Vom Nebelmeer ins Kino
László F. Földényis betreibt in „Der Maler und der Wanderer“ essayistische Wanderungen durch Caspar David Friedrichs Gemälde
Von Ulrich Klappstein
Der Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist László F. (geboren 1952 in Debrecen) zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und bereichert auch den deutschen Buchmarkt seit Jahren durch recht ungewöhnliche Publikationen. Erst 2020 wurde er für sein Werk Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Und schon vorher, nachdem er die gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache herausgegeben hatte, hat er im Berliner Matthes & Seitz-Verlag 1999 eine Kleist-Enzyklopädie in Form eines „Abecedariums“ aus einhundert Kleinstessays zum Werk und Leben des Autors veröffentlicht. Das Buch stellt keine herkömmliche Monographie dar, sondern ist wie ein Netz aufgebaut, welches das literarische Werk Kleists umspannt. Földényi spaltet ist es kaleidoskophaft in Splitter auf, setzt es neu zusammen und will doch keine „Mitte“ im Sinne einer letzten, eindeutigen Erklärung bieten.
In ähnlicher Absicht, wenn auch mit einem anderen Verfahren, nähert sich der Autor in seinem neuen Buch dem Phänomen Caspar David Friedrich – aufgefächert über die Epoche der Spätromantik bis hin zur Gegenwart. Im Kern geht es ihm um das, was die Zentralfigur des 1818 entstandenen Gemäldes Der Wanderer über dem Nebelmeer auf diesem Bild eigentlich sieht und noch mehr um das, was der Betrachter dieses Gemäldes entdecken kann. Friedrich malte, was man mit dem „natürlichen“ Sehen nicht wahrnehmen kann, und seine Erforschung des Unsichtbaren hat das Vertrauen in die Gewissheit des natürlichen Sehens nachhaltig erschüttert.
Földényis Bildbetrachtung weitet sich zu einer Kritik des Sehens an sich, da er in Friedrichs Gemälde eine Vorwegnahme all jener technischen Innovationen erkennt, die den Wirkungskreis des Sehens radikal erweitert haben. Friedrichs Werk steht programmatisch für eine Zeitenwende seit der Romantik, die in ihrer Sehnsucht nach dem Naturerleben den Topos des Unbewussten auf vielfältige Form zur Sprache gebracht hat. Földényi beschreibt sein eigenes Seh-Erlebnis des Gemäldes, auf dem der Wanderer, auf dem Felsen stehend, nicht nur Wolken, Nebel und Dunst erblickt, sondern gleichsam innere Bilder schaut, die verborgene Schichten des Bewusstseins aufdecken und das Unbewusste des Betrachters in eine ständige Bewegung bringen: das Schauen ins Nebelmeer nimmt den Traum vom Kino vorweg.
Diesen scheinbaren Anachronismus enthüllt Földényis Großessay nach und nach und behandelt in zehn Unterkapiteln den Weg vom „geheimnisvolle(n) Schleier der Dämpfe“ des Bildsujets, über den „schöpferische(n) Blick“ Friedrichs und das Mysterium des frühen „Fliegens“ bis zur „Sehnsucht nach dem bewegten Bild“ in der Ästhetik des Kinos.
Er geht dabei wie schon in seinem Kleistbuch nicht-linear vor, sondern rondoartig, d. h. wie in einem Musikstück wechseln sich – ausgehend von einem immer wiederkehrenden Abschnitt – weitere eingeschobene Analysen mit der der eigentlichen Bildbetrachtung ab und vereinen sich schließlich zu einem „Gesamtbild“. Földényi reiht Bausteine aneinander, und wie in einem Mosaik verbindet er Philosopheme Arthur Schopenhauers, Ausschnitte aus Achim von Arnims und Heinrich von Kleists Schriften und auch Gedanken aus Gotthilf Heinrich von Schuberts epochemachendem psychologischen Werk Die Symbolik des Traums mit eingestreuten Szenen aus Nietzsches Schaffen, geht aber auch auf Kafka, Kurt Schwitters, Jean Baudrillard, Adorno, Baudelaire und Walter Benjamin ein, um nur einige der von Ihm Zitierten zu nennen.
Földényis Essay ist ein panoramaartig aufgefächerter Ausflug in die Kunst- und Kulturgeschichte und bietet nebenbei ein völlig neues, einzigartiges Porträt des Malers Caspar David Friedrich, von dessen Werk sich das breite Publikum – anders als Goethe, Schopenhauer und auch Schleiermacher – durchaus brüskiert zeigte, weil der Künstler seiner Zeit weit voraus war. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte wieder eine lebhafte Rezeption seines Werks ein, die bis heute nicht abgeschlossen ist.
Földényi leistet hierzu einen neuen, andersartigen Zugang. Dem Buch sind zahlreiche Abbildungen beigegeben, von Friedrichs bekanntesten Gemälden natürlich, aber auch Stücke von Zeitgenossen und vielen anderen Künstlern: Marcel Duchamp, Nadar, Redon, Ledoux, Boullée, Vertow und sogar einige Stills aus Filmen von Buster Keaton. So wird die vom Autor textlich auf Friedrichs Gemälde fokussierte Analyse in ihrer Multiperspektivität sehr gut veranschaulicht. Friedrichs kubistische Techniken vorausnehmenden Bildgestaltungen, so das Ergebnis der Lektüre, bereiteten modernen Seh-Erlebnissen den Weg:
Die Frage, die Friedrich beschäftigte, ist keine geringere als die, ob der Mensch die perspektivische Darstellung zu überwinden vermag. Anders formuliert: Ob es möglich ist, dass der Sehpunkt und der Fluchtpunkt zusammenfallen und der sehende Mensch nicht zwischen zwei Extremen hin und her schwankt, sondern beide miteinander vereinen kann.
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