Wo steckt der Autor?

Herman Koch erzählt in „Finnische Tage“ aus dem eigenen Leben, wahrheitsgetreu

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Max Frischs Erzählung Montauk schreibt der Ich-Erzähler einmal, er möchte das Wochenende mit Lynn „erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden“, um gleich anzufügen: „Eine einfältige Erzähler-Position“. Frisch als Autor und Erzähler will ganz bei sich und dem Erlebten bleiben, wahrhaftig und autobiografisch.

In diese „einfältige Erzähler-Position“ schlüpft auch Herman Koch in seinem Buch Finnische Tage. Jeder Mensch sei ehrlich, wenn er allein sei, zitiert Koch den Essayisten Ralph Waldo Emerson, denn „am Eingang zu einer zweiten Person beginnt die Heuchelei“. Sein autobiografischer Roman gilt einem Ereignis, das vor 50 Jahren stattfand, als der damals 20-jährige Herman ein halbes Jahr in Finnland auf einem Bauernhof verbrachte. Im Rückblick wirke vieles daran „einfach unglaubwürdig“, meint der mittlerweile 70-jährige Koch. Der schlaksige Junge fuhr damals Traktor, bediente Motorsägen und kam mit minimalen Sprachkenntnissen bestens über die Runden. Die Einsamkeit, die ihn umfing, behagte ihm. Und dann war da noch Anna, ein Mädchen, dem er nur kurz begegnete, das er aber im Gedächtnis behielt. Auf einer Skiwanderung im Kreis einer Gruppe von Lehrpersonen blieb sie an einer Wegbiegung zurück, um den Nachzügler mit einem „Ich warte auf dich“ zu begrüßen.

In der Zwischenzeit ist aus dem jungen der begehrte Schriftsteller Herman Koch geworden, der mit dem Roman Angerichtet 2009 einen Welterfolg landete. Davon aber kein Wort, wenn er in Finnische Tage berichtet, wie er 2012 zur Buchmesse in Turku eingeladen und an einem Büchertisch unversehens wieder ans Jahr 1973 erinnert worden sei. Ihm fiel ein schmaler Gedichtband mit dem Titel Suomen päivät ins Auge, Finnische Tage. Beim absichtslosen Blättern stieß er auf zwei Zeilen, die ihn irgendwie zu betreffen schienen: „Am schwersten fällt / das lange Warten“. Die zwei Zeilen waren mit 1973 datiert.

Herman Koch ist ein Autor, der alle Tricks kennt, um seine Leser und Leserinnen bei Laune und in Spannung zu halten, um ihnen so einen Spiegel vorzuhalten. Er beweist es in diesem Buch aufs Neue. Von Beginn weg legt er es auf ein autobiografisches Erzählen an. Freimütig gibt er persönliche Szenen aus seiner Adoleszenz preis, die mit dem Aufenthalt in Finnland ein Ende fanden. Als der junge Herman 17 war, hinterließ der Tod seiner geliebten Mutter eine schmerzhafte Lücke. Das Zusammenleben mit dem Vater gestaltete sich schwierig, weil dieser seit langem schon ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte, das vom Jungen für den Tod der Mutter mitverantwortlich gemacht wurde. Darauf reagierte er widerspenstig und mit wilden Eskapaden. Er ließ die Wohnung vergammeln, trank zu viel und trieb sich gefährlich mit seinem Motorrad herum, anstatt sich seriös aufs Abitur vorzubereiten. Hartnäckig taucht Koch hinab in die Kapillaren seines Gedächtnisses, um ein plastisches Bild der Verwahrlosung seines „Helden der Geschichte, in diesem Fall ich“, zu geben.

„Es hätte auch alles anders kommen können“, hält er im Nachhinein fest. Doch er hatte immer wieder Glück, auch in jener unheimlichen, gefährlichen Begegnung, die er als Fünfzehnjähriger eines Nachts in Baltimore erlebte. Nachdem er diese „gute Story“ viel später in einem Interview gegenüber der Zeitung Volkskrant erwähnt habe (– das Gespräch wurde tatsächlich am 19. November 2016 publiziert –), sei er jedoch selbst ins Grübeln geraten, erinnert sich Koch weiter.Warum erzählte er einer Zeitung, was er bisher vor allen Bekannten und Freunden geheim gehalten hatte? Und mehr noch: „Auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, welche Fassung ich ihr erzählt hatte, die zensierte, die unzensierte oder die aufgebauschte“.Listig streut Koch in seinen Lebensbericht immer wieder solche Skepsis gegenüber dem eigenen Erzählen ein, um gleich auch zu betonen, dass er hier nur die Wahrheit preisgeben wolle. Doch welche Wahrheit und wessen Wahrheit? Die des Autors oder die seines gleichnamigen Erzählers? Oder beider zugleich? Und welche „Lügen“ bringt er hinter dieser Wahrheit zum Verschwinden? Je mehr Herman Koch beteuert, dass er ehrlich Zeugnis ablege, selbst wenn es unglaubwürdig klinge, desto mehr weckt er damit auch bei seiner Leserschaft Zweifel. Was erfahren wir über ihn? Ja, was wissen wir eigentlich über uns selbst?

Finnische Tage ist als „Roman“ gekennzeichnet. Der Autor erzählt darin mit aller Raffinesse die Geschichte eines gleichnamigen Alter Egos, der sich im literarischen Spiegel als junger Mann sieht und sich fragt, wie dessen Bild mit dem Autor von heute in Verbindung steht. Je mehr Klarheit er dabei verspricht, umso größere Skepsis erscheint angebracht. Und dennoch: In der Summe all der ganzen oder halben Wahrheiten, der Übertreibungen und Auslassungen, erhalten wir ein durchaus glaubhaftes und im Kern womöglich authentisches Charakterbild des Schriftstellers Herman Koch. Finnische Tage ist ein Kabinettstück der literarischen Selbstbespiegelung. Mit dem autobiografischen Wahrheitsversprechen offenbart sich der Autor Herman Koch ebenso wie er sich vor seinen Lesern und Leserinnen versteckt. Vielleicht hat Anna tatsächlich auf ihn gewartet.

Titelbild

Herman Koch: Finnische Tage. Roman.
Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462000658

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