Mein Behindertenzugang zu abstrakten Bäumen

„No art“ versammelt mehrere Gedichtbände Ben Lerners in deutscher Übersetzung

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ein paar Zeilen einen Gedichtband besprechen: lass es. Man ist von Anfang ein gnaden- und hilfloser Versimpler. Was tun? Credo quia absurdum? Ich glaube, es geht, obwohl es nicht geht? Nein, bestimmt nicht. Das gilt vielleicht umso mehr, wenn ein Buch (wohl) sämtliche bisher erschienenen Gedichtbände eines Autors versammelt, wie es hier der Fall ist. No Art erschien 2016 im amerikanischen Original und enthielt die von Ben Lerner veröffentlichen Bände The Lichtenberg Figures (2004), Angle of Yaw (2006) und Mean Free Path (2010), ergänzt um das kürzere Gedicht Index of Themes sowie das titelgebende nur eine Seite umfassende No art. Zwei Gedichte der amerikanischen Ausgabe wurden hier nicht aufgenommen (warum, erfahren wir nicht). Das beläuft sich, ergänzt um Anmerkungen, eine Translatorische Notiz des (Haupt-)Übersetzers Steffen Popp sowie ein Vorwort von Alexander Kluge auf mehr als 500 Seiten. Ein arger Brocken, schon von den Buchstaben her, vom Sinn ganz zu schweigen. 

Was tun? Ich picke einfach einiges raus und assoziiere. Zuerst zu Mean Free Path und Angle of Yaw. Beide Titel verweisen auf technisch-physikalische Phänomene (eine arg beliebte Bild-, Semantik- und Metaphernlegokiste für Lerner). Ein Scherwinkel (Angle of Yaw): das steht entweder für „einen Winkel bei der Scherung in der Mechanik“ oder „einen Winkel beim Zerspanen“. Die technologisch-metallurgische Moderne steckt also in der lyrischen (Post-)Moderne. Muss man es weiter wissen? Abstraktes mal Abstraktes ergibt Abstraktes. Muss man es weiter wissen? Ich weiß nicht. Wird da was eröffnet oder einfach so weit geöffnet, dass es leer wird? 

Mean Free Path wurde von Steffen Popp in Zusammenarbeit mit Monika Rinck übersetzt. Die Mittlere freie Weglänge, so Popp, sei „ein Begriff aus der statistischen Physik und der physikalischen Chemie“. Er bezeichne die Weglänge, „die ein (sub-)atomares Teilchen oder Molekül in einem gegebenen Material im Durchschnitt zurücklegt, bevor es mit einem anderen Teilchen zusammenstößt“. Zuerst gibt es eine Dedication/Widmung, Mean Free Path ist Ari, Ariana gewidmet, und was folgt, ist eine Art komplexes Liebesgedicht. Würde ich mal glauben wollen. Oder/und es ist ein langes Gespräch zweier Menschen, wo der eine die andere immer wieder unterbricht oder umgekehrt. Oder/und es wird halt fragmentarisch geredet oder monologisiert oder nur in einem Hirn? No art, no one knows. Okay, ich stelle also mal eine Du-, eine Interaktionsvermutung an. Beispiel, um das in etwa zu begründen: 

Du erschrecktest mich, ich dachte du würdest schlafen
Im traditionellen Sinn. Alles unter Glas
Betrachte ich gern, besonders
Glas. Du hast mich angerufen. Wie mitgehörte
Träume. Ich schreibe das als eine Frau
Die mit Scheitern kein Problem hat. Versprochen, ich werde nie
Aber das Prädikat verwelkte. Wenn es
Dir unangenehm ist, das als Porträtmalerei zu sehen
Schließ die Augen. Nein, du erschrecktest

Vor allem, aber nicht nur in den Lichtenberg Figuren finden sich höllisch viele Fingerzeige (wahrlich), die den verschärften Verdacht erregen, es handle sich um poetologische Kochrezepte. Moderne und Postmoderne ist ja immer reflexiv. Offen, latent, ironisch, versteckt oder wie auch immer irgendwo und irgendwie, darauf kann man sich verlassen, wenn auch auf sonst nix. Was sind Lichtenberg Figuren? Das seien, so Popp, charakteristisch aussehende baum- oder farnförmige Muster, die „bei Hochspannungsentladungen auf oder in isolierenden Materialien“ entstehen, erstmals 1777 von Georg Christoph Lichtenberg beschrieben. Sie seien zwar je individuell, aber besäßen ein „gemeinsames Strukturprinzip“. Hier unter anderem die 14zeilige Struktur des Sonetts – bloß ohne Elfsilbler oder Reime. 

Mich quälen poetologische Reflexionen. Die kommen mir immer vor wie eine Gebrauchsanweisung für rätselhafte technische Geräte, zum Beispiel Mixer. Aus dem Chinesischen ins Französische, dann ins Deutsche übersetzt und ich bin heillos überfordert. Stöpsel ich was an der richtigen Stelle ein, funktioniert es trotzdem nicht.
Hier also einige Gebrauchs- oder Nichtgebrauchsanweisungen. Wir erfahren: „Liebling, meine bevorzugte natürliche Abstraktion ist der Baum“. Oder: 

Poesie muss erst noch entstehen.
Das Bild ist kein Ersatz. Das Bild ist eine Anekdote
im Mund einer Totgeburt. Und nicht Reflexion,
mit ihrer schlechten Unendlichkeit, nicht Religion, mit ihrem Achtel Wunderpilz,
bringen Orgasmen zum Orgasmus wie Poesie.

Gerne spielt Lerner mit der Aufhebung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Position und Negation und nichts trifft zu: „Richtig, ein bedeutendes Werk greift die Frage nach seiner Herkunft auf/und lässt sie fallen.“ Oder: „Die Aufhebung der Perspektive ist eine Neuerung in Sachen Perspektive.“ Oder: „Das poetische Establishment hat Widerspruch eingemeindet./Das poetische Establishment hat Widerspruch nicht eingemeindet./Sind diese Gedichte einfach nur lahmarschig/oder sind diese Gedichte eine Kritik der Lahmarschigkeit?“ Oder: „Die Unmöglichkeit, sich auf die der Referenzkette immanente Unterbrechung zu beziehen/Schneefall in North Topeka./Die Unmöglichkeit, sich nicht auf die immanente Unterbrechung zu beziehen.“ Geht es auch um automatisches Schreiben oder nur darum, damit zu kokettieren? „Ich hab nicht den Hauch//einer Ahnung davon, was ich sage. Ich weiß nur,/dass ich eine gewisse Sympathie/für die Rhetorik des Wagnisses und des Mysteriums habe.“ Und ist das folgende – so jedenfalls biege ich es mir zurecht – eine Werbung, dass ich mich mit meinen schmalen Verständnismöglichkeiten doch da hineinbegeben soll? „Jetzt mit Behindertenzugang zu den Grundlagentexten./posthum signierten Grundlagentexten./Jetzt mit erweiterter Signatur in zweisprachiger Remission.“ 

Ich habe jetzt genug gemault.
Jetzt kommt der zweite Teil. Man kann da auch anders rangehen. Was, wenn man sich Lerners Gedichte als große abstrakte Räume vorstellt? Die Wörter entsprächen dort verteilten Punkten, die sich permanent (beim Lesen) gegeneinander verschieben, ihre Positionen, mithin ihre Semantiken und Bedeutungsverhältnisse ändern. Das ist das eine, was an Lerners Gedichten fasziniert, die quecksilbrigen Beziehungen der Wörter in ihnen.
Auf eine andere Möglichkeit, Lerner zu lesen (auf die ich nicht kam), kam Alexander Kluge bei The Lichtenberg Figures

Ich fing an diesem lyrischen und zugleich radikal modernen Text […] sofort Feuer. Ich ging dazu über, zu einzelnen Verszeilen, die ich mir angestrichen hatte, Geschichten zu schreiben. Auf eine Verszeile eine oder mehrere Seiten Prosa.

Für einen Mediziner, der Luhmann inhaliert hat, liegt folgende Metapher nahe. Der Gedichttext als Primärtumor, der kommunikativ metastasiert – gibt es etwas Tolleres für ein Gedicht als auf diese Weise gelesen, gedacht, weitergedacht zu werden? Kaum.

Zu dieser kommunikativen Filialisierung gehören auch die Anmerkungen Popps zur Genese der Übersetzungen. Nicht nur habe sich die Übersetzung über mehrere Jahre hingezogen, vor allem sei es kein „monologisches Unterfangen“ gewesen: „viele kundige Augen, Ohren und Stimmen haben wesentlich zu ihrem Gelingen beigetragen“. Wie erwähnt wurde Mean Free Path mit Monika Rinck zusammen übersetzt, ein komplexer Austausch- und Entwicklungsprozess. Überdies war Popp in Kontakt mit anderen ÜbersetzerInnen englischsprachiger Lyrik (so u. a. Daniel Falb, Jan Wagner, Uljana Wolf). Aber die Gedichte selbst kehrten auch zu ihrem Verfasser zurück. Tausende von Mails wechselte Popp mit Lerner, besprach sich, feilte, änderte. Und das wäre dann ein weiteres Faszinosum der Lernerschen Gedichtbände: Kommunikation von Hirnen zu Hirnen. 

Und jetzt? Diese Gedichte lesen und weitere Varianten, Lesarten, (Miss-)Verständnisarten entwickeln. 

Titelbild

Ben Lerner: No Art. Gedichte – Poems.
Aus dem Englischen von Steffen Popp in Zusammenarbeit mit Monika Rinck.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
512 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429914

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