Nachrichten aus dem nicht enden wollenden Zeitalter der Fische
Sasha Marianna Salzmann berichtet in ihrem zweiten Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ von kalten Zeiten
Von Helmut Sturm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs liegt ein merkwürdiger Widerspruch in manchen großen Werken der Literatur zwischen ihrer ästhetisch anspruchsvollen und ansprechenden Gestaltung und ihrem Inhalt, wenn der die Schattenseiten der Conditio Humana vorführt. Das ist ein Tatbestand, der auch auf den zweiten Roman der 1985 in Wolgograd geborenen und seit 1995 in Deutschland lebenden Sasha Marianna Salzmann, Im Menschen muss alles herrlich sein, zutrifft. Das Buch, das einem ein paar Stunden Lesefreuden schenkt, lässt an Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott denken, in dem sich der Erzähler beim Prozess gegen den Mörder, den Schüler T, an den Lehrerkollegen Julius Caesar erinnert:
Es kommen kalte Zeiten, höre ich Julius Caesar, das Zeitalter der Fische. Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches. // Zwei helle, runde Augen sehen mich an. Ohne Schimmer, ohne Glanz.
Salzmann weist nach, dass solch „kalte Zeiten“ nicht bloß auf die nationalsozialistischen Jahre der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränkt sind, sondern ihr Ungeist bis in die Gegenwart andauert. Berichtet wird unter anderem aus Gorlowka, Dnepropetrowsk, Sotschi, Mariupol, Kriwoi Rog und einem Pionierlager in der Ukraine, aus Moskau sowie Berlin und Jena in Deutschland.
Im Mittelpunkt der Ereignisse stehen zwei Familien und da besonders die Frauen: Lena und ihre Tochter Edi sowie Tatjana und deren Tochter Nina. Edi und Nina sind wie die Autor*in von ihren Eltern nach Deutschland gebracht worden und da aufgewachsen. Sie wissen über die Lebensumstände, unter denen ihre Elterngeneration aufgewachsen ist, nur wenig. Das erzeugt Probleme, „wie man das [je] eigene Leben voreinander rechtfertigen soll“. Dieses Nichtkennen der Familiengeschichte führt zu einer Leere, die die Suche nach einem Anschluss schwer macht: „Nimm mich, das bedeutet immer nimm mich mit meiner Kindheit.“ Wenn man über die eigene Kindheit kaum etwas weiß, erschwert das eine normale Persönlichkeitsentwicklung.
Sasha Marianna Salzmann gibt Edi und Nina eine Stimme, indem sie* beide als Ich-Erzählerinnen auftreten lässt. Über das Geschehen in der Ukraine und Russland wird aus einer Perspektive von außen berichtet.
Auf ein anderes Paradox dieses großen Romans werden wir bei der Erzählung über Lenas Freundschaft mit einem Mädchen namens Aljona in einem Ferienlager der Pioniere aufmerksam. Aljona ist das Kind eines Oberst und liest die im Tamisdat erschienene Satire Die blaue Fliege. Aljonas Credo lautet „Ein gutes Gedächtnis macht einsam.“ Sie wird dann (wie der Autor der Satire Valerij Tarsys bereits in den frühen 60er Jahren) wegen ideologischer Diversion mit Psychopharmaka behandelt. Die Episode zeigt, so sehr das Gedächtnis heilsam für die Entwicklung der eigenen Identität sein kann, so gefährlich wird es, wenn sich die Mehrheit dafür entscheidet, etwas zu glauben, wofür es keine Grundlage in der Realität gibt.
Im höchst korrupten und oft menschenverachtenden System der Sowjetunion entbehrte auch die zum Titel des Romans gewordene Aussage „Im Menschen muss alles herrlich sein“, die aus Tschechows Onkel Wanja entlehnt ist, jeder Grundlage in der Realität. Der Aufforderung, etwas aus sich zu machen, stand in der Realität Missachtung von Individualität, Korruption und Unterwerfung entgegen.
Der Roman, der vom Verhältnis der sowjetischen zur postsowjetischen Generation der Ausgewanderten in Deutschland erzählt, kann auch als ein Geschichtsbuch über die letzten fünfzig Jahre in der Ukraine und in Russland gelesen werden. Da sind die sozialen Spannungen, die Rivalitäten zwischen Ukrainern und Russen, Tschernobyl, Wunderheiler, die Auseinandersetzung um den Donbas, der Nationalitätenkonflikt im Kaukasus.
Da sind die Jahre der Perestroika, in der die Menschen, die auf der Verliererseite standen, durch den „Fleischwolf“ gedreht werden und Lena daran denken lässt, „dass ein Mensch nicht alt werden sollte, zumindest nicht hier, zumindest nicht in diesen Zeiten, in denen dir alle dabei zuschauen, wie du verreckst, und nichts dabei empfinden.“ Hier sind die Augen ohne Schimmer und Glanz, aber sie finden sich auch im Deutschland der Gegenwart. Da gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Berlin und Moskau: Die Menschen „schlendern über den Ku’damm oder über die Friedrichstraße und steigen über die Obdachlosen als wären sie Hundehaufen, an denen sie sich nicht schmutzig machen wollen.“
Und noch so ein Widerspruch. Mehrmals fordern Menschen aus der Gruppe der Ausgewanderten Eindeutigkeit. Man müsse sich für eine Seite entscheiden. Es ist faszinierend, wie die Autor*in diese Forderung geschickt ad absurdum führt. Edi, die Journalistin werden möchte, erhält dazu von ihrem Großvater, einem Lehrer und Pilzesammler, den Ratschlag: „Das ist eine der wichtigsten Eigenschaften beim Erwachsenwerden: weghören zu können.“
Im Übrigen sind die Beschreibungen nicht ohne feinen Humor. Gerade die Darstellung der jüdischen Gemeinde auf dem Geburtstagsfest von Lena wird nicht ganz ohne Schmunzeln zu lesen sein. Salzmann hat offensichtlich ein Herz für die Menschen, über die sie schreibt, und verzeiht so manchen Fehler.
Im Menschen muss alles herrlich sein ist ein vielstimmiger Chor, in dem Musiker*innen und Filmemacher*innen genauso vernehmbar sind wie die Literat*innen, denen am Ende des Romans auch Dank gesagt wird. Sie haben gemeinsam, dass sie an der Identität von Minderheiten interessiert sind und als Teil einer Minderheit für diese und sich eine eigene Stimme suchen. Diese Stimme hat auch Sasha Marianna Salzmann. Eine Stimme, der man viele Leser*innen wünscht.
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