Ein gutes Leben, ja gerne – aber wie?

In ihrem Buch „Zwischen Gut und Böse“ loten Markus Gabriel und Gert Scobel aus, wie wir mit ethischen Problemen umgehen sollten

Von Erkan OsmanovićRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erkan Osmanović

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hitzewellen, Unwetter, Überflutungen – wir sind mitten in der Klimakrise. Doch muss ich nun auf den nächsten Flug Richtung Urlaub verzichten? Nur mehr reisen per Bahn? Und wie soll ich mit den Einschränkungen der Covid-Pandemie umgehen? Ja, wie können wir eigentlich gut handeln und richtig entscheiden? Gibt es eine Schablone dafür? Gert Scobel und Markus Gabriel entwerfen eine neue Ethik, auf die die Gesellschaft – und jeder Mensch – das eigene Handeln und Entscheiden in Krisenzeiten aufbauen kann: die radikale Mitte.

Der blinde Fleck

Das Buch ist das Ergebnis mehrerer Gespräche, die die beiden Philosophen während des zweiten Corona-Lockdowns in Deutschland führten. Vielleicht die Zeit schlechthin, um sich mit bestimmten Fragen zu beschäftigen: Wie können die Einzelnen, aber auch ganze Gesellschaften, richtige ethische Entscheidungen treffen? Wie finden wir bei all den extremen Positionen und Meinungen wieder zur Mitte? 

Ein erster Schritt liegt in einer einfachen Erkenntnis: komplexe Sachverhalte erschweren ethische Entscheidungen. Aber was macht eine Situation oder ein Problem komplex? Grob gesagt, sind das diverse Faktoren, Wechselwirkungen und Rückkoppelungen, die unserer linearen Sicht auf die Welt widersprechen. So bedeutet etwa der Klimawandel eben nicht nur mehr Umweltkatastrophen und Kriege um Ressourcen, sondern auch eine hohen Zahl an flüchtenden Menschen weltweit.  

Man sieht: Nicht nur die Verbreitung von Viren, sondern auch gesellschaftliche Umbrüche sind unberechenbar und entziehen sich vielleicht nicht in ihrer Gesamtheit, aber doch in ihrer feingliedrigen Komplexität unseres Blicks. Deshalb können wir die Verantwortung für unsere gesellschaftlichen Entscheidungen nicht an bestimmten Grenzwerten orientieren oder Algorithmen übergeben. 

Am Anfang und Ende steht der Dialog

Nicht nur das genaue Berechnen und Kalkulieren bringt uns Lösungen für den Umgang mit der Klimakrise, sondern das Akzeptieren des Graubereichs oder anders gesagt: die Akzeptanz der radikalen Mitte. Doch was soll überhaupt die „radikale Mitte“ sein? Durchschnitt? Mittelstand? Oder Gleichgültigkeit? Nein. Die radikale Mitte ist kein Zustand. Für Scobel und Gabriel bedeutet es eine bestimmte Praxis im Umgang mit komplexen Phänomenen. Ihr Buch propagiert einen Diskurs, der die Mitte zu einer Leerstelle macht. Nur so könne man im wiederholten Austausch miteinander Meinungen, Perspektiven, Wünsche und Abneigungen zu einem Thema in Beziehung setzen und danach auch Entscheidungen treffen.

Der Weg zur Mitte

Wie sieht nun dieses Konzept der radikalen Mitten in Bezug auf die Realität aus? Nehmen wir erneut den Kampf gegen den Klimawandel: Wie müssen wir unsere Lebensweise als Gesellschaft verändern, um einerseits die planetaren Grenzen nicht weiter auszureizen und andererseits nicht unsere Wirtschaftswachstum lahmzulegen? Wie sollen wir nun Vorgehen, um zu einer guten Entscheidung zu kommen?

Das Konzept der radikalen Mitte würde nun sagen: Wir sind beim Einstieg in eine Diskussion immer schon mittendrinnen und nie unvoreingenommen. Trotzdem sollten wir uns nicht sofort auf eine Seite der Argumentation versteifen, sondern innehalten und uns bewusst machen, dass jede Diskussion schon vor dem eigenen Einstieg in den Diskurs begonnen hat. Nehmen wir als Beispiel zwei unterschiedliche Extrempositionen mit Blick auf den Umgang mit dem Corona-Virus: Eine Position wäre nun „Zero-Covid – alles für zwei Wochen dicht machen und die Wirtschaft komplett runterfahren“, das andere Extrem wäre nun „Corona existiert nicht – weitermachen wie bisher!“.

Gabriel und Scobel würden nun vorschlagen, sich zwischen beide Positionen zu stellen. Darauffolgend würde man sich nun selbst daran erinnern, dass diese Diskussion schon vor der eigenen Teilnahme geführt wird. Im nächsten Schritt würde man sich nun die propagierten Wahrheiten beider Seiten anhören und abklopfen. Schließlich ginge es daran die Wahrheiten auf ihren Tatsachengehalt zu überprüfen – also mit der Realität abzugleichen – und im letzten Schritt eine Entscheidung zu fällen, welche Perspektive qualitativ besser ist.

Die radikale Mitte würde in unserem Beispiel nicht bedeuten, dass ich einige Ideen der Zero-Covid-Befürworter mit Vorschlägen der Corona-Leugner zusammenbringe. Im Gegenteil könnte ich nach Einbeziehung der Wahrheiten beider Streitposition und nach einem Abgleich mit der Realität – etwa durch wissenschaftliche Erkenntnisse – zum Schluss kommen, dass die Positionen der Corona-Leugner mir ethisch nicht vertretbar erscheinen und ich meine Entscheidung sehr viel näher an den Zero-Covid-Vertretern orientieren werde.

Sich auf eine solche Denkweise einzustellen, erfordert viel Arbeit. Ähnlich ist es auch mit diesem Buch. Der Dialog zwischen Gabriel und Scobel ist stellenweise anspruchsvoll und reißt einen doch mit. Gemeinsam mit den beiden nähert man sich nicht nur dem Denken großer Namen wie Kant oder Nietzsche, sondern auch dem Zauber des Zusammenkommens von Menschen, Gedanken und Ideen.

Titelbild

Markus Gabriel / Gert Scobel: Zwischen Gut und Böse. Philosophie der radikalen Mitte.
Edition Körber, Hamburg 2021.
220 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783896842879

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