Der Berg ruft

In „Berge im Kopf“ folgt Robert Macfarlane dem Rausch der Höhe

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendetwas löst er wohl in jedem aus, der Berg, eine steingewordene Ewigkeit zwischen Himmel und Erde. Seine unverwüstliche Erhabenheit scheint auf den Betrachter überzugehen. Denn, spüren wir nicht bei seinem Anblick Ruhe, Kraft und Unendlichkeit? Wir meinen mit ihm eins zu werden, während wir ihn eingehend bestaunen, uns auf ihn einlassen. Das Erhabene versetzt uns in eine besondere Stimmung. Bei Kant heißt dasjenige ,erhaben‘, was „schlechthin groß ist“, was „über alle Vergleichung groß ist“, und was dabei das Gemüt auf angenehme Weise bewegt. Können wir von einer Erscheinung die wahre Größe nicht abschätzen, übersteigt sie unser sinnliches Fassungsvermögen, und befinden wir uns währenddessen nicht in ernsthafter Gefahr, berühren wir das Erhabene. Viele Bergsteiger scheinen der Bewunderung des Ewigen und Erhabenen unter dem Gipfelkreuz regelrecht verfallen zu sein. Zumindest was die Geschichten anbelangt, die Macfarlane von ihnen zu erzählen weiß. 

Ziel des Autors ist nicht zu beschreiben, wie Menschen Berge erklommen haben. Was vielmehr interessiert, ist, warum sie es taten; warum ein Berg solch starke Anziehung hat, dass Menschen sich dafür in Lebensgefahr begeben. Welche Empfindungen lösen die Berge aus und welche Gefühle rufen sie bei der Besteigung hervor? Überdies ist das Buch von der Prämisse geleitet, dass die Vorstellung vom Berg oder vom Gebirge und ihre Wirklichkeit divergieren. 

Macfarlane ist zwölf, als er durch die Bücher seines Großvaters das erste Mal für die Magie der Bergwelt entbrennt. Seitdem hat sie ihn nicht mehr losgelassen. In Berge im Kopf nimmt er uns mit auf dramatische Bergwanderungen, eigene wie überlieferte. Immer wieder geht es dabei um die unvergleichliche Schönheit von Naturaugenblicken und um die Zerbrechlichkeit ihrer bergaffinen Zeugen. Unvorhersehbare Wetterereignisse und tragische Unfälle säumen die Klettersteige. Und dennoch ist der Ruf der Berge nicht verhallt. 

Die fesselnd erzählten Klettererlebnisse bindet Macfarlane in die Kulturgeschichte des Alpinismus ein. Im 17. und 18. Jahrhundert war die wilde Natur des Berges nicht etwas, das man freiwillig aufsuchte. Die Bergwelt galt als gefährlich, einerseits aufgrund ihrer Beschaffenheit und andererseits da man sie von mit wilden und bösen Menschen behaust wähnte. Allenfalls durchquerte man sie. Um ihre Gipfel jedoch machte man einen Bogen. Alles Bestreben war auf eine urbare Landschaft ausgerichtet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Gipfel des Mont Blanc erstmals bestiegen und Mitte des 19. Jahrhunderts suchte man die Bergwelt aus wissenschaftlichem Forscherdrang auf. Schließlich nahm jedoch die karge Schönheit der Gebirgslandschaft selbst die Alpinisten für sie ein:

Die komplexe Ästhetik von Eis, Sonnenlicht, Fels, Höhe, senkrechten Abbrüchen und klarer Luft – was der englische Schriftsteller und Maler John Ruskin als die ,endlose Klarheit des Raumes, die immerwährende Reinheit des ewigen Lichtes‘ bezeichnete – empfand der Mensch des ausgehenden 19. Jahrhunderts unbestritten als prachtvoll.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb die Geologie Antrieb und wichtiger Teil des Bergsteigens. Die ersten Everest-Expeditionen wurden teils als Forschungsreisen finanziert mit dem Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Geologie und Botanik des Berges mit zurückzubringen. Bergsteigen geriet damit zur Möglichkeit, sich in den „Archiven der Erde“ umzusehen. Ein Streifzug durch die Erdgeschichte vermittelt uns tiefes Staunen über die „Tiefe der Zeit“, Zeit, die nicht in Stunden bemessen wird, sondern in Jahrmillionen, und über die Kräfte, die unter unseren Füßen gewirkt haben. Das Bergmassiv wird mit einem Blick in die „tiefe Zeit“ zu einem Fluidum, das zugleich den Betrachter auf einen „winzigen Punkt […] in den Weiten des Universums“ zusammenschrumpft. Dem Berg gegenübertreten, heißt, der Vergänglichkeit und Verformbarkeit ins Auge blicken:

Durch die Schauspiele der Geologie wird die Terra firma zur Terra mobilis, und wir werden gezwungen, unsere bisherigen Überzeugungen darüber, was fest ist und was nicht, zu hinterfragen. Wenn wir also dem Gestein die Macht zusprechen, die Zeit zu überdauern und ihre Tribute zurückzuweisen (durch Steinhügel, Steinplatten, Monumente, Statuen), dann stimmt das nur in Bezug auf unsere eigene Vergänglichkeit. Betrachtet man dies im Kontext des größeren geologischen Rahmens, dann ist Fels genauso dem Wandel unterworfen wie jede andere Substanz.

Auch sich aus dem Fels lösendes Geröll bezeugt Verformung und zeigt, dass ein Berg nur im relativen Sinne fest ist, es jedoch im absoluten nicht sein kann. Steinschläge in den Bergen sind eine Gefahr. Sie können spontan auftreten oder von vorausgehenden Kletterern ausgelöst werden und das Leben bedrohen. Macfarlane beschönigt nichts in der rauen Welt des Bergkletterns. Wie nah Leben und Tod beieinander sind, dafür finden sich in der Historie des Alpinismus viele Beispiele. Dennoch zieht das Erhabene der Berge mit einer Mischung aus Schaudern und Faszination beharrlich Bergsteiger an.

In den Schriften der klassischen Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts findet die Erhabenheit der Berge das passende „Vergrößerungsglas“. Der Hype um das Erhabene führte dazu, dass Menschen sich den Landschaften anders näherten. Man suchte in ihnen nun „intensive Erfahrungen“, wollte den Schauer einer (möglichen) Bedrohung erfahren, selbstredend ohne dabei tatsächlich in Gefahr zu geraten. Abenteuerliche Geschichten von Eis, Gletschern, Bergen, Stürmen und den Menschen dazwischen erzählt Macfarlane dramatisch:

Flüsse aus grünem Schmelzwasser toben und brüllen um die Füße der Dünen herum, um abrupt in den weiten, schwarzen Abflusslöchern zu verschwinden, die sie in den Gletscher gefressen haben.

Die Natur wird in Schilderungen wie diesen nicht einfach beschrieben, sondern zur Hauptdarstellerin eines Abenteuerfilms mit ungewissem Ausgang. Ob der Berg und seine wilde Natur den Eindringling am Leben lassen, ist nichts worüber allein das Geschick des Kletterers entscheidet. Das Bewusstsein über Ewigkeit und Verschwinden, so scheint es, bringt nichts so sehr ans Licht wie der betörende und gefährliche Rausch der Berge. 

Nichts, so schien es mir, konnte überdauernder, beständiger sein als dieses Bild aus schillerndem Eis und dunklem Fels – eine Szenerie, die es seit Ewigkeiten gab und die es auch weiterhin geben würde. Die Landschaft existierte jenseits von mir und über mich hinaus, ich war nur zufällig da, ein Zuschauer ohne jegliche Folgen. Nichts weiter.

Was wir sehen, wenn wir die Berge betrachten, so Macfarlane, ist immer auch kulturell geprägt. Wir sehen nicht nur das Gestein vor uns, sondern gleichermaßen die Assoziationen, die Kultur und Zeitgeschmack in uns evozieren. Kurz gesagt, wir sehen das, „was wir dort erwarten“. Unsere Zuschreibungen und Bewertungen formen die Wahrnehmung der Berge. „Wir lesen Landschaften.“ Unsere Lesart bestimmt auch den Wert, den die Berge für uns haben. Erfahrungen, Erinnerungen und Interpretationen formen unser kulturelles Gedächtnis über die Berge; sie formen unsere ,Berge im Kopf‘.

Dem französischen Philosophen Gaston Bachelard zufolge resultiert der Wunsch nach Höhe womöglich schlicht aus dem „universellen Instinkt“ den Raum zu erobern. Überdies assoziieren wir im Prinzip alles, was mit Steigung einhergeht, mit Fortschritt, also mit einer positiven Entwicklung. Ein Vorankommen „nach unten“ ist linguistisch betrachtet nicht vorgesehen. Macfarlane suggeriert, dass die Höhe für eine andere Sicht selbst auf eine vertraute Umgebung sorgt: „Das Land löst sich auf in abstrakte Muster oder unerwartete Bilder.“

Große Höhen ermöglichen eine erweiterte Perspektive: Der Blick von einem Gipfel macht stark. Auf gewisse Art löscht er einen aber auch aus. Das Bewusstsein wird gestärkt durch die erweiterten Fähigkeiten des Sehens, aber es wird auch angegriffen von der bedrohlichen Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit angesichts der großartigen Blicke auf Zeit und Raum, die von der Spitze eines Berges offenbart werden.

Die schier unendliche Weite und Größe des Raumes, die den Bergsteiger auf dem Gipfel erwartet, überträgt sich auf ihn. Entgrenzung wird zu einer euphorischen Erfahrung. Zugleich erkennt der Verstand sich selbst als ihr Gegenteil und signalisiert „Bedrohliches“ und gar „Bedeutungslosigkeit“. Indes ist des Menschen Sehnsucht nach Erfahrung von Unbegrenztheit, wie Berge und Höhe sie bieten, ungebrochen. In der Romantik wird der Gipfel zum Ort „der Kontemplation und der Kreativität“. Das weite Sehen wurde nicht nur visuell, sondern auch metaphysisch erhofft. Das Erklimmen dieses besonderen Raumes in Gipfelhöhe korrelierte mit der Hoffnung auf „Fernsicht“ und „Einsicht“.

In der Anziehung der Berge spürt Macfarlane den insgeheimen Wunsch auf, „etwas Ungewöhnliches oder Verborgenes zu kennen“. Während es den einen darum geht, Gott näherzukommen, bemühen sich andere darum, den Aberglauben alter Zeiten durch ihre Gipfelbesteigung auszulöschen. Insofern ist das Betreten des „Verborgenen“ mit den Intentionen des Entdeckers verbunden, die ihn in seiner Wahrnehmung des Ungewöhnlichen leiten. „Geistige und physische Erhöhung“ gehen dabei Hand in Hand. Die Gipfelwelt dabei als Abbild der Wunder der Schöpfung zu betrachten, gewann besonders unter dem Einfluss der Naturtheologie im 18. Jahrhundert an Reichweite. 

Der ,Berg im Kopf‘ ist sonach der Antrieb dafür, sich auf den Weg zu machen; allen Gefahren zum Trotz. Die Vorstellung davon was es an Verborgenem und Geheimnisvollem wohl zu entdecken gibt und die Sehnsucht nach Entgrenzung treiben den Bergsteiger an, der mystischen Anziehung zu folgen, die ihn „immer weiter nach oben zieht“ und für eine „Umkehrung der Schwerkraft“ sorgt. Die Losgelöstheit und Wildheit der Bergwelt ist damit auch ein Sehnsuchtsort, den technisierten und kontrollierten Alltag zurückzulassen und wieder zu erleben, was der Mensch ist. Das Bewusstsein dafür, was der Mensch ist, versteckt sich nicht in einer deskriptiven, theoretischen Antwort, sondern kann prinzipiell nur durch intrinsische Erfahrung begreifbar werden. Somit bietet das Buch nicht nur ein aufschlussreiches und spannendes Mäandern durch die Kulturhistorie des Alpinismus, sondern postuliert auch die Valenz eines tiefen Blicks in die Wanderkarte ,Mensch‘: 

Die meisten von uns leben doch die meiste Zeit über in Welten, die von Menschen arrangiert, thematisch gestaltet und kontrolliert werden. Man vergisst dabei, dass es Umgebungen gibt, die nicht darauf reagieren, wenn ein Schalter umgelegt oder eine Wählscheibe gedreht wird, sondern die ihre eigenen Rhythmen haben und ihre eigenen Regeln. Die Berge korrigieren diese Amnesie. Indem sie von stärkeren Kräften zeugen, als wir sie möglicherweise beschwören können, und indem sie uns mit weitaus größeren Zeitspannen konfrontieren, als wir uns vielleicht vorstellen können, widerlegen sie unser exzessives Vertrauen in das von Menschen Gemachte. Sie stellen tiefgehende Fragen über unsere Endlichkeit und die Bedeutung unserer Pläne. Ich denke, dass sie uns Bescheidenheit lehren.

Titelbild

Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Die Geschichte einer Faszination.
Aus dem Englischen von Gaby Funk.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
280 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575241

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