Ist das Kunst oder kann das weg?

In dem Sammelband „METAfiktionen. Der experimentelle Roman seit den 1960er Jahren“ erschließen Aufsätze metafiktionale Aspekte ausgewählter neuerer Literatur

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Herausgeber Stefan Brückl, Wilhelm Haefs und Max Wimmer haben in dem Band METAfiktionen. Der experimentelle Roman seit den 1960er Jahren Aufsätze versammelt, die der Frage nachgehen, welche Ansätze Autoren verfolgen, um ihren Arbeiten eine selbstbezügliche Dimension zu verleihen, die sich nicht damit begnügen will, eine wie auch immer geartete Wirklichkeit vermeintlich realistisch abzubilden, sondern danach trachtet, die narrative Illusion zu stören, beziehungsweise durch außersprachliche Elemente zu ergänzen. Natürlich stehen auch diese neueren Arbeiten in der Tradition etwa eines Romans wie Laurence Sternes bereits 1759 erschienenem Tristram Shandy. Entscheidend bei diesem Sammelband ist jedoch, dass all die hier eingehender betrachteten neueren Texte – so beispielsweise die Romane des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas sowie die Arbeiten des US-Amerikaners Mark Z. Danielewski – über eine rein inhaltliche Selbstbezugnahme eines Erzählers hinausgehen, nicht bloß Aspekte von Metanarration, sondern eben von Metafiktion in den Blick nehmen. Hierbei können Typografie, Seitenlayout, Abbildungen oder selbst Umschlaggestaltung tragende Bedeutungseinheiten sein, die über eine vom Text geschaffene Bedeutungsebene hinausgehen. Es geht in dem Band vor allem um „jene Phänomene, die über rein narratologische Frage- und Erkenntnisprozesse nicht analytisch erfasst werden können“.

Dies ist vor allem deswegen spannend, weil eine Multimodalität – der Begriff findet sich auch im Titel von Sascha Pöhlmanns Aufsatz Multimodalität als Grenzgang des Narrativen im Romanwerk Mark Z. Danielewskis –, die eben nicht in erster Linie das Erzählte veranschaulichen soll, sondern selbst neue Bedeutungsebenen eröffnet, lange vernachlässigt wurde: sowohl in Literaturwissenschaft aber auch verlegerischer Praxis, wie etwa Gustav Frank in seiner Analyse von Peter Weiss‘ Der Schatten des Körpers des Kutschers anhand der verschiedenen Ausgaben seit dem ersten Erscheinen 1960 darlegt.

Der von Mitherausgeber Max Wimmer verfasste Beitrag Friction in Fiction. Autoreferenz, Metanarrativität und Metafiktionalität steckt gleich zu Beginn das thematische Feld des Bandes ab, indem er die Bedeutung dieses zum Allerweltsbegriff gewordenen Ausdrucks „Meta“ erschließt, eingrenzt und so wieder fruchtbar zu machen versucht. Als Grundlage dafür dienen die Arbeiten von Werner Wolf, insbesondere dessen Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst von 1993, sowie Ansgar Nünning, die neben Gérard Genette das theoretische Fundament vieler der hier versammelten Aufsätze bilden.

Grundsätzlich machen die Aufsätze Lust auf die Texte, mit denen sie sich befassen. Neben den schon erwähnten Aufsätzen finden sich unter anderem auch eine Analyse der Arbeiten von Raymond Federman, Arbeiten zum Roman Indigo des diesjährigen Büchnerpreisträgers Clemens J. Setz und Arno Schmidts Zettels Traum, die sich den Texten nicht nur über ihren Inhalt nähern, sondern vor allem auch die formale (Buch-) Gestaltung in den Blick nehmen. Auch wenn mancher Aufsatz sich eher an Literaturwissenschaftler richtet, sind die meisten doch recht zugänglich. Cornelia Ortliebs Aufsatz zu Jeffrey Jacob Abrams und Doug Dorsts S. Das Schiff des Theseus hat eingangs fast etwas von einem YouTube-Unboxing in Textform, bei dem sie auf die außergewöhnliche Buchform mit den hineingelegten Briefen eingeht – beim Lesen fühlt man sich an Nick Bantons bereits 1991 erschienenes Buchexperiment Griffin & Sabine erinnert –, wird aber allmählich über eine Deutung nicht nur des Inhalts, sondern auch der Buchform und -gestaltung zu einer beißenden Kritik an einem Buch, das vorgibt, eine vermeintlich „gute alte Zeit“ des Mediums aufleben zu lassen. Es tut dies jedoch mit den Mitteln des digitalen Zeitalters, wo Dialoge an Chat-Gespräche erinnern und visuell wie inhaltlich solch ein Zuviel an Effekten herrscht, dass es eine Lektürehaltung einfordert, die erst mit dem Bildschirmlesen, dem Springen von Link zu Link überhaupt erst entwickelt wurde, und eine wie auch immer geartete „tiefere“ Leseerfahrung nicht zu erzeugen vermag.

Tatsächlich sieht laut Sascha Pöhlmann auch die Forschung Danielewskis Roman House of Leaves als „Ausdruck der Effekte einer digitalen Kultur auf ein analoges Medium“, hält ihn allerdings für angemessener als dies Ortlieb bei S. Schiff des Theseus tut. Darauf, dass der Band auf die Frage nach dem Effekt der Digitalisierung auch auf metafiktionale Texte, die Elemente des physischen Mediums Buch zum integralen Bestandteil machen, eher am Rande eingeht, wird bereist in der Einführung hingewiesen.

Auch wenn Ortliebs Kritik an S. Schiff des Theseus durchaus überzeugend vorgebracht wird, kommt man doch nicht ganz umhin, in ihr vor allem zum Ende hin eine eher skeptische Haltung gegenüber dem Digitalen ganz allgemein zu vermuten und damit einen Wertigkeitsbegriff von Literatur und Kunst, den man sich vielleicht auch in diesem Band stärker thematisiert gewünscht hätte. Natalia Igl etwa weist in ihrem Aufsatz Multisensorische Lektüren. Zur Rezeption und Meta-Ästhetik multimodaler Gegenwartsromane auf das Phänomen hin, dass oft als anspruchsvoll erachtete metafiktionale Romane – interessanterweise führt auch sie als Beispiel gerade S. Ship of Theseus an – auf der Leseplattform Goodreads von vielen Lesenden nach eigenem Bekunden als zu sperrig und zu anstrengend empfunden werden. Das ist zum einen vielleicht nicht verwunderlich, zum anderen wäre es aber durchaus lohnend herauszufinden, warum ganz ähnliche gestalterische und formale Aspekte in einem weniger „ernsten“ Kontext, etwa in Kinderbüchern, von einer breiteren Leserschaft stärker akzeptiert zu werden scheinen, als wenn sich vermeintlich „anspruchsvolle“ Literatur derselben Mittel bedient. Womöglich ist aber diese Fragestellung im Kern weitaus grundsätzlicher und gar nicht so sehr auf die formalen Kriterien zu reduzieren, sondern schlichtweg die Frage danach, was anspruchsvolle Literatur und was Unterhaltungsliteratur ist. Und auch wenn solche Unterscheidungskriterien vielen Künstlern selbst längst nicht mehr relevant erscheinen mögen, schon bei Kurt Vonneguts 1969 erschienem Roman Slaughterhouse Five etwa, in dessen Tradition Paul Schäufele in seinem Aufsatz Clemens J. Setz sieht, steht wie selbstverständlich vermeintlich Triviales neben Hochkultur. Die Unterscheidung von Anspruchsvollem und leicht Konsumierbaren scheint aber sowohl in der Literaturwissenschaft als auch bei den Lesenden selbst nach wie vor von Bedeutung zu sein. Allerdings werden beide Kategorien ganz gegensätzlich gewertet und gerade bei dem ein oder anderem hier analysierten Roman mögen manche Lesende Ähnliches wie die im Titel zitierten Putzfrau vor Joseph Beuys Kunstwerk Die Fettecke denken. (Vor allem Michael Lentz‘ Schattenfroh wurde bei Erscheinen von der Kritik alles andere als bejubelt und Claus-Michael Orts Aufsatz zu dem Roman macht Lust, ihn zu entdecken.)

Man würde den in dem Band versammelten Aufsätzen genauso wie den Texten, mit denen sie sich auseinandersetzen, wünschen, dass sie auch außerhalb eines literaturwissenschaftlichen Umfelds größere Beachtung fänden, denn beide tun das, was jeder gute Text tun sollte: Sie machen Lust darauf, Neues, auch in vermeintlich Bekanntem, zu entdecken, indem sie andere Perspektiven eröffnen – sofern man bereits ist, manchmal etwas Mühe zu investieren.

Titelbild

Stefan Brückl / Wilhelm Haefs / Max Wimmer (Hg.): METAfiktionen. Der experimentelle Roman seit den 1960er Jahren.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2021.
448 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783967074239

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