Ein Patriarch wird zum Menschen

Alina Bronsky beschreibt in ihrem neuen Roman „Barbara stirbt nicht“ den langsamen Wandel eines Menschen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach drei ebenso starken wie starrköpfigen Großmüttern – Rosalinda Kalganowa in Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche (2010), Evdokija Anatoljewa in Baba Dunjas letzte Liebe (2015) und Margarita Iwanowna in Der Zopf meiner Großmutter (2019) – hat die 1978 im russischen Swerdlowsk geborene und in den frühen 1990ern mit ihrer Familie nach Deutschland gekommene Alina Bronsky einen Mann zum Helden ihres neuen Romans gemacht. Auch Walter Schmidt, der im Buch nur als „Herr Schmidt“ auftaucht, ist an seinem leichten Akzent als noch vor Jahrzehnten Eingewanderter zu erkennen. Sich dazu zu bekennen, fällt ihm allerdings nicht ein. Im Gegenteil: Wenn der Leser ihn kennenlernt, fallen sofort eine ganze Reihe von unsympathischen Eigenschaften an ihm auf, zu denen nicht zuletzt eine sich gelegentlich äußernde Fremdenfeindlichkeit zählt.

Der ehemalige Elektromonteur und aktuelle Rentner ist ein Patriarch alter Schule. Schweigsam und geizig überlässt er alle Dinge des Haushalts seiner Gattin Barbara. Die ihr von ihm vor Jahren zum goldenen Hochzeitstag geschenkte Küche – „ein Sammelgeschenk für all die anderen Hochzeitstage und Geburtstage, an denen er nichts geschenkt hatte, und auch für alle künftigen, an denen er nichts schenken würde“ – betritt er nur, wenn der Kaffee bereits in den Tassen dampft oder das Essen verzehrfertig auf dem Tisch steht. Mit seinem Enkel Henry hat er noch nie ein Wort gewechselt. Wie seine Kinder Karin und Sebastian in ihrem Leben jeweils zurechtkommen, interessiert ihn scheinbar wenig. Allein Helmut, sein Deutscher Schäferhund, bekommt mehr Zuwendung von ihm als all die Menschen, mit denen er – mehr notgedrungen als engagiert – Umgang pflegt.

Als er deshalb eines Morgens seine Frau nicht wie gewohnt neben sich im Ehebett vorfindet, sondern gestürzt auf den Fliesen im Bad, und Barbara von da an nicht mehr recht auf die Beine kommen will, sich schwach und müde fühlt und die meiste Zeit im Liegen verbringt, hat Herr Schmidt ein Problem. Alles, was bis dahin von ihr verrichtet wurde, muss jetzt er tun. Und langsam wird aus dem misanthropischen Mann, an den sich seine Umwelt gewöhnt hatte, ein anderer. Einer, den Sohn Sebastian und Tochter Karin, die Herren aus seiner donnerstäglichen Bowlingrunde, Nachbarn wie Bekannte zunächst gar nicht wiedererkennen. Dem sie nie zugetraut hätten, dass er eines Tages für sich und seine Frau kochen und backen, einkaufen gehen und sich Zeit für Gespräche mit ihm bis dahin unbekannten Menschen nehmen würde.

Barbara stirbt nicht porträtiert humorvoll-melancholisch einen Menschentyp, der auch in unseren modernen Tagen längst noch nicht ausgestorben ist, den Pascha, der Haushalt und Kindererziehung vernachlässigt und soziale Interaktion ablehnt. Das aber ändert sich im Fall von Herrn Schmidt schlagartig: „Nun war alles anders. Er musste jetzt Barbara sein. Für sich selbst und für Barbara.“ Also gilt es zu lernen, wie man Kartoffeln kocht, welche Zutaten in einen Rührkuchen gehören, wie man Tiefkühlware auftaut, was nur der Hund bekommt und was auch dem Menschen zuträglich ist, wo im Supermarkt sich die Dinge des täglichen Bedarfs versteckt halten, an welchen Platz sie im heimischen Schrank gehören und dass es Telefone gibt, die man von Aufenthaltsort zu Aufenthaltsort mitnehmen kann, ohne dass das gerade stattfindende Gespräch unterbrochen werden muss.

Doch ganz so einfach ist es für Walter Schmidt auch nach Tagen und Wochen noch nicht. Ab und an braucht er Hilfe, die er sich von Barbara freilich nur in Ausnahmefällen holen will. Deshalb ist er froh, als er beim nachmittäglichen Zappen von Fernsehkanal zu Fernsehkanal auf den kleinen dicken Koch Medinski stößt und sich bei ihm praktikable Tipps für die Küche holen kann. Dieser hilft ihm auch bei einem kulinarischen Unterfangen, das nun wirklich nichts für Anfänger ist – der Zubereitung der tradtionellen, mit Rote Bete und Weißkraut zubereiteten Suppe namens Borschtsch.

Über sein frisch erwachtes Interesse am Kochen landet Bronskys Held schließlich auch im Internet. Und muss zunächst erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass seine Frau hinter seinem Rücken online ausgesprochen aktiv war. Unzählige Bilder von ihm hat sie in ihren Facebook-Account hochgeladen, was zwei wildfremde Menschen sogar zu einer Daumen-hoch-Aktion verleitete. Dass auch der kleine polnische Fernsehkoch im Netz präsent ist, man dessen Videos sogar kommentieren und mit anderen diskutieren kann, kommt Schmidts Wissbegier in Küchendingen außerordentlich entgegen. Nur dass er unter dem Usernamen „Barbara“ zu einem emsigen Teilnehmer an dem nie endenden virtuellen Gespräch um Kalorien und Kulinarik wird, verwirrt die Gemeinde am Anfang etwas, verhindert letzten Endes aber nicht, dass der Mann, der unter dem Namen seiner Frau postet, und seine neuen Lebensumstände ziemlich schnell bekannt werden.

Alina Bronsky beherrscht die Kunst des leichten, spielerischen Erzählens. Belanglos ist das, was sie ihren Lesern zu sagen hat, dadurch aber noch lange nicht. Im Gegenteil: Indem ihre Figuren wie aus dem Leben gegriffen wirken – wer kennt ihn nicht, den ewig lamentierenden älteren Herrn, dem nichts recht zu machen ist und der alles unternimmt, um sich nicht von seinen vielen, ihm lieb gewordenen Selbstverständlichkeiten trennen zu müssen –, erleben sie auch all das, was ein Leben zu bieten haben kann: Freude und Leid, Gutes wie Böses, Alltag und Ausnahmezeiten, offen zu Tage Liegendes wie Verdrängtes.

Auch Walter Schmidt hat verdrängt – ein drittes Kind nämlich, sein erstes, Artur, vor langer Zeit abgeschoben in ein Heim für geistig Behinderte. Nur Barbara hat sich offensichtlich regelmäßig um ihn gekümmert und ihren damit zusammenhängenden Hass auf den Gatten nie laut werden lassen. Da er nun allmählich ein anderer wird – das Liebenswerte an seiner Frau wiederentdeckt, Bedrängten zu Hilfe kommt, offener mit seinen Mitmenschen kommuniziert, sich einmischt, wo er früher weggesehen hat –, fühlt Herr Schmidt sich auch seinem verlorenen Sohn wieder näher und ist beschämt darüber, wie er ihn über die Jahre und Jahrzehnte vernachlässigt hat. Ein stärkeres Zeichen für seinen Wandel vom Patriarchen zum Menschen als seinen den Roman beendenden Aufbruch am Weihnachtstag, um den Vergessenen zurück in den Familienkreis zu holen, gibt es deshalb nicht. 

Titelbild

Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462000726

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