Unter Abgeordneten und Menschen

Ulf Erdmann Ziegler wirft in seinem vierten Roman „Eine andere Epoche“ einen kritischen Blick auf den deutschen Politikbetrieb

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Berlin, Anfang November 2011. Als die Nachricht vom Tod der beiden NSU-Terroristen Mundlos und Böhnhardt die Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages erreicht und kurz darauf die mit den beiden Rechtsradikalen untergetauchte Beate Zschäpe ihre Zwickauer Wohnung in Brand setzt und Bekennervideos versendet, die keinen Zweifel mehr daran lassen, dass die Berliner Republik sich über ein Jahrzehnt lang im Visier einer rechten Terrorzelle befand, wird der SPD-Abgeordnete Andi Nair aktiv.

Mithilfe seines Büroleiters und Freundes aus Jugendtagen im Niedersächsischen Wegman Frost ruft er einen Untersuchungsausschuss ins Leben. Genau auf der Hälfte zwischen zwei Bundestagswahlen fühlt es sich in Deutschland „fast an wie Stillstand“. Das will Nair ändern und gleichzeitig der in die Opposition abgedrängten SPD wieder einen Schub geben.

Mit seinem vierten Roman Eine andere Epoche dringt der 1959 in Neumünster geborene Ulf Erdmann Ziegler tief in den Dschungel des Berliner Politikbetriebes ein. Seine drei im Zentrum stehenden Protagonisten – außer Nair und Frost zählt noch der charismatische Reden schwingende FDP-Politiker und Vizekanzler Florian Jannsen, einst Wegmans Freund, inzwischen sein politischer Gegner, dazu – ahnen, dass sie gerade eine Epochenwende erleben. Während sich der Ausschuss bemüht, Licht ins Dunkel eines totalen Staatsversagens rechten Terroristen gegenüber zu bringen, und unweit seiner Tagungsstätte zur selben Zeit ein Bundespräsident zum Rücktritt gezwungen wird, werden Nair, Frost und Janssen nicht nur von den Problemen des Gemeinwesens, sondern auch noch von je eigenen Konflikten umgetrieben.

Und immer wieder schweifen ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit.

Denn als sie sich – noch als Jugendliche – für die Politik als ihr zukünftiges Metier entschieden und voller Enthusiasmus daran glaubten, mit ihrem Engagement an der Verbesserung der Verhältnisse, in denen sie lebten, mitwirken zu können, schienen die Dinge ganz einfach zu sein. Wofür man so unermüdlich kämpfte, das war die Wahrheit. Und wer für die Wahrheit kämpfte, war automatisch im Recht und hatte deshalb die Zukunft auf seiner Seite.

In der Gegenwart freilich fällt es Wegman Frost immer schwerer, auf einfache Fragen einfache Antworten zu geben. Klar ist ihm allerdings, dass sich der anfängliche Enthusiasmus, mit dem man antrat, um sein Land mitzugestalten, allmählich verschlissen hat, weil man plötzlich Rücksichten nehmen musste, die man nie zu nehmen vorhatte, und das Taktieren langsam aber sicher den Platz des Gestaltens übernahm:

Zuerst möchte man etwas ändern oder ist wütend über einen Vorfall, und kaum ist man bemerkt worden, denkt man, das kann nur ich; ganz viel Vorhaben und ein kleines Amt, dann die höheren Ziele und ein mittleres Amt; danach wird es schwieriger zu beschreiben.

Fragt die zehnjährige Ellie, Tochter von Frosts Lebensgefährtin Marion, einer erfolgreichen Immobilienmanagerin, Wegman etwa, warum der Bundespräsident sich nicht von Freunden einladen lassen dürfe oder wieso der NSU-Ausschuss nicht Beate Zschäpe vorlade, die doch wohl am besten wisse, was man zu erfahren begehre, laviert er sich, so gut er kann, an den gefährlichen Klippen solcher Unterhaltungen vorbei. Das Kind interessiert, was jedermann im Herbst 2011 gern wissen möchte. Nur versetzt Ellie ihre kindliche Naivität in die Lage, das auch hintergedanken- und umschweiflos zu fragen. Für sie existiert noch eine über allem stehende Wahrheit, die ausgesprochen werden kann, während Wegman – denkt er gelegentlich überhaupt noch darüber nach – inzwischen zu der Ansicht neigt: „Oh doch, eine Wahrheit gibt es. Aber niemanden, der sie kennt.“

Eine andere Epoche nimmt seine Leser mit in eine Welt, von der man sonst nur die glatte Oberfläche zu sehen bekommt oder sich mit Affären wie der „Wulff-Grippe“ konfrontiert sieht, die hier in schöner und die Medien erfreuender Regelmäßigkeit produziert werden. Allerdings ist das Buch nicht als Schlüsselroman gedacht, auch wenn viele Figuren der Zeitgeschichte namentlich in ihm auftauchen und sich hinter den Bückeburger Jugendfreunden Andi Nair und Florian Jannsen ganz offensichtlich der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy und Philipp Rösler, zwischen 2011 und 2013 Vizekanzler im seit 2009 regierenden schwarz-gelben Kabinett, dem zweiten mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin an der Spitze, verstecken.

Ulf Erdmann Ziegler aber geht es um mehr als das bloße Nacherzählen eines skandalträchtigen Geschichtsabschnittes. Er interessiert sich vor allem dafür, ob man, in den politischen Apparat eingespannt, noch der bleiben kann, der man vorher war. Für Wegman ist klar: „Er wollte nicht kalt werden, kalkulierend und zynisch, wissend, dass ihm das noch schlechter stehen würde als zugänglich und im äußersten Fall sogar naiv.“ Die Realität aber sieht anders aus.

Am Ende – Andi Nair hat sich, nachdem „mit der gleichen Akkuratesse, die ein Jahr zuvor den rechtsradikalen Mördern gegolten hatte“, gegen ihn wegen des Besitzes kinderpornografischen Materials ermittelt wird, Hals über Kopf aus dem Politikbetrieb zurückgezogen – macht sich Wegman Frost desillusioniert auf den Weg nach Hongkong. Ellie muss zu ihrer Mutter, deren Arbeitsplatz inzwischen nicht mehr in Berlin ist, begleitet werden. Das Kind wird dort zur Schule gehen – ein Neubeginn, nicht nur für die Zehnjährige, sondern auch für den Ex-Büroleiter, der in seinem alten Job keine Zukunft mehr für sich sieht.

Frost hat vor, Chinesisch zu lernen und vielleicht einen Roman zu schreiben. Die Titel 1913 und 1914 sind bereits vergeben. Also wird er sich das Jahr 1915 vornehmen, die Zeit des Ankommens all der jungen Männer, die mit ihrer Kriegsteilnahme die von ihren Vätern geprägte Epoche beenden wollten, in der bitteren Realität der Grabenkämpfe:

Die jungen Männer waren losgestürmt, nach Belgien, nach Frankreich. Sie dachten, dieser Krieg wäre notwendig. Sie wollten Helden sein in einer Zukunft, Menschen einer neuen Zeit. Und dann saßen sie in den Gräben fest. […] Aber es war zu spät, sie waren mitten im Krieg.

Es ist, im übertragenen Sinne verstanden, eine ähnliche Situation, in der sich auch Ulf Erdmann Zieglers drei Helden nach ihrem großen Aufbruch in die Welt der Politik plötzlich wiederfinden. Etwas mit Enthusiasmus Begonnenes ist plötzlich vorbei oder wie es eine alte Freundin Wegmans hellsichtig formuliert:

Ich glaube, dass eine Epoche zu Ende geht. Ohne Vorwarnung beginnt eine neue. Du musst dich rüsten, Wegman, deinen Blick schärfen für die Zeichen der Zeit.

Titelbild

Ulf Erdmann Ziegler: Eine andere Epoche. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
256 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430156

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