Lesen in der Corona-Krise – Teil 20

Der Neustart unseres Planeten: Unter dem Titel „Goethe-Vigoni Discorsi“ ist ein deutsch-italienisches Tagebuch der Corona-Krise mit konkreten Ansätzen für die wichtigsten Herausforderungen erschienen

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Europa geriet im Frühjahr 2020 durch die Corona-Pandemie in eine medizinische, eine wirtschaftliche und auch in eine gesellschaftliche Krise. Diese hat massive Auswirkungen auf das Zusammenleben. Nachrichten schwerer Erkrankungen, die plötzlichen wirtschaftlichen Nöte erfolgreicher Unternehmer und die soziale Isolation überforderten viele. Die Krise hat Wandlungsprozesse noch einmal beschleunigt und zugleich das Bewusstsein für die Härte seelischer Belastungen und vor allem für die zentralen Herausforderungen unserer Zeit verschärft. Nie stand die drohende Irreversibilität des Klimawandels mit einem so breiten Konsens im Fokus. Es keimt Hoffnung, dass ein gemeinsamer Weg aus der Krise – mit klaren Klimaschutzzielen – möglich ist. Mitten in der Krise ist ein Buch entstanden, das einem hoffnungsvollen Schulterschluss zwischen Deutschland und Italien gleicht. Unter dem Titel Goethe-Vigoni Discorsi sind darin 58 essayistische, kurze Beiträge zusammengefasst worden, welche einerseits ein Tagebuch der Corona-Krise bilden und andererseits die Facetten der Krise analysieren und nach Lösungen suchen. Sie erschienen zunächst als Artikel im Feuilleton der FAZ und in der italienischen Tageszeitung La Repubblica. Und so erscheinen die Discorsi auch in Buchform zweisprachig, deutsch und italienisch, wobei jeweils auf die Originalfassung deren Übersetzung folgt.

Eine Besonderheit des Buches ist die Zusammenstellung der Autoren. Von S.H. des Dalai Lama, mit dessen Appell für mehr Wissen, mehr Kooperation und mehr Respekt der Nationen füreinander unter der Überschrift Wir alle müssen uns kümmern die Serie von Zeitungsartikeln in der FAZ vom 04.07.2020 begann, über Politiker, Wissenschaftler und Vorstandsvorsitzende internationaler Unternehmen bis zum Lyriker Durs Grünbein fand sich eine sehr bunte Mischung zusammen, deren Meinungen verfangen. Denn es ist erfreulich und ein Verdienst des Buches, dass darin Vorstandsvorsitzende wie auch Politiker betonen, die Pandemie habe den Wunsch geweckt, die Zukunft des Planeten mit verstärktem Einsatz zu denken und zu gestalten. Josef Nierling, Geschäftsführer von Porsche Consulting in Italien, schreibt, die Pandemie habe Perspektiven verändert: „Vor allem wurde evident, wie schonungslos und unmittelbar Wirtschafts- und Sozialsystem miteinander verflochten sind.“ 

Auch die Vorstandsvorsitzende von Fiat, Maria Grazia Davino, glaubt, „dass sich unsere Gesellschaft ‚vor‘ der Krise bereits in einer Krise befand, die von der Pandemie noch verschärft wurde“. Deswegen müsse man fragen, ob es ein ‚danach‘ überhaupt geben kann. Welche Folgen kann eine Dauerkrise für die gesellschaftlichen Strukturen haben? Mehrfach wird der mangelhafte Zusammenhalt Europas – fehlende Bemühungen der Mitgliedsstaaten, ihr Vorgehen miteinander abzustimmen – in der Pandemie kritisiert. S.H. der Dalai Lama sieht eine „Überbetonung des materiellen Wohlstands“ als Hauptursache für die meisten Probleme. Nur gemeinsam können internationale Krisen wie die Corona-Pandemie überwunden werden. Doch lediglich zwischen einzelnen Staaten habe sich Solidarität entwickelt: „Selbstkritisch müssen wir uns fragen, ob wir über Wirtschaftsinteressen hinaus die europäische Idee eigentlich verinnerlicht haben“, merkt Wolf-Dieter Adlhoch, Sprecher des Vorstands der Dussmann Gruppe, in seinem Essay an.

Interessendifferenzen schwächen die Europäische Union. Die Autoren beschwören die Chance, dass Europa gestärkt aus der Krise hervorgehen könnte, wenn Klimaschutz und die Bekämpfung von Ungleichheiten als prioritäre Ziele gesetzt werden und nationaler Egoismus nicht obsiegt. „Neuausrichtung“ nennt die Politikwissenschaftlerin Sandra Eckert dies. Die Vorsitzende der Generali-Gruppe Gabriele Galateri di Genola fordert, dass Europa bei der Entwicklung des grünen Sektors die Führung übernimmt. „So sollte konsequent auf einen allgemeinen Preis für CO2-Emissionen gesetzt werden“, sagt Ökonom Volker Wieland und ergänzt, dass Protektionismus den notwendigen Strukturwandel nur verzögern wird. In diesem Punkt unterscheiden sich die Essays deutlich. Ob die Politik strengere Vorgaben machen muss oder ob es eine freiere Marktwirtschaft und „der Wettbewerb selbst [ist], der Innovation schafft“, wird von den Autoren verschieden beurteilt. Dass Maria Grazia Davino als Vorstandsvorsitzende eines internationalen Konzerns eine Schwächung der Welt durch „die unkontrollierte Globalisierung“ sieht und Fehler beschreibt, ist ein sehr ungewöhnliches und positives Signal. Ebenso bemerkenswert ist es aber, dass ausgerechnet die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Nicola Beer die EU in der Krise als „erschreckend mau, schwach, bürokratisch, bürgerfern“ kritisiert, mit deutlicher Sprache Fehler aufzählt und hernach den Klimaschutz trotzdem nicht als wichtigste Aufgabe nennt. Erst am Ende ihres Aufsatzes erwähnt sie, dass „verantwortbarer Klimaschutz“ ihr Ziel ist. Ebendiese fragwürdige und in der Tat bürgerferne Prioritätensetzung führte zur Erwähnung Beers im zweiten „Zerstörungs-Video“ des YouTubers Rezo im September 2021. Beer rechtfertigte ihren von Rezo zitierten Tweet „Angstwahlkampf. Und angebliches Auftreten von mehr Extremwetterereignissen ist Fake News.“ auch noch vor laufender Kamera, wurde eingeblendet und zurecht heftig kritisiert.

Die Goethe-Vigoni Discorsi sollten keine einseitige Betrachtung der aktuellen Lage werden. Sie nehmen auch die Meinung von Nicola Beer auf und stellen ihr viele andere von Wissenschaftlern gegenüber. Die Discorsi sind außerdem mit postapokalyptischen, kalten Bildern von Behelfskrankenhäusern, schwarz-weißen Fotografien von Menschen in Schutzanzügen und Bildern von Geisterstädten und leeren Autobahnen versehen. Im abgedruckten Kalender ist der 22. Februar 2020 markiert; der Tag des ersten Corona-Todesfalls in Italien. Wie kann man angesichts der Bilder und dem fortlaufenden Zeitstrahl mit den belastenden Corona-Meldungen in Tagebuchform noch zur Ruhe kommen? Was ist jetzt wichtig? Wie können wir in Zukunft zusammenleben, Pandemien und einen Kollaps des Planeten verhindern? Die Vizepräsidenten der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitherausgeber des Bandes, Manfred Schubert-Zsilavecz und Rolf van Dick, schreiben, dass nun „rationale Strategien zur Rückkehr in die Normalität von demokratischen Gesellschaften“ gebraucht werden. Alle zu ergreifenden Maßnahmen müssten „von Nachhaltigkeit und Resilienz geprägt sein“.

In den Titel des Buches wurde die Villa Vigoni am Comer See, welche der Bundesrepublik Deutschland gehört und die dem deutsch-italienischen Austausch dienen soll, aufgenommen. Die Villa Vigoni ist heute „Deutsch-Italienisches Zentrum für den Europäischen Dialog“. Die Autoren betonen den Wert der deutsch-italienischen Beziehungen und, dass beide Länder „für dieselben Werte und Interessen im europäischen Kontext einstehen“. Aus der Grundlage dieser Werte entsteht ein politischer Handlungsansatz, der „gewissermaßen die Menschheit selbst in den Mittelpunkt stellt“, schreibt Josef Nierling. Nur mit konkreten sozialen und ökologischen Plänen wird an einem einzigartigen Moment in der Geschichte der Neustart unseres Planeten gelingen. Dies wäre eine europäische Renaissance. Hierfür sind die Goethe-Vigoni Discorsi ein sehr wertvoller Beitrag.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

 

Titelbild

Rolf van Dick / Dania Hückmann / Manfred Schubert-Zsilavecz: Goethe-Vigoni Discorsi. Riflessioni italo-tedesche al tempo del Coronavirus. Ein deutsch-italienisches Tagebuch der COVID-Krise.
Villa Vigoni Editore Verlag, Menaggio 2021.
457 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783969665138

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