Epidemie, aber in schön

Das Buch „Die großen Epidemien“ führt hübsch aufgemacht, aber inhaltlich oberflächlich durch die Medizingeschichte

Von Martin JandaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Janda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland im Februar 2020: Das RKI bestätigte auf seiner Internetseite, dass am 28. Januar der erste Fall mit dem (damals noch neuen) Virus SARS-CoV-2 durch ein Labor festgestellt worden ist. Es folgten viele weitere Infizierte und entsprechend eine offizielle Umbewertung des Virus‘ von harmlos zu gefährlich, drei Lock- bzw. Shutdowns, Befürwortung der als auch Aufbegehren gegen die Schutzmaßnahmen, die Entwicklung eines neuartigen Impfstoffes und der Beginn der Impfphase.

Deutschland im Februar 2021: Der Midas Verlag veröffentlicht Die großen Epidemien von der in Italien wirkenden Journalistin Letizia Gabaglio. Der vordere Klappentext des Buchs wird mit einer provokanten Frage eröffnet: „Corona und kein Ende?“ Eine berechtigte Frage, denn bis dato war, wie oben beschrieben, ein knappes Jahr von dem Virus und der von ihm ausgelösten Krankheit geprägt worden. Zudem deutete sich aufgrund der in Deutschland schleppenden Impfkampagne eine langanhaltende Zukunft mit den durch das Virus begründeten Schutzmaßnahmen an. Besagte Frage zielt also auf zwei Bedeutungsebenen ab: Die Ebene des künftigen gesellschaftlichen Lebens mit Covid und dem vergangenen Informationshaushalt über Corona. Und besonders die zweite Bedeutungsebene ist für das Buch hoch relevant: Wer sollte nach einem Jahr des medizinischen, virologischen und epidemiologischen Informationsüberschusses nun noch etwas über Epidemien (oder Pandemien) lesen wollen?

Dieser Problematik ist sich das Buch offensichtlich bewusst. Denn Die großen Epidemien ist kein Buch lediglich über Covid. Zwar ist der Bezug zu Covid überdeutlich, aber es werden vor allen Dingen historische epidemische Situationen beschrieben. „Die [sic!] ist kein Buch über Medizin, zumindest nicht nur“ trifft es daher sehr gut, da ein epidemisches Geschehen eben auch weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft hat und gewisse gesellschaftliche Aspekte deutlich zum Vorschein bringt. So nimmt das erste Kapitel den interessanten Gedanken auf, dass die Ausbreitung eines Virus‘ nicht nur ein virologisches, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen ist, da eine Epidemie nur durch das Zusammenkommen von Personen auftreten kann. Eine Epidemie lässt sich also neben der einhergehenden medizinischen Gefahr auch als Effekt einer gelungenen Zusammenführung vieler Menschen lesen. Hierbei handelt es sich natürlich um keine neue bahnbrechende Erkenntnis, doch es lohnt daran zu erinnern, dass Epidemien nur aus gesellschaftlichen Bedingungen erwachsen können.

Dass eine Intervention gegen eine Epidemie das Angehen bzw. Aushebeln eben jener gesellschaftlichen Bedingung des gelingenden sozialen Austauschs darstellt, wird im dritten Kapitel wieder aufgegriffen. An historischen Beispielen führt Gabaglio vor Augen, dass Isolation und Quarantäne von Infizierten bereits im 14. Jahrhundert praktiziert wurde. Und auch das social distancing sei keine Erfindung der jüngeren Vergangenheit: Grundsätzliches Abstandhalten während einer Epidemie stand bereits im Mailand des 17. Jahrhunderts auf dem Plan, um die Verbreitung von Viren zu vermeiden.

Gabaglio nutzt die 18 Kapitel für vielfältige historische und medizinische Beispiele über Auftreten und Umgang mit Epidemien. Thematisch reicht das von dem bereits Erwähnten über die erfolgreich bekämpften Pocken hin zum noch immer relevanten HIV. Das Buch folgt dabei einer strengen Struktur: Schlägt man ein neues Kapitel auf, bereiten die linke Buchseite mit einer nahezu ganzseitigen Illustration und die rechte mit einer überdimensionierten Kapitelüberschrift das neue Thema vor. Das Thema selbst wird auf den drei folgenden Seiten schnell abgehandelt, wobei es auf der vierten Seite mit einem Blick auf dessen Peripherie abgeschlossen wird. So schließt das zweite Kapitel über die Pest auf der vierten Seite mit einem einzigen Absatz über die Etymologie und das Fortleben der Pest in Form von Sprachbildern ab. Inhaltlich kann die Publikation damit vor allen Dingen als Hors d’œuvre verstanden werden, sprich: als Appetitanreger für Themen, die aufgrund des gewährten geringen Platzes nur arg verkürzt und komplexitätsreduziert angegangen werden können. 

Neben den sehr kurzen Kapiteln ist jedoch noch ein anderer Aspekt auffällig: die üppige sinnliche Ansprache des Publikums. Das Layout der Seiten, die Wahl von eleganten Schriftarten und die sehr gelungenen Illustrationen von Maddalena Carrai erfreuen nicht nur das Auge, überdies bringt das hochwertige Papier einen haptischen Mehrwert. Auch wenn durchaus einige thematische Anregungen zu finden sind, zielt das Buch offensichtlich zuvorderst auf eine erfreuliche ästhetische Erfahrung ab. So wirkt es schließlich eher wie eine – zugegebenermaßen: hochwertige – Illustrierte.

Zwar wird inhaltlich deutlich vor Augen gehalten, dass sich Geschichte während einer epidemischen Situation offensichtlich wiederholt, da ähnliche, bewährte Strategien zur Vermeidung von Ansteckungen genutzt werden. Dennoch bleiben Fragen offen: Sind andere Phänomene, die im Kielwasser von Covid präsent sind, neuartig? Nicht verifizierte Verschwörungsnachrichten, massive Proteste gegen Maßnahmen, panoptistische Kontrollmechanismen und das Auseinanderleben sozialer Gruppen – eine andere Form des social distancing – bleiben weitgehend unberührt. Kontroverse Themen werden ausgespart, was gerade für ein Buch, das als nicht allein medizinische Lektüre angekündigt wird, ausgesprochen unergiebig ist. Allerdings ließe sich dieser Mangel vielleicht damit begründen, dass die genannten ausgeklammerten Phänomene in Italien weniger präsent sind als in Deutschland.

Deutschland im Oktober 2021: Wem lässt sich dieses Buch nun ans Herz legen? Insgesamt ist es ein attraktives Buch mit kurzen, schnell zu lesenden Kapiteln ohne zusätzliche Brisanz, die dem Thema naturgemäß ob der momentanen Situation innewohnt. Der dünne Inhalt, das Umschiffen von Kontroversen und die ästhetische Güte prädestiniert den Band  für einen dekorativen Platz auf dem Wohnzimmertisch oder für das Wartezimmer von Arztpraxen. Letzteres passte nicht nur thematisch, sondern würde auch der psychischen Gesundheit der Wartenden dienen. Denn Letizia Gabaglio beweist, dass die Menschheit noch jede Epidemie und Pandemie überlebt hat. In diesem Sinne: Bleiben Sie biopsychosozial gesund!

Titelbild

Letizia Gabaglio: Die großen Epidemien. Geschichte – Gegenmittel – Impfstoffe.
Mit Illustrationen von Maddalena Carrai.
Midas Verlag, Zürich 2021.
128 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783038765417

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