Die Reise auf den Berg

Shichirō Fukazawas „Die Narayama-Lieder“ erscheint in einer Neuübersetzung von Thomas Eggenberg

Von Gwendolin KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gwendolin Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Bergen Japans liegen zwei namenlose Dörfer, je nachdem, in welchem man sich befindet, wird nur vom „anderen Dorf“ gesprochen. Das Leben dort ist hart, geradezu archaisch: „Kein Essen!“, lautet die schlimmste Beleidigung, wer Nahrungsmittel stiehlt und dabei erwischt wird, wird für vogelfrei erklärt. Die Anzahl der zu fütternden Münder pro Familie ist streng zu überwachen. Neugeborene werden hin und wieder „entsorgt“ und im Alter von siebzig Jahren muss jede:r Dorfbewohner:in eine Reise auf den Narayama (wörtl. „Eichenberg“) antreten, von der es keine Rückkehr gibt.

Orin ist eine solche Siebzigjährige. Die Monate vor ihrer Abreise sind von der Sorge um das geprägt, was sie ihrer Familie zurücklässt. Da sind ihr verwitweter Sohn Tatsuhei und ihre Enkel, die ohne eine Frau im Haus den Alltag nicht bestreiten können, sodass eine neue Schwiegertochter gefunden werden muss. Geheiratet wird in den Dörfern eigentlich nur nach Alter. Orin hat Glück und findet im anderen Dorf eine passende Kandidatin. Sie kommt eines Tages einfach über den Berg hinüber, setzt sich zu Orins Familie an den Essenstisch und bleibt.

Generell gibt es in dem Dorf nicht viele Formalien. Die Regeln, an die sich gehalten wird und die das Leben dort prägen, werden als Lieder – die Narayama-Lieder – von Generation zu Generation weitergegeben. Durch ihr Singen kann gemahnt, bestraft und gemaßregelt, aber auch Ausgelassenheit und Freundschaft ausgedrückt werden. Sie sind den Dorfbewohner:innen unterschiedlich heilig. Während Orins Enkel sich einen Spaß daraus macht, die Texte umzudichten und sich darin über andere lustig zu machen, richtet Orin ihren gesamten moralischen Kompass nach ihnen. Generell unterwirft sie sich allen Traditionen und Ritualen mit einer Art würdevollen Demut. Sie bereitet sich Jahre lang auf ihre Reise auf den Narayama vor – die wohl größte und wichtigste Tradition, die im Dorf gepflegt wird –, webt eine Matte, sucht mühsam die unterschiedlichen Komponenten des Festmahls zusammen, das für die Zurückbleibenden am Tag nach der Abreise gehalten werden soll, und schlägt sich sogar die oberen Schneidezähne aus, damit sie auch wirklich wie ein altes Mütterchen aussehen kann. Sie sieht in ihrem Gang zum Narayama die letzte große, ehrenvolle Aufgabe ihres Lebens.

Dieses Pathos wird nicht von allen Dorfbewohner:innen geteilt. Am Abend vor der Abreise nimmt ein Nachbar Tatsuhei, der Orin auf den Berg tragen soll, beiseite und sagt, er müsse die alte Frau nicht wirklich bis zum Narayama bringen, er könne sich ihrer ruhig schon auf halber Strecke entledigen – ein Szenario, das Tatsuhei am nächsten Tag genauso bei einem anderen Dorfbewohner beobachtet, der seinen gefesselten und geknebelten Großvater einen Felsspalt hinunterstürzt.

Shichirō Fukazawas kurze Erzählung Die Narayama-Lieder ist geprägt von dieser Zweischneidigkeit: Die Traditionen und Rituale des Dorfes, die den Lesenden zum Großteil durch Orins ehrfürchtige Perspektive nahegebracht werden, erfahren eine mythische Erhöhung. Sie strukturieren sowohl Orins Leben, geben ihm Richtung und Sinn, als auch die Erzählung selbst. Die Liedtexte der Narayama-Lieder werden wiedergegeben, am Ende finden sich sogar Noten für zwei von ihnen. So hat man einen Text vor sich, der selbst immer wieder zyklische Strukturen aufweist und das zyklische, von Ritualen geprägte Leben im Bergdorf thematisiert und dabei stellenweise zutiefst melancholisch wird. Gleichzeitig wird diese Melancholie durch die anderen Dorfbewohner:innen und ihr den Traditionen gegenüber respektloses und teils grundsätzlich grausames Verhalten relativiert. So schafft es die Erzählung, Orins Demut und Traditionstreue nicht uneingeschränkt zu romantisieren – das Verhalten der alten Frau erscheint oft schlicht als naiv oder, wie im Fall der ausgeschlagenen Zähne, geradezu absurd. Am Ende der Lektüre bleibt zwar das Gefühl, dass Orin es als nahezu Einzige schafft, in ihrem harten, aufreibenden Leben im Bergdorf eine Form von Würde zu finden, doch über dem Text insgesamt liegt eine Art moralischer Gräue, die seine Stärke ausmacht.

Die Narayama-Lieder erschien ursprünglich 1956 und bescherte dem Autor den renommierten Debütantenpreis der Zeitschrift Chūō kōron. Shichirō Fukazawa, der zuvor vor allem als Gitarrist tätig war, sich mit diversen Nebenjobs durchschlug und noch nie eine Zeile veröffentlicht hatte, wurde über Nacht bekannt. Seine Erzählung traf unter anderem deshalb auf eine solche Resonanz, weil sie sich jeglicher Einordnung entzog und als vollkommen neuartig empfunden wurde. Nach diesem ersten Erfolg schrieb er weiter, führte aber dennoch ein ähnlich turbulentes Leben wie zuvor: Er gründete einen Bauernhof und ein Straßengeschäft, gewann Literaturpreise (und lehnte sie ab) und war nach der Veröffentlichung einer Erzählung mit dem Titel Fūryū mutan (1960, dt. Elegante Traumgeschichte), in der die kaiserliche Familie im Kontext einer Revolution umkommt, in einen politischen Skandal verwickelt, der zur Ermordung des Herausgebers der Zeitung führte, in der der Text veröffentlich wurde.

Fukazawas Werdegang und ein Interpretationsangebot der Narayama-Lieder werden in einem Nachwort von Eduard Klopfenstein, emeritierter Professor der Japanologie an der Universität Zürich, thematisiert. Zudem kommt in dem schmalen Band jemand zu Wort, der sonst viel zu häufig vergessen wird: der Übersetzer, in diesem Fall Thomas Eggenberg. Insbesondere für Leser:innen, die keinerlei Kenntnisse der japanischen Sprache haben, dürfte sein Nachwort zur Übersetzung spannend sein.

Titelbild

Schichirō Fukazawa: Die Narayama-Lieder. Mit einem Nachwort von Eduard Klopfenstein.
Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg.
Unionsverlag, Zürich 2021.
128 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005747

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