Einführung in eine Welt der Zuschreibungen
Heike Behrend berichtet selbstkritisch von der „Menschwerdung eines Affen“
Von Swen Schulte Eickholt
Wer sind wir eigentlich? Eine durch Smartphones exponentiell beschleunigte Globalisierung der Bilder und Lebensstile suggeriert uns täglich, dass unsere Art zu leben und zu denken die eigentlich gültige ist. Abweichungen finden sich nur noch im Extrem des Terrorismus, Fundamentalismus und anderen Ismen. Hat nicht der sogenannte arabische Frühling gezeigt, dass auch in den gefürchteten Ländern des Islam eigentlich nur Gewaltherrschaft die Massen daran hindert, so zu leben wie wir? Hat nicht auch jeder afrikanische Flüchtling ein Smartphone mit passendem Facebook-Profil? Im Grunde zweifelt doch niemand mehr an der zentralen Rolle der modernen Medizin, an der Bedeutung individueller Entfaltung des Selbst oder ‒ etwas kritischer ‒ an der postkolonialen Schuld der Industrienationen. Oder?
Heike Behrend legt in ihrer Autobiografie der ethnografischen Forschung einen selbstkritischen Bericht über ihre langjährige Forschungstätigkeit in afrikanischen Ländern vor. Und eines wird dabei besonders deutlich: wie stark Zuschreibungen, Vorerwartungen und Grenzziehungen den interkulturellen Kontakt geprägt haben und immer noch prägen. Das sind gleichsam Probleme unseres Blickes auf das Fremde; vielleicht ist aber noch zentraler, in welchem Maße wir von Selbstkonzepten und kulturellen Wahrnehmungsmustern geprägt werden, die sich durch ihre ständige Bestätigung völlig unsichtbar gemacht haben und erst dann irritierend zu Bewusstsein kommen, wenn sie durch eine abweichende Sicht der Dinge gestört werden.
Im kritischen Bewusstsein dieser Vorgänge kehrt Behrend die übliche Richtung ethnografischer Beschreibung um, indem sie sich zum Objekt der Ethnografierten machen lässt und zeigt, wie sie gesehen und benannt wurde. Die Menschwerdung eines Affen, die der Titel verspricht, zielt genau auf diese Beschreibungen ab, denn in ihrer Forschung in den Tugenbergen im Kenia der 1980er wird sie in schöner Umkehrung des kolonialen Blickes auf Afrika zum Affen degradiert. Der Affe ist für die Bewohner der Tugenberge ein Wesen an der Schwelle zum Menschsein, es hat seine ursprüngliche Wildheit noch nicht ganz überwunden. Entsprechend geringschätzig konnten die Ethnografierten bisweilen auf die europäische Forscherin herabsehen. Diese Form inverser Ethnografie rückt die Perspektive der Ethnografierten ins Zentrum. So hält Behrend fest: „Ich präsentiere mich dem Leser also weniger als autonomes Subjekt und Beobachterin, sondern vielmehr als sehr genau beobachtetes Objekt in einem Feld von Zufällen, Unsicherheiten, Konflikten und höchst unterschiedlichen Machtverhältnissen.“
1968 nach Berlin an das Institut für Ethnologie gekommen, hatte Behrend die ‒ rückblickend naive ‒ Hoffnung auf radikale Veränderung; nicht nur der bundesrepublikanischen Gesellschaft, sondern natürlich gerade der ethnologischen Forschung, die aus der Verstrickung ihrer kolonialen Schuld befreit nun im „Dienst von antikolonialen und antikapitalistischen Freiheitsbewegungen“ stehen sollte. Der Vorstellung einer „Rettungsethnologie“ entsprechend war Behrend auf der Suche nach unberührten Traditionen, auch damals schon ein ahnungsloses und ziemlich ignorantes Verfahren, wie Behrend selbstkritisch einräumt. Viel zu einschneidend sind die Spuren, die jeder Kontakt mit Fremden hinterlässt.
Die Staaten des postkolonialen Afrikas (Kenia war 1963 formell unabhängig) waren und sind geprägt von vielfältigen Verflechtungen mit der westlichen (und übrigen) Welt und eingebunden in die globalisierte Dynamik von Weltbildern und Wirtschaftsgütern. Innerhalb Kenias herrschten unterschiedliche Zeitlichkeiten; die Regierung selbst teilte das Land in ein „Davor“ und ein „Danach“ ein. Der Norden Kenias blieb von den neuen Strömen des Geldes ausgeschlossen und war Abbild überwundener Primitivität. Wenig verwunderlich, dass die Bewohner der Tugenberge die eigene Regierung als „chumbek“ bezeichneten, eigentlich eine Bezeichnung für die europäischen Kolonisatoren. „Das ‚post‘‒ in postkolonial“, wie Behrend feststellt, „erkannten sie nicht an.“ Vielleicht sagt diese unscheinbare Feststellung mehr über die Versuche der europäischen Akademien aus, postkoloniale Schuld aufzuarbeiten, die Subalternen sprechen zu lassen und diskursive Gerechtigkeit zu erzeugen, als zahllose Sammelbände. Denn aus welchem Grund sollten die Bewohner der Tugenberge die neuen Machthaber nicht einfach nur als neue Unterdrücker wahrnehmen? Die Ungleichzeitigkeit vielfältiger Modernen wird noch viel zu wenig berücksichtigt.
In anderen Feldforschungen wurde Behrend deutlich, dass auch Zeitvorstellungen, die den unseren diametral entgegengesetzt scheinen, durchaus noch lebendig sind. Etwa Ideen einer zyklischen Zeit, in der jedes Ereignis in die Wiederkehr des Gleichen einzuordnen ist, oder die Bedeutungslosigkeit von Armbanduhren, welche unseren Tag bis zur Unerträglichkeit genau segmentieren ‒ was Behrend in karikierender Weise in Gestalt eines kenianischen Lehrers gespiegelt sieht, der einen minutiös geplanten Tagesausflug leitet, dessen Zeitplan keine Abweichung gestattete. Im Blick zurück auf westliche Gesellschaften wird deutlich: Wir haben vergessen, wie wenig Zeit in einer historischen Perspektive vergangen ist, seit auch hierzulande Industrien und Schulen der Bevölkerung eine standardisierte Zeit aufzwängten und traditionelle Tagesabläufe segmentierten. Wie stark unser Leben und auch unsere Beziehung zur Welt seitdem einer neuen Zeitlichkeit unterworfen sind, wurde von Künstlern wie Charlie Chaplin oder Michael Ende noch kritisch hinterfragt. Ihre Radikalisierung durch voranschreitende Echtzeitkommunikation ist hingegen kaum noch jenseits von work-life-balance-Strategien Inhalt ernsthafter Kulturkritik.
Wie tief aber ist unsere Positionsbestimmung in der Welt kulturell geprägt? Eine alte Dorfbewohnerin in den Tugenbergen, der Heike Behrend ein Foto schenkt, auf dem sie zu sehen ist, nimmt es zwar höflich an, interessiert sich aber kaum dafür ‒ fraglich, ob sie sich überhaupt erkennt. Es ist nicht wichtig. Wer ich bin, wird hier nicht durch die Autobiografie geprägt, die in unseren Breitengraden jeder über sich erzählen kann, um zu zeigen, wie er geworden ist, was er ist. Wer man ist, wird durch die Position im Sozialgefüge bestimmt, durch die Blicke und Gesten der anderen. In wenigen Sätzen ist kaum zu umreißen, wie radikal anders auf die Welt geblickt wird, wenn die ganze Idee des autonomen Individuums fällt.
Ein Projekt an der ostafrikanischen Küste widmet sich der fotografischen Praxis vor Ort. Ist es schon interessant, dass Menschen dort immer ganz abgebildet werden und Fotos oft noch Fetischcharakter haben, so wird eine viel irritierendere Frage an die westliche Kultur gestellt, wenn eine Gruppe junger Künstler mit den Produkten des globalisierten Kunstmarktes konfrontiert wird. Nachdem Behrend kleinere Ausstellungen ihrer Fotos organisiert hatte, wurde die Gruppe zu einem Kunstfestival eingeladen und ihr dort aufgestelltes Atelier im „Likoni-Stil“ schaffte es, sich erfolgreich den Anschlägen auf das World Trade Center zu stellen, die wenige Wochen zuvor die Welt erschüttert hatten. Die eigentliche Irritation kam erst wesentlich später, als Behrend den jungen Künstlern den Bildband des Festivals überreichte. Hatte sie hauptsächlich die Fotos der Likoni-Fotografen betrachtet, waren die afrikanischen Künstler von den Werken ihrer westlichen Kollegen erschüttert. Zerstückelte, nackte, verwachsene Körper auf der Suche nach einem verlorenen Ich. Ihre höflich, aber deutlich ablehnende Reaktion auf das Geschenk stimmt Behrend nachdenklich: „[M]ich hatte ihr Blick auf einen Kunstbetrieb, der sich in der Überbietung von Tabubrüchen eingerichtet und den Schock kommerzialisiert hat, noch lange beschäftigt. Ich musste mich fragen, wie wir in unserer mondänen Kunstwelt dazu kommen konnten, solche Bilder freiwillig zu betrachten.“ Dass die Kunst nur jenseits von Moral und Anstand ihre Autonomie wahren kann, ist keine befriedigende Antwort auf die Abstumpfung gegenüber immer neuen Grenzüberschreitungen ‒ wie steht es mit dem Bild des sexuell und moralisch degenerierten Europäers, das wir mit so lauten Verweisen auf die Freiheit von Meinung und Kunst ablehnen, wenn wir uns solchen Reaktionen aufrichtig stellen?
Auch dieses Europa-Bild ist eine Zuschreibung – und nicht einmal die schlimmste. Ein sehr lesenswerter Abschnitt des Buches beschäftigt sich mit einem Forschungsprojekt in Uganda, das Behrend bis 2005 verfolgt hatte. Durch kämpferische Auseinandersetzungen an den eigentlichen Forschungen gehindert, wird ihr Interesse am Kannibalismus geweckt; die komplexen Implikationen dieses Phänomens, die Behrend spannend und informiert darzustellen vermag, lassen sich hier nicht nachzeichnen. Höchst interessant ist die Auseinandersetzung mit einer Praxis der Kannibalen-Austreibung der katholischen Kirche, die für den unbedarften Leser im ersten Moment absurd erscheint. Meint man, über die Eucharistie ‒ die tatsächliche Inkorporation Gottes ‒ den Kannibalismus mit dem Katholizismus zusammenzubringen, unterschätzt man die Komplexität synkretistischer Kulturmuster.
Während das Abendmahl empört vom Kannibalismus getrennt wird, weist der Glaube an die Beherrschung durch kannibalische Geister auf dem Christentum vorhergehende Glaubenssysteme. Dabei reicht auch hier schon die Zuschreibung aus, um einen verdächtigten Menschen zu einem Geständnis zu bringen, als Kannibale zu wirken: Wer als Kannibale bezeichnet wird, ist Kannibale. War der Weg vom Affen zum Menschen schon weit, zeugt der latent vorhandene Verdacht, Behrend selbst könnte eine Kannibalin sein, vom Scheitern der Vertrauensbildung in diesem Forschungsvorhaben. Doch noch viel eindringlicher wird klar, dass es nur ein kleiner Schritt von unserer scheinbar rationalen Sicht der Dinge in die Logik der Hexerei ist. Denn warum tritt Behrend wütend eine Anhäufung aus Kräutern und Steinen, die sie als Schadenszauber identifiziert, von ihrer Türschwelle? Bestätigt das nicht auf hintergründige Weise die Angst vor der Wirksamkeit dieses Angriffs und macht seine Bedrohung damit real? So bleibt am Ende einer sehr lesenswerten Autobiografie der ethnografischen Forschung die Einsicht in „die Relativität, Zirkularität und Unzuverlässigkeit [unserer] Begriffe und Konzepte“.
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