Ein Theater ist ein Theater ist ein Theater

„Das Deutsche Theater nach 1989” von Hannah Speicher als Ort der individuellen und kollektiven Identität.

Von Benedetta BronziniRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benedetta Bronzini

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Deutsche Theater gehört zu Berlin wie ein Wahrzeichen. Seine Geschichte ist ein Zeichen der Wahrheit für diese Stadt” (Thomas Langhoff, Intendant des Deutschen Theaters von 19912001).

Über das Deutsche Theater zu schreiben heißt, es zwangsläufig in die Geschichte Deutschlands und die Berliner Theaterwelt einbetten zu müssen – denn nicht zuletzt geht die Entstehung des Theaters Hand in Hand mit der Geburt der deutschen Nation. Gleichzeitig ist die Geschichte des Theaters eng mit der Geschichte seiner Stadt, Berlin, verwoben: ein historisches und geopolitisches Unikum des 20. Jahrhunderts. Schon 1842 eröffnete in der Berliner Schumannstraße 14 der Vorläufer des Deutschen Theaters, das Friedrich-Wilhelmstädtische Casino, Bühne der Nacht der Barrikaden 1848 und des konkreten Aufstandes. Erst 1883 wurde das „Deutsche Theater” mit dem Ideal eines dem Ganzen verantwortlichen, souveränen Theaters von einer Schauspieler-Sozietät gegründet und erlang dank der Intendanten Otto Brahm und Max Reinhardt internationale Bekanntheit. 1949 wurde es im Herzen des ostdeutschen Theatermilieus gelegen zusammen mit dem Berliner Ensemble von Bertolt Brecht (Gast des DT von 19491954), dem Gorki Theater und der Volksbühne, zum Staatstheater der DDR ernannt. Nach dem Mauerfall wird es zu einem zentral-staatlich subventioniertem Austragungsort Berlins, der zur Konfrontation mit der nahen Vergangenheit und der neu erfundenen deutschen Identität verpflichtet. 

Wie und unter welchen Bedingungen wird Theater produziert? Welche Theaterstile sollen in der neuen Bundeshauptstadt Berlin dominant sein? Welche Stücke und Ästhetiken werden Teil des nationalen Gedächtnisses? Soll das Deutsche Theater ein dezidiert Ost-Berliner oder gesamtdeutsches Nationaltheater werden? 

sind einige der Fragen, die Hannah Speicher in Das Deutsche Theater nach 1989. Eine Theatergeschichte zwischen Resilienz und Vulnerabilität stellt und analysiert. 

Hannah Speicher – Literaturwissenschaftlerin und Dramaturgin – konzentriert ihre Analyse auf den Zeitraum von 1989 bis 2008 und der ikonischen Inszenierungen von drei Theaterstücken: Heiner Müllers Hamlet/Maschine (1989/1990), Mark Ravenhills, von Thomas Ostermeier inszeniertem, Shoppen und Ficken (1999) und Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti in der Inszenierung von Michael Thalheimer (2001). Drei sozio-politische Epochen, drei Werke, drei Autoren und Regisseure, drei Intendanten: der „Konservative” Thomas Langhoff (19912001), der „Häretiker” und Leiter der BARACKE Thomas Ostermeier (1996/1997) und der „Resilient” Bernd Wilms, (2001–2008). Wie in der Einleitung zurecht angesprochen, bietet das Deutsche Theater als Fallbeispiel für den Kampf gegen Zensur, um Subventionen und der allgemeinen Legitimierung von Theaterarbeit innerhalb der Gesellschaft die Möglichkeit, das Festhalten an der DDR-Identität sowie die Gegenüberstellung unterschiedlicher Theaterbegriffe und verschiedener Generationen als Teil des Ost-West-Konflikts nach 1989 zu begreifen: ein Aspekt, der schon im Untertitel Resilienz und Vulnerabilität anklingt. Mittels dieser Begriffe gelingt es unmittelbar, das Theater als pulsierendes Lebewesen mit starker Wandlungs- und Überlebensfähigkeit zu porträtieren, so Speicher: Es besäße „die Eigenschaft [eines Lebewesens], nach Verformung wieder in [seine] Ausgangsposition zurückzukehren, […], bzw. sein Oszillieren um einen Gleichgewichtzustand” (S. 15) aufrechtzuerhalten. Eine Eigenschaft, die die Ost-Berliner Theater der Nachwendezeit unmittelbar aufwiesen, auch im Vergleich zu den Theaterhäusern des Westens (im Westen wurden die Freie Volksbühne 1992 und das Schiller-Theater 1993 geschlossen). 

Mit dem Resilienz-Konzept wird hier auch auf die biografische Resilienz zweier Protagonisten der Publikation verwiesen, nämlich Heiner Müller und Bernd Wilms. Der DDR-Dramatiker war seiner Zeit voraus und daher ein eher unbequemer Prophet und Zeitenpendler zwischen Ost und West, der sich nach dem Mauerfall mit der Kapitulation seines gewohnten Gesellschafts- und Kultursystems konfrontiert sah. Der zweite hingegen musste, wie die Autorin sehr eindrücklich erörtert (S. 245ff.), während seiner von 2001 bis 2008 währenden Amtszeit als Intendant des Deutschen Theaters im Jahr 2004 dem Vorwurf entgegnen, unangemessene Qualitäten und DDR-Kulturkenntnisse zu vertreten, was sogar seine Position gefährdete. Hier stellt sich sogleich die Frage nach der Beziehung zwischen Resilienz und der politischen Dimension des Theaters ein Aspekt, der schon von Hans-Thies Lehmann in seinem Buch Das politische Schreiben eingehend untersucht worden ist (vgl. Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann, Lehmann 2002, S. 21ff.), und der hier 20 Jahre später unter neuen Gesichtspunkten erneut analysiert wird. 

Im ersten Kapitel erklärt die Autorin den Modus Operandi, der auf vier Ebenen basiert: 1. die Hausdramaturgie; 2. die Textanalyse; 3. die mit Abbildungen bereicherte Inszenierungsanalyse; 4. das diskursive Eigenleben des Stückes.

Im Vorspann des Dokumentarfilms Die Zeit ist aus den Fugen von Christoph Rüter, der die Proben und die Uraufführung von Hamlet/Maschine zwischen August 1989 und März 1990 im Kontext der politischen Ereignisse am Deutschen Theater darstellt, ist folgendes Zitat von Heiner Müller zu lesen: „Die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich nur manchmal, und wenn man Glück hat, entstehen Funken” (Rüter 2009, S. 6). Müllers Bearbeitung des Shakespeare’schen Materials ist zweifelsohne eine Chiffre für das Jahr 1989, genauso wie der Dramatiker selbst eine zentrale Rolle am Deutschen Theater der Wendezeit spielte (Von 1988 bis 1991 wurde am Deutschen Theater eine Müllers-Trilogie aufgeführt: Lohndrücker, Hamlet/Machine und Mauser).

Eben jenem Funken und Einbruch der Zeit in Müllers Drama (vgl. S. 65) ist der erste Teil des hier besprochenen Buches gewidmet. Speicher schildert die Zeit des Aufstandes die berühmte Demonstration vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, an der das Ensemble des Deutschen Theaters nebst vieler weiterer Künstler und Intellektueller (s. Heiner Müller und Ulrich Mühe) unmittelbar beteiligt war, und schließt den ersten Teil mit der Betrachtung von Müllers persönlicher Resilienz ab. Von großer Bedeutung ist das Unterkapitel Die visuelle Dramaturgie von Hamlet/Maschine zwischen Klimakatastrophe, Raum-Zeit-Verzerrungen und Kriegsästhetik (S. 94ff.), in dem Erich Wonders postdramatischer Bühnenraum im Kontrast zwischen der Pracht der Renovierung des Theaters und der Implosion der DDR behandelt und anhand der Abbildungen von Christoph Rüter dargestellt wird.

Unter dem Motto „Wir können nicht bleiben, wie wir waren, und können nicht anders werden, als wir sind” begann Langhoff seine Intendanz nach der Wiedervereinigung. Auch wenn der Mauerfall für die Kulturpolitik des Deutschen Theaters keine glatte Zäsur mit der Vergangenheit bedeutete, ging mit dem Tod Heiner Müllers im Jahr 1996 und der Einrichtung der DT-BARACKE unter der Leitung des jungen Thomas Ostermeier (Absolvent der Ernst-Busch-Hochschule, 1905 von Max Reinhardt gegründet und bis 1981 Fachschule und später Schauspiel Hochschule der DDR) eine erste Phase des progressiven Abbaus der DDR-Gesellschaftsordnung zu Ende. Aus eben diesem Jahr stammt auch das zweite ausgewählte Stück, Mark Ravenhills Shoppen und Ficken (Shopping und Fucking, 1996), das erste Stück in-yer-face-Theaters für die Berliner Theaterhäuser: Ein boys play, das die Krise der Maskulinität und der Geschlechterrolle sowie die Glorifizierung des Konsums von Drogen (vgl. Trainspotting, Grungekultur usw.) der 90er Jahre porträtiert und die Sexualität in toto in Frage stellt. Wie die Autorin ausführlich erklärt, bietet das Stück aber keine klare Zäsur mit der Vergangenheit, sondern entspricht vielmehr dem, was bereits 1977 mit dem Ausruf “Heil COCA COLA” in Hamlet/Maschine prophezeit wurde: der Untergang der Utopien und der Ideale durch den Anbruch des Konsumismus und die Unmöglichkeit eines Dialogs mit der Geschichte.

Gary: […] Und ich glaube, vor langer Zeit gab es große Geschichte. Geschichten, die groß waren, dass man sein ganzes Leben in ihnen verbringen konnte. […] Also erfinden wir jetzt alle unsere eigenen Geschichten. Kleine Geschichten. Aber wir haben jeder eine. (S. 164) 

Was in diesem Theaterstück allerdings nicht anklingt, ist die politische Dimension der Figuren, die durch den Handel mit Waren, Drogen und Sex gedämpft wird. Wie die Autorin betont (vgl. S. 149), scheint das ursprüngliche Konzept Ostermeiers weit von einer Konfrontation mit der Gegenwartsdramatik entfernt, obgleich sich die BARACKE als parallele Wirklichkeit von dem Haupthaus differenzierte (S. 157ff.) und so zu einem international bekannten Beispiel für ein provokantes, staatlich finanziertes Theater wurde. Die seit 2001 andauernde Intendanz von Bernd Wilms bedeutete auch für das Haupthaus einen Bruch mit der ostdeutschen Identität und den Höhepunkt der Spannungen im Ost-West-Kulturkampf um das Deutsche Theater. Als drittes Stück wählt die Autorin Lessings Emilia Galotti, ein Werk, das offensichtlich den Traditionskanon trifft, da Lessing ein wichtiger Bezugspunkt der DDR-Kulturpolitik war. Wie Speicher sehr deutlich schildert, waren Tellheimers Bearbeitung und Manipulation des Textes und Stoffes der Emilia Galotti tiefgründig. Bemerkenswert an seiner Inszenierung ist das Finale, welches offenbleibt. Die Tötung der Protagonistin wird nicht dargestellt: Odoardo verlässt kraftlos und resigniert die Szene, während Emilia im Dunkel auf der Bühne bleibt und hinter einer Menge von Wiener Walzer tanzenden Tanzpaaren verschwindet. Dieses „Ende ohne Ende” ist der Autorin zufolge nicht als Umschrift von Lessings Stück zu verstehen, sondern als Beispiel einer „misslungene[n] Resilienz” oder reaktionären Lösung des Regisseurs (S. 244). Emilia wird weder gerettet, noch verschont. Die oberflächliche Harmonie, die während des Tanzes herrscht, ist eine Art Betäubung und Entproblematisierung des Stückes, in dem der Zuschauer keine Konfrontation mit Macht und Gewalt erlebt. Der Resignation von Emilia ihrem Schicksal gegenüber wird Bernd Wilms’ Resilienz nebeneinandergestellt, womit die Publikation abschließt. 

Ausgehend von den drei ausgewählten Texten wird mit der Verwandlung von Ophelia vom Opfer der Gesellschaft und blutigen Rächerin in eine sublimierte Emilia Galotti und durch das Beispiel der passiven und „betäubten” Lulu von Shoppen und Ficken die Zentralität der vielseitigen Krise der Frauenfigur ersichtlich; ein Thema, das in einem weiteren Kontext noch vertieft werden könnte.

Die Arbeit von Hannah Speicher ist nicht nur interessant, sondern auch wissenschaftlich innovativ und verbindet Theaterwissenschaften mit einer emotionalen Topographie Berlins. Dass Theater im ständigen Dialog mit Geschichte und Gesellschaft ist, ist schon seit langem ein Begriff, sowie die Tatsache, dass jeder Schauplatz aus Tradition und Geschichte eigentümlich ist; trotzdem sind bis heute nicht viele bedeutende Monographien den einzelnen Berliner Bühnen gewidmet, besonders nach 1989. 

Jedes der hier erwähnten Berliner Theater, welche alle untrennbar miteinander verbunden sind, spielen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte und einzigartige Rolle innerhalb der deutsch-deutschen Kulturgeschichte. Während dem Berliner Ensemble von Bertolt Brecht zahlreiche Essays und Bücher gewidmet sind, sind die publizierten Bände über die Geschichte der Volksbühne und des Gorki-Theaters (besonders die Werke von Diezte, Möckel, Müller und Niehaus), die eine interessante Parallele der Arbeit von Hannah Speicher offenbaren, fast ein Sonderfall. 

Genau über das Deutsche Theater erschien 1999 die Publikation Das Deutsche Theater. Eine Geschichte in Bildern von dem Dramaturgen Alexander Weigel, der die Geschichte des Theaters vom Anfang bis 1999 mittels Bilder und Zeugnisse rekonstruiert und so als wichtiger Vorläufer für das hier rezensierte Buch angesehen werden muss. Speicher führt Weigels Analyse weiter und bereichert sie, indem sie das Deutsche Theater als empfindliches Lebewesen betrachtet.

Der ohnehin große inhaltliche Wert der Arbeit wird durch sieben Interviews, die die Autorin führte, zusätzlich bereichert. Interviewpartner waren unter anderem Alexander Weigel, Dramaturg von Hamlet/Maschine (1990), Michael Ebert, ehemaliger Chefdramaturg am Deutschen Theater (19911996), und Klaus Siebenhaar, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit unter Thomas Langhoff.

Titelbild

Hannah Speicher: Das Deutsche Theater nach 1989. Eine Theatergeschichte zwischen Resilienz und Vulnerabilität.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
284 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783837656176

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