier Jahrhunderten“
Ein vergessener Essay aus dem Jahr 1846 im „Kunstblatt“ und die Dante-Verehrung in Deutschland
Von Francesca Fabbri
1845 reiste Adele Schopenhauer (1797-1849) mit ihrer Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen (1797-1857) nach Rom, wo sie zwei maßgebende Illustrations-Zyklen zu Dantes Divina Commedia studieren konnte: die berühmte, für Federico da Montefeltro (1422–1482) angefertigte Handschrift in der Biblioteca Vaticana und ein Album mit Zeichnungen und Radierungen des Malers Joseph Anton Koch (1768–1839). Über diese Kunstwerke verfasste Adele Schopenhauer eine Kritik, die im Januar 1846 in der bedeutenden Zeitschrift Kunstblatt erschien.
Adele Schopenhauer, Schwester des in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert noch unbekannten Philosophen Arthur Schopenhauer und Tochter der damals gefeierten Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, war eine eigenständige Autorin und Künstlerin. Ihre literarische Arbeit hat in den letzten Jahren erneutes Interesse geweckt: Einige Texte sind wieder veröffentlicht worden, andere, die handschriftlich blieben, können heute in schönen Editionen gelesen werden.[1] Ihr künstlerisches Werk ist dagegen weniger bekannt: Man kennt sicher die leichten Silhouetten, die schon teils publiziert sind, aber nicht die Zeichnungen, die Aquarelle, die Titelblätter, die gemalten Bucheinbände, die Arabesken.[2] Auch die publizierten Kunstessays von Adele Schopenhauer sind heute kaum bekannt. Ein Beispiel dafür ist der hier analysierte Text, der 1846 unter dem Titel Darstellungen des Dante in vier Jahrhunderten in der Zeitschrift Kunstblatt, der ersten deutschen Zeitschrift für Kunstkritik, erschienen ist.[3] Es handelt sich dabei um einen äußerst originellen Essay, in dem die Autorin zwei chronologisch und ästhetisch weit voneinander entfernte Werke analysiert und miteinander vergleicht: das sogenannte „Urbinate 365“, eine prachtvoll illuminierte Ausgabe von Dantes Divina Commedia, und ein Album mit Zeichnungen und Radierungen des Tiroler Malers Joseph Anton Koch.
Zur Wahl des Themas: Dante in Weimar, Dante in Bonn und die Rolle des Kunstblatts
Dantes Komödie übte eine außerordentliche Faszination auf das nachaufklärerische Deutschland aus. Das intellektuelle Laboratorium zwischen der Universität Jena und dem Herzogtum Weimar (wo seit 1806 Johanna und Adele Schopenhauer wohnten) wurde ein Zentrum der Beschäftigung mit Alighieris Text. In der Residenzstadt wirkte Carl Ludwig Fernow, der Johanna Schopenhauer freundschaftlich sehr verbunden war: Er hatte in Italien eine große Zahl von Ausgaben der Commedia erworben, korrigierte Ausgaben seiner Zeitgenossen, veröffentlichte selbst 1807 bei Frommann in Jena eine italienische Ausgabe von Dantes Text und plante bis zu seinem Tod eine Biographie des Dichters zu publizieren.[4] In der Universität Stadt wirkte August Wilhelm Schlegel, der schon 1791 in seinem Aufsatz Ueber des Dante Alighieri Göttliche Komödie Dantes Text als „prophetisch“ für die Entwicklung einer neuen romantischen Poesie bezeichnet hatte. Schlegel befasste sich kontinuierlich mit Dantes Text, in mehreren Aufsätzen und Übersetzungsproben sowohl in Schillers Horen als auch in seiner eigenen Zeitschrift Athenaeum. Es ist jedoch schwer einzuschätzen, wie sehr diese erste Phase der Dantebegeisterung die noch sehr junge Adele Schopenhauer beeinflusst haben könnte. Wichtiger für sie war sicher einige Jahre später, ab 1817, der Einfluss Goethes, der für die junge Frau zu einer Art geistigem Vater wurde. Goethe öffnete „Adelchen“, die er für ihre kritische und künstlerische Begabung sehr schätzte, sein Haus, und sie war ein regelmäßiger Gast bei ihm in den Jahren, in denen er sich intensiver mit Dante zu beschäftigen begann.[5]
In ihrer Themenwahl dürfte Adele Schopenhauer aber insbesondere von den intellektuellen Kreisen beeinflusst worden sein, in denen sie in der zweiten Hälfte ihres Lebens verkehrte. 1829 hatten Johanna und Adele Schopenhauer Weimar aus finanziellen Gründen verlassen und zogen an den Rhein zu einer Frau, die für ihr weiteres Leben entscheidenden Einfluss gewinnen sollte: Sibylle Mertens-Schaaffhausen. Diese Tochter und Gattin reicher Bankiers, die eine leidenschaftliche Sammlerin und großzügige Mäzenin war, bot den zwei Frauen zunächst eine Wohnung in Unkel an und dann den Kontakt mit den intellektuellen Zirkeln von Bonn, die den Salon von Mertens-Schaaffhausen frequentierten. Die beiden Schopenhauers trafen hier erneut auf zwei Persönlichkeiten, die sie schon lange kannten: August Wilhelm Schlegel, der seit 1818 in Bonn als Professor für Literatur und Sanskrit unterrichtete und Seminare über Kunst und Kunsttheorie für ein vorwiegend weibliches Publikum hielt, und Sulpiz Boisserée, der Johanna Schopenhauer ermöglicht hatte, eine wichtige Studie über Jan van Eyck und die Anfänge der deutschen Malerei zu publizieren. Auch Boisserée hatte sich lange und intensiv mit der monumentalen literarischen Gestalt Dantes beschäftigt. 1840 entwarf der Sammler sogar, nach einer Italien-Reise auf den Spuren Dantes und als Zeichen seiner Verehrung, einen Kandelaber mit allegorischen Figuren der Commedia, der neben Dantes Grab in Ravenna aufgestellt werden sollte. Die Redaktion des Kunstblatts, in dem Adeles Essay erschien, war eng mit Boisserée verbunden, zunächst über den ersten Redakteur, Ludwig Schorn, der persönlich auch Adele Schopenhauer sehr gut kannte, und dann über dessen Nachfolger, Ernst Förster, der sich als Maler und Kunstkritiker im Umfeld von Peter Cornelius ausgebildet hatte und ein großer Kenner des Mittelalters und der Früh-Renaissance in Italien war.
Förster entwickelte die Theorie, dass die Wiedergeburt der europäischen Kunst aus der Begegnung des germanischen mit dem romanischen Geist hervorgegangen sei, genauer gesagt: durch die deutsche Künstlerkolonie, die sich seit Asmus Carstens in Rom aufgehalten hatte und deren Bezugspunkt vor allem der Maler Joseph Anton Koch war. Zu den Anliegen des Kunstblatts gehörte es also zum einen, das Interesse für mittelalterliche Themen zu erwecken, die in politischer Perspektive gesehen wurden, und zum anderen, die Arbeiten deutscher Künstler in Italien, besonders in Rom, zu verfolgen. Adele Schopenhauer und Sibyille Mertens-Schaaffhausen gehörten dieser römischen Kolonie an, und einer der wichtigsten Treffpunkte für Künstler, Intellektuelle, Musik- und Kunstliebhaber war der römische Salon, den die beiden Frauen für etwa eineinhalb Jahre in Rom veranstalteten, in dem beeindruckenden Palazzo Poli, der den architektonischen Hintergrund der Fontana di Trevi bildet.
Der Kodex „Urbinate 365“ zwischen Beschreibung und Interpretation
Bei einem längeren Aufenthalt in Italien ward mir in Rom häufig Gelegenheit, die Bibliothek des Vatikans zu besuchen. Unter den alten Pergamentmalereien, an welchen sie weit reicher ist als die eilige Schaar gewöhnlicher Reisender es ahnet, fiel mir ein prachtvolles Manuskript des Dante in die Hand, das mit einer langen Reihe herrlicher Miniaturen geziert ist […]. Das schön in Sammt gebundene Buch, in groß Folio gehörte Federico da Montefeltro […].
Das Manuskript, das Adele Schopenhauer im Winter 1845 in Rom in den Händen hielt, ist heute sehr berühmt: die Handschrift „Urbinate 365“, ein Kodex, der im 15. Jahrhundert für die außerordentliche Bibliothek von Federico da Montefeltro angefertigt wurde und der 1657, unter Papst Alexander VII., in die Vatikanbibliothek gelangte.
In der Vatikanbibliothek wurde das Manuskript den Besuchern unter den wertvollsten Exemplaren in einer Vitrine präsentiert, und damals wurden seine Miniaturen Giulio Clovio, dem berühmtesten Miniator der Renaissance, zugeschrieben. Heute, nach Jahrzehnte langer Forschung, wissen wir, dass der „Urbinate 365“ ein komplexes und vielschichtiges Manuskript ist. Es wurde im Auftrag Federicos vom Hofkalligraphen Matteo Contugi da Volterra vor 1478 geschrieben und dann in drei Phasen illuminiert. Die erste Bearbeitungsphase, bis 1480, wurde von Guglielmo Giraldi in Ferrara durchgeführt (die Hölle – außer den letzten Seiten – und die ersten Seiten des Fegefeuers), dann wurde das Manuskript nach Urbino gebracht, wo es von Franco de’ Russi, dem offiziellen Handschriftenillustrator Federicos, bis 1482 illuminiert wurde.
(Quellen: Biblioteca Apostolica Vaticana, folia magazine)
Im selben Jahr starb Federico, und es entstand eine Unterbrechung von mehr als einhundert Jahren, bevor die Verzierung der Handschrift vollendet wurde. Dies geschah in der dritten Phase, zwischen 1609 und 1617, unter Valerio Mariani, dem Hofmaler des letzten Herzogs von Urbino, Francesco Maria della Rovere.[6]
Adele Schopenhauer erkannte, als eine der ersten, die Bedeutung dieser Handschrift in der Geschichte der Illustration der Commedia und war nicht zufrieden mit der damalige Clovio-Zuschreibung. Sie beschrieb punktuell das Manuskript und seine aufwendigen Verzierungen, indem sie versuchte, die verschiedenen Bearbeitungsphasen voneinander zu trennen.
Um dem deutschen Publikum die verschiedenen Illustrationsphasen zu erklären, ging Schopenhauer von einer bemerkenswerten, wenn auch völlig verkehrten Vorannahme aus.
Indessen ist das Manuscript keines wegs auf Veranlassung des tapferen Condottieri […] entstanden […] vielmehr gehört der Anfang desselben einer weit früheren Kunstperiode an […].
Adele Schopenhauer hielt das Manuskript für in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und unter dem Einfluss von Giotto entstanden, was für sie genau wie für Ernst Förster, den Redakteur des Kunstblatts, den reinsten Ausdruck des klassischen Ideals in Verbindung mit glühender religiöser Überzeugung darstellte. Die Blätter zum Inferno, von denen wir heute wissen, dass sie im 15. Jahrhundert von Guglielmo Giraldi angefertigt wurden, beschreibt Schopenhauer folgendermaßen:
Die ersten […] Miniaturen, sind dem Gedicht eng nachstrebend, in kindlich-klösterlicher Frömmigkeit, fast bis zum Unschönen getreu, nur das Gegebene rückspiegelnd, gehalten. Virgil’s und Dante’s Gesichtszüge sind edel […]. Es herrschen eine rührende Innigkeit und Wehmuth darin vor […]. Die etwas trockene Manier und die langen Gestalten erinnern an die Giotto nachgebildeten Schulen, die Gewänder sind wie bei denselben breit in Faltenwurf; Stellungen und Bewegungen der Figuren einfach und niemals unedel. […] Die Behandlung der Landschaft ist nichts weniger als naturtreu, auch hierhin schließt sich das Bild der poetischen Schilderung aufs genaueste an […].
(Quelle: https://www.wikiwand.com/de/Guglielmo_Giraldi)
Adele Schopenhauer betrachtete diese Blätter innerhalb des Manuskripts als die getreueste Illustration des tiefsten Sinns des Textes. Die klassische Würde der Figuren sowie die ruhige und strenge Schönheit der Landschaft (die heute für uns klare Merkmale des humanistischen Künstlers Giraldi sind) zeugen nach Ansicht der Autorin für die Hand eines unbekannten Malers der Giotto-Schule, hier als Wiege des Humanismus und als erstes Beispiel für eine Renaissance auf der Grundlage der Antike präsentiert. Dante und Giotto werden hier also als Erneuerer der Kunst und der Ästhetik aufgefasst, und nur ein Künstler aus der Schule Giottos könne die tiefere Bedeutung der Commedia interpretieren. Der künstlerische Akt wird dann zu einem Gebet, zu einem mystischen Aufschwung, der dem Bild seine Form verleiht:
Dem Effect ist gar nichts geopfert, und die rein religiöse Auffassung des Gedichts spricht durchgehend sich aus. Konnte der Maler nicht mit gefaltenen Händen arbeiten, so möchte man sagen das inbrüstigste Bußgebet habe immerfort seinen schaffenden Geist umschwebt und seine ganze Leistung geheiligt.
Im Text für das Kunstblatt konzentrierte Adele Schopenhauer ihre Analyse auch auf die schwierige Scheidung der Hände der Illustratoren: Sie erkannte genau, wie zwei verschiedene Illustratoren (für sie Klosterbruder und Nachfolger Giottos) mit einem ähnlichen Stil direkt hintereinander arbeiteten, und dass der zweite Künstler bei den letzten Gesängen des Purgatorio seine Arbeit aufhörte. Zu diesem Zeitpunkt gelangte die Handschrift, nach der Theorie Schopenhauers, in die Hände Federicos da Montefeltro, der seine Wappenzeichen hinzufügte, und erst einhundert Jahre später, gegen Ende des 16. Jahrhunderts, seien die letzten Blätter des Purgatorio und die des Paradiso illuminiert und die Illustration von Dantes Text abgeschlossen worden.
Wie bereits gesagt, wurde diese letzte Arbeitsphase (die in Wirklichkeit zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Valerio Mariani durchgeführt wurde) während des gesamten 19. Jahrhunderts Giulio Clovio zugeschrieben. An der Richtigkeit dieser wichtigen Zuschreibung zweifelt allerdings Adele Schopenhauer, da sich die Vorstellung von der Größe des berühmten Illuminators schlecht mit dem vereinbaren lässt, was der Autorin als „kleine vignettenartige Bilder“und als „Email-Liebhaberei“ erscheint. Die Autorin lehnt ästhetisch diese letzte Phase komplett ab: der Künstler habe hier eine nur oberflächliche, bloß auf den malerischen Effekt gerichtete Sicht des Werks geboten, und sie notiert geradezu ironisch angesichts der damals bekanntesten Blätter des Codex (Paradiso Canto XXIX c. 280v):
Eine Firmamentskugel aus lauter Engelsköpfchen zusammengesetzt, welche anderthalb Zoll in Durchmesser hält, muß einen fast komischen Eindruck machen, und die seltsame Himmelskonfusion zahlloser wie umschwebender Heiligen und Engel, in Mückengröße, kann zwar zu staunender Bewunderung dieser zauberischen Pinselführung hinreißen, aber begeisternd zu erfreuen vermag sie nicht, und wird nie wie jene frommen, nur das Hauptmoment rückstrahlenden Bilder der Klosterbrüder, das Gemüth des Beschauers ergreifen und rühren.
Die leichte barocke Malerei des Paradieses erscheint Schopenhauer wie die banale Verzierung der Nippesgegenstände in den Rococo-Salons:
Wem fielen nicht die idyllisch-königlichen Schäferspiele der Porzellan- und Emailmaler ein […], wenn er die weiße Lotusrose des Paradieses betrachtet, auf deren Blumenblättern Maria, St. Petrus, alle Apostel, in deren Mitte Dante und Beatrice stehen? Wem drängen nicht sogleich die Dosen und Bombonnierenschätze unserer Kunstkabinette sich ins Gedächtnis?
Mit Adele Schopenhauers Essay beginnt also eine neue Epoche in der Interpretation dieser außergewöhnlichen Handschrift. Die drei verschiedenen Phasen der Handmalerei werden zum ersten Mal klar voneinander getrennt und nur die ersten beiden Illustratoren scheinen Schopenhauer aufgrund ihrer chronologischen und emotionalen Nähe zu Dantes Welt in der Lage zu sein, das Wort des florentinischen Dichters in Bilder umzusetzen, während die letzte Sektion ablehnt wird, obwohl diese einem so großen Namen zugeschrieben war:
die beiden Klosterbrüder, denen wir die früheren [Miniaturen] verdanken, sind im Schattendunkel ihrer heiligen Mauern ungenannt geblieben, aber die stille Frömmigkeit ihrer Schöpfungen, der unendlich ernste Geist, der dieselben durchweht und sie weit über des gepriesenen Clovio’s Arbeiten […] emporhebt, werden bei jedem gebildeten Beschauer volle Anerkennung finden.
Man kann sich also fragen, wie es für einen Künstler möglich sein soll, den Dantesken Text ohne religiöse und emotionale Zeitgenossenschaft zu seinem Verfasser angemessen zu illustrieren. Adele Schopenhauer liefert den Lesern des Kunstblatts die Antwort im zweiten Teil ihres Essays, den sie einem der wichtigsten Vertreter der neuen deutschen Kunst widmet, nämlich Joseph Anton Koch.
Koch als Dante Interpret
1846, als Schopenhauers Essay erschien, war der Tiroler Maler Joseph Anton Koch bereits seit sieben Jahren tot und galt als einer der wichtigsten deutschen Künstler der jüngeren Vergangenheit.[7] Der erste, der Koch dem Publikum vorgestellt und ihn mit den großen Namen des deutschen und europäischen Klassizismus in Verbindung gebracht hatte, war August Wilhelm Schlegel, der 1805 aus Rom einen offenen Brief an die Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung schickte: Dieser Brief richtet sich ausdrücklich an Goethe: „Schreiben an Goethe über einige Arbeiten in Rom lebender Künstler“. In diesem Schreiben feierte Schlegel die deutschen Künstler, die seit einiger Zeit in Rom das Erbe des Klassizismus auf neue Art und Weise interpretierten, vor allem feierte er Koch, den er persönlich kennengelernt hatte.
Koch hatte von seinem Lehrer Carstens die Idee für ein Projekt der Commedia-Illustration übernommen und, um dieses Projekt zu verwirklichen, das ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte, hatte er sich intensiv mit den bildkünstlerischen und literarischen Quellen der Dantezeit beschäftigt. Schlegel war von dieser philologischen Akribie beeindruckt, und in dem Abschnitt, der den Zeichnungen Kochs gewidmet war, stellte Schlegel diese weit über die Zeichnungen des Engländers Flaxman, den er selber, wenige Jahre vorher, noch enthusiastisch gelobt hatte:
Koch aus dem Tirol […] hat einen großen Enthusiasmus für den Dante […] und hat eine Menge Zeichnungen zu diesem Dichter entworfen, die nach Flaxmann völlig neu sind, meistens reichhaltiger in der Composition und gründlicher gedacht und ausgeführt. […] Ein besonderes Studium der älteren Meister, eines Fiesole, Masaccio, Pisano, Buffalmacco und Giotto verbindet er mit dem des Michelangelo, welches für Dante, denke ich, immer die rechte Verbindung seyn wird.
Flaxmans Radierungen, die 1793 in Rom erschienen waren und zwischen 1803 und 1805 von Ernst Ludwig Riepenhausen in Göttingen veröffentlicht wurden, hatten die Rezeption von Dantes Werk tiefgreifend verändert. Die auf die Umrisse reduzierten Zeichnungen, die kompositorische Klarheit, die Aufteilung im Raum und das Gleichgewicht der Figuren ließen den Text der Commedia klarer und linearer erscheinen und milderten die vermeintliche Wirrnis und Komplexität ab, so dass Flaxmans Werk als eine Brücke zwischen dem mittelalterlichen Gedicht und dem klassizistischen Geschmack um 1800 fungieren konnte. Koch hingegen entschied sich dafür, die expressive Kraft der Commedia durch eine von Michelangelo inspirierte Ästhetik und die mittelalterliche Größe der Fresken des Camposanto von Pisa auszudrücken, wie auch Schlegel erkannte. Auf diese Weise begründete Koch eine Interpretation von der Commedia und von Dante als Figur, die für die Frühromantik maßgeblich werden sollte. Adele Schopenhauers Text für das Kunstblatt präsentiert Joseph Anton Koch als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der neueren deutschen Kunstgeschichte: Die Autorin betont seine Nähe zur Gruppe der Nazarener, besonders im Zusammenhang mit dem berühmten Auftrag für das Casino des Prinzen Massimo, doch handelt es sich dabei um eine oberflächliche, vor allem thematisch begründete Nähe. Das Album mit Zeichnungen, das sie vor sich hat und das sie in ihrem Essay präsentieren will, ist von gänzlich anderer Art:
Seine früheren Kompositionen nach Dante wurden zum Theil mit einigen andern von Veit, Overbeck und Schnorr in der Villa Massimo ausgeführt. […] Die vor mir liegenden Zeichnungen […] scheinen mir, obschon meistens bloß Umrisse, unendlich höher zu stehen als jene ältern; denn was sie seyn wollen, sind sie in einem außergewöhnlichen Grade der Vollkommenheit. In diesen schönen Blättern stellt ein bedeutendes, von ganz Deutschland anerkanntes großes Talent sich uns dar. Die legendenartige fromme Auffassung jener Mönche tritt weit zurück, Koch begreift den Staatsmann, den Politiker im Dichter, und seine Leistung wird zum rein historischen Bilde: der tiefe philosophische Ernst, welcher die Künstler der früheren Epochen charakterisiert, fehlt ihm keineswegs, aber die Aeußerung desselben ist eine von jenen ganz verschiedene, eine an sich plastischere und dabei eine den wirklichsten Lebenswahrheiten entnommene.
(Quelle: https://www.wikiart.org/de/joseph-anton-koch/linferno-di-dante-1825)
Aufgrund der Ausdruckskraft dieser Zeichnungen erscheint Koch als der einzige Künstler, der in der Lage war, den Menschen Dante als politisch Handelnden plastisch darzustellen, über die Figur des Philosophen und Dichters hinaus. Kochs Zeichnungen präsentieren die titanische Tätigkeit Dantes und seine ganze Gestalt als eine gleichzeitig aktuelle und historische Präsenz, die Ermahnung und Führung für die Gegenwart verspricht. In dieser ausdrücklich politischen Lektüre liegt das Neue von Schopenhauers Interpretation, die sicher auch den Schriften Schlegels und den Gesprächen mit Boisserée viel verdankte.
Doch verfolgt die Autorin auch ein praktisches Ziel: Sie denkt an den Buchhandelserfolg, den die Radierungen zur Commedia in Deutschland in jener Zeit erlangten. Die von John Flaxman erschienen in Prachtausgaben 1824 in Leipzig und zwischen 1833 und 1835 in Karlsruhe, in London und in Paris. 1830 erschienen die Umrisse zu Dantes Paradies von Peter Cornelius in Leipzig. Von Kochs Zeichnungen entstand zwischen 1807 und 1808 in Rom eine Serie von vier großformatigen Radierungen, die auch in Deutschland Erfolg hatten (zwei dieser Radierungen befanden sich in Goethes Sammlung). Aber Koch konnte seinen Plan, die Commedia zu illustrieren, nie umsetzen. Adele Schopenhauer versucht also offensichtlich, mit Hilfe ihres Essays auch einen Verleger für den Zyklus von Zeichnungen zu finden, den sie vor sich hat:
Da ich den Wunsch nicht unterdrücken kann, meine Landesleute auf diese meisterhaften Zeichnungen aufmerksam zu machen, die eine allgemeine Verbreitung durch Kupferstich oder Lithographie vor allen verdienten, so erlaube ich mir eine kurze Uebersicht der Gegenstände zu geben welche sie behandeln.
Das Album, das Adele Schopenhauer vorlag, befindet sich heute in Wien, in dem Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste: Es ist eine Auswahl von Koch entworfener Zeichnungen, die von Kochs Schwiegersohn, dem Maler Johann Michael Wittmer, dann angefertigt wurden.[8] Der seit wenigen Jahren wiederentdeckten Tiroler Maler Johann Michael Wittmer war ein Schüler von Peter Cornelius in München und stand den Nazarenern in Rom nahe. Er war eng mit Sibylle Mertens-Schaaffhausen befreundet und gehörte zu den regelmäßigen Gästen in ihrem Salon in der Palazzo Poli, wo sicher das Album zirkulierte. Ab den 1840er Jahren hatte Wittmer begonnen, Teile des Nachlasses seines Schwiegervaters Museen und Privatsammler anzubieten. Um Kochs Werk zu verbreiten, ließ Wittmer auch einige Zeichnungen stechen und bereitete entsprechende Durchzeichnungen oder Kopien vor. Das Album war also eine Selektion der Zeichnung des verehrten Schwiegervaters nach inhaltlichen und ästhetischen Kriterien und verwirklichte damit Kochs Traum: Zum ersten Mal konnte ein Publikum von interessierten Mäzenen Kochs Blätter übersichtlich und in der Abfolge der Gesänge der Commedia studieren und schließlich, wie in einem Katalog, diese oder jene Probe bestellen. So ließ sich möglicherweise ein Sponsor finden, der die Radierung aller Blätter finanzieren würde, um die gesamte Commedia oder wenigstens einen Teil davon zu illustrieren.
Schopenhauers Aufsatz für das Kunstblatt bot dem befreundeten Maler Wittmer deshalb die unverhoffte Gelegenheit, Werbung für Kochs Lebensprojekt zu machen und dieses endlich zu verwirklichen. Die Autorin veröffentlichte deswegen in ihrem Text die Liste der Sujets der Zeichnung und vertiefte ihre Beschreibung nur für besondere Episoden, für die Koch eine hochgradig theatralische Darstellungsart gewählt hatte, wie hier beispielweise bei der Darstellung des Hungersturmes in Pisa, in dem Ugolino della Gherardesca und seine Familie 1289 den Tod fanden:
Nr. 37 Canto 33 Der Hungerthurm. Ugolino und seiner Söhne entsetzliches Ende. […] Wunderschöne Komposition! Der todte Sohn im Vordergrund an der Erde, in einer Art flachen Nische sitzt der Vater, neben ihm am Boden auf einer Treppenstufe sterbend der zweite Sohn von der Ermattung des Todes erfasst, der den Schmerz bereits überwunden hat. Vor dem Alten kniend der jüngste Knabe, die eine Hand ruht auf Ugolino’s Schulter; wie flehende jeder Zug des Gesichtes! Stehend aber aufgestützt, weil ihn der Fuß nicht mehr trägt, ebenfalls den Blick auf den Vater gerichtet der Letzte! In keinem der noch lebenden das Vorherrschen der tierischen Qual – in allen drei der noch nicht erloschene Funken der Liebe: nur die junge Leiche am Boden trägt jede Spur der erbarmungslos, zuerst die Seele hinwürgenden Todesart: alle Merkmale des Hungerkrampfes, dessen Gewalt den Knaben am heftigsten ergriffen, am raschesten getödtet. Versteint, verstummt und tränenlos starrt der Vater vor sich hin und beißt in seine an die Lippe gepresste eigene Hand – der ungeheure Ingrimm läßt ihn die Körperleiden nicht empfinden: ihn vernichtet die Pein seiner Kinder.
(Quelle: https://www.wikiart.org/de/joseph-anton-koch/ugolino-della-gherardesca)
Fazit
Adele Schopenhauers Essay spiegelt das intellektuelle Klima wider, das um die Divina Commedia herum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht. In ihrem Text entwickelt sich ein Dialog zwischen Kunstwerken aus verschiedenen Jahrhunderten, zwischen Humanismus, Klassizismus und Romantik, und dieser Dialog ist nur möglich, weil er hier um Dante geht: Alighieris „klassischer“ Autorschaft ist chronologisch in dem Frühhumanismus verankert, aber der Dichter wird auch als Vorbild für eine neue Generation des 19. Jahrhunderts wahrgenommen, die sich aktiv politisch engagieren will. In diesem Sinn fordert die Autorin das deutsche Publikum auf, zwei Meisterwerke der Dante-Illustration zur Kenntnis zu nehmen, wieder für sich neu zu entdecken und zu meditieren, um diese vor dem Wirbel der Zeiten zu bewahren:
Die Zeit geht so rasch mit uns Allen, dass ihre kleinen Tageswellen mit unglaublicher Schnelligkeit auch das anerkannt Beste überspülen und momentan verhüllen. Ob mir zugleich gelungen ist, für die so ganz verschiedenen Auffassungen desselben Gegenstandes im Zeitraum von vier Jahrhundert zu interessieren, muß ich dem Urtheil Anderer überlassen. Wenn Sie diese Gelegenheit erfassen, besser, kritischer und genauer zu sehen, was Sie vielleicht in der Überfülle Roms unbeachtet gelassen, ist mein Zweck vollkommen erreicht.
Anmerkungen
[1] Francesca Fabbri: „Kenst du noch einen Schattenriss“. Adele Schopenhauer zwischen Romantik und Vormärz. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstiftes 2018, S. 221-263. – Francesca Fabbri, Claudia Häfner: Adele Schopenhauer. Unbekanntes aus ihrem Nachlass in Weimar. Wiesbaden 2019.
[2] Francesca Fabbri: Adele Schopenhauer. In: Stephan Dahme, Hermann Mildenberger, Annette Seemann (Hg.): Die andere Seite. Das Phänomen der Mehrfachbegabung in den Künsten Frankfurt 2021, S. 165-167.
[3] In: Kunstblatt 27, 1846, Nr.5-6, S. 18-23.
[4] Margrit Gläser: Die „Quelle der italienischen Literatur“. In: Weimar. Italienische Sprachlehre und Sprachwissenschaft bei Christian Joseph Jagemann und Carl Ludwig Fernow. München 2008.
[5] Für Dante Rezeption in Weimar-Jena Raum: Edoardo Costadura, Karl Philipp Ellerbrock: Dante ein offenes Buch. Berlin 2015. Nach der Hochzeit von Ottilie von Pogwisch und August von Goethe (1817) besuchte Adele Schopenhauer, enge Freundin der Braut, das Goethe-Haus fast täglich.
[6] Ambrogio M. Piazzoni: La Divina Commedia di Federico da Montefeltro. Il Dante Urbinate, Urb. Lat 365. Modena 2020
[7] Elmer Bordfeld (Hg.): Joseph Anton Koch und seine große Familie. Roma 2021.
[8] Cornelia Reiter: Zu einem Album mit Zeichnungen von Johann Michael Wittmer nach Anton Joseph Kochs Illustrationen zu Dantes Divina Commedia. In: Brigitte Salmen (Hg.): Johann Michael Wittmer, 1802-1880. Murnau 2006, S. 249-255.