„Wie lesen wir Texte?“

Ein Gespräch mit „3sat Kulturzeit“-Literaturredakteur Michael Schmitt

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Michael Schmitt ist als Redakteur beim renommierten TV-Magazin Kulturzeit vor allem zuständig für Literatur. Für literaturkritik.de sprach Sascha Seiler mit ihm über den gegenwärtigen Stellenwert der Literaturkritik in Deutschland, seine Erfahrungen mit dem schwierigen Thema Literaturvermittlung im Fernsehen und über Literaturformate im Rahmen der Frankfurter Buchmesse.

 

literaturkritik.de: Könnten Sie uns zu Beginn kurz erzählen, was ihr Job bei Kulturzeit beinhaltet? Insbesondere in Bezug auf Literaturvermittlung.

Michael Schmitt: Kulturzeit generell hat einen breiten Themenbereich – als traditionelle TV-Sendung, aber auch seit langem im Netz –, der von Gesellschafts- und Kulturpolitik bis hin zu Rezensionen von Literatur, Theater, Musik, etc. reicht. Als Literaturredakteur erstelle ich einerseits Film-Beiträge und lade andererseits Gäste – vornehmlich Literaturkritiker – ein, mit denen wir über Bücher sprechen. Das ist schon seit Beginn ein wichtiger Bestandteil der Kulturzeit, weil es dafür sorgt, dass in der Sendung Kompetenzen und Meinungen miteinfließen, die in dieser Form nicht in der Redaktion vertreten sind. Diese Meinungen sollten aber auch nicht einfach abgefragt werden; der Gedanke ist, eine Art Forum zu bilden und innerhalb der fünf, sechs Minuten Gesprächszeit einen Austausch zu schaffen. Es ist also auch wichtig, die Gäste über Bücher sprechen zu lassen, die sie interessieren. Im Unterschied etwa zu älteren Radioliteraturformaten entstehen so auch Beiträge, in denen Rezensionen nicht einfach vorgelesen werden. Zudem ist es uns wichtig, einen breiten Stamm von Gästen unterschiedlichen Alters zu haben, um Variation zu bieten.

Die andere Seite meiner Arbeit besteht daraus, Magazinbeiträge selbst zu machen oder die von Kollegen zu betreuen. Also zu überlegen, was in die Sendung passt, Vorschläge von außen aufzunehmen, etc. Dieses Spektrum ist unter dem Gesichtspunkt der Berichterstattungspflicht relativ breit. Um sich zu etablieren, gibt es gewisse Dinge, die man besprechen muss. Aufgrund unseres Formats können wir allerdings weniger abdecken als beispielsweise die FAZ, in der jeden Tag bis zu drei Rezensionen auf einer Seite erscheinen; wir müssen eine vergleichbare Zahl von Beiträgen über Tage oder vielleicht sogar eine Woche streuen, weil auch viele andere Themen ihr Recht auf Sendezeit haben. Eine Sendung Kulturzeit mit fünf, sechs Beiträgen entspricht ja in etwa einer Seite der FAZ, die aber jeden Tag drei bis sechs Seiten Feuilleton zur Verfügung hat – das mal nur zum Vergleich.

Ein inhaltlicher Punkt, an dem ich recht früh zu arbeiten begonnen habe, ist die Integration von Kinder- und Jugendliteratur in die Sendung. Seit 1996 haben wir eine Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung und verweisen gegenseitig auf Themenseiten in der Zeitung bzw. auf die Tipps in der Kulturzeit. Wir feiern übrigens jetzt zur Buchmesse gewissermaßen „silberne Hochzeit“. Einmal im Monat haben wir drei Leseempfehlungen für Kinder und Jugendliche in unserer Sendung. Die Besonderheit hier ist allerdings, dass sich Kulturzeit als Sendung nicht an Kinder, sondern an Erwachsene richtet – man muss hier also ein bisschen spielen.

literaturkritik.de: Auf der Buchmesse sind Sie auch vertreten, oder?

Schmitt: Ja, das Team der Kulturzeit hat seit 1995 einige Aufgaben übernommen, die zuvor bei 3sat zwar gepflegt, aber nicht genau verortet waren. Beispielsweise übertragen wir bei 3sat live seit 1989 den Bachmann-Preis aus Klagenfurt. Das zu organisieren, Porträts der Teilnehmenden zu machen sowie die Übertragung selbst mit Gesprächen in den Pausen, ist auch Teil meiner Arbeit. Und ja, die Buchmessen-Programme kommen auch dazu. 3sat hatte lange Zeit ein eigenes TV- und Interviewstudio auf den Messen stehen, in das wir während der Messezeit Schriftsteller, Moderatoren und Publikum eingeladen haben. Deren Gespräche wurden dann zu längeren Messesendungen zusammengeschnitten. Mittlerweile gibt es den Stand nicht mehr und wir sind stattdessen beim Blauen Sofa mit eingestiegen. Zusätzlich gibt es in fast jedem Jahr Sondersendungen und Dokumentationen zu den Gastländern, auch unter Corona-Bedingungen. Am 23. Oktober läuft beispielsweise eine Dokumentation zu Kanada, die von zwei Kolleginnen, von Susan Christely und Nil Varol, gedreht wurde und die ich redaktionell betreut habe. Und in den zwei, drei Wochen vor der Buchmesse fallen natürlich auch jeweils Beiträge ab, die die Literatur des Gastlandes in den Fokus nehmen.

literaturkritik.de: Wie beurteilen Sie denn die Situation von Literatur im Fernsehen allgemein heutzutage?

Schmitt: Es wird ja immer darüber geklagt, dass früher alles besser war oder dass es prinzipiell schlecht ist. Ich glaube, wenn man die Gesamtminuten Sendezeit zusammenrechnet, kommt aber immer noch recht viel dabei heraus. Es gibt natürlich, wie im gesamten Buchmarkt überhaupt, eine Zuspitzung auf gewisse Namen. Wenn man sich dieses Jahr Sendungen anschaut, kommt man beispielsweise – die Namen sind grundsätzlich austauschbar – an Mithu Sanyal, Christian Kracht oder Christoph Ransmayr nicht vorbei. Die potenziellen Bestseller verdrängen in erheblichem Maß die jungen Autoren, die Debütanten und Nischenautoren im Ringen um Aufmerksamkeit. Das ist im Veranstaltungsbetrieb so – soweit es den zuletzt überhaupt gegeben hat –, in den Regalen von Buchhandlungen und natürlich auch in Fernsehprogrammen.

Das Fernsehen geht wahrscheinlich sogar noch stärker den Weg der Sicherheit. Es wird mit großen Namen gewunken, um Publikum zu generieren. Der Vorteil der Kulturzeit ist allerdings, dass wir von mehr Zuschauern geguckt werden als einschalten würden, wenn wir ein reines Rezensionsorgan, etwa ein Literaturmagazin wären. Wir haben achthundert Minuten Sendezeit im Monat und ein Großteil davon beruht auf Büchern: auf Sachbüchern, deren Verfasser Fachleute sind, die wir befragen – oder eben auf Literatur. Das ist unterm Strich mehr Sendezeit für Bücher als manche reine Literatursendung hat – und die Zuschauerzahl, die normalerweise zwischen 200.000 und 250.000 liegt, ist mitunter auch dreimal so hoch. Und die Leute schalten nicht weg, auch wenn sie speziell ein Literaturmagazin wahrscheinlich nicht einschalten würden.

Ich bin also nicht grundsätzlich pessimistisch, was die aktuelle Situation angeht. Es ist aber natürlich schon so, dass bei der Verbindung von Fernsehen und Literatur gewisse Eigenheiten mitwirken. Man muss aufpassen, dass die Literatur nicht „instrumentalisiert“ wird. Dass sie nicht zum Anlass degradiert, schnell über etwas anderes zu sprechen. Wenn beispielsweise mit amerikanischen Schriftstellern gesprochen wird, ist die Gefahr relativ groß, dass sie nicht nach ihrem neuen Roman, sondern nach Donald Trump, Joe Biden und Black Lives Matter gefragt werden. Das passiert auch anderswo, aber ich denke, es passiert im Fernsehen etwas häufiger.

Die zweite Gefahr, die Literaturberichterstattung im Allgemeinen betrifft, bezieht sich darauf, wie nah und plausibel man sich mit den zur Verfügung stehenden Gestaltungsmitteln mit einem Roman auseinandersetzen kann. Zum Beispiel mit filmischen Mitteln: Wie kann man darstellen, was die Fantasie dieses Schriftstellers ausmacht? Wir wollen ja keine Verfilmung machen, sondern einen filmischen Beitrag, eine filmische Annäherung an das, was im Roman steht. Es ist also eher eine Geschichte über eine Geschichte als eine direkte Auseinandersetzung oder gar eine Kritik. Wenn man Literaturkritik im Fernsehen ernsthaft betreiben will, geht das, denke ich, nur in Form eines Gesprächs. Sodass man demjenigen, der über einen Roman redet, dabei zugucken kann, wie er redet, und so wenig Ablenkung wie möglich von dem gesprochenen Wort hat. Also möglichst wenige Folien von Inszenierung zwischen dem Inhalt des Buches und dem, was darüber gesagt wird. Das ist, glaube ich, einer der Gründe, warum das Literarische Quartett bis heute diesen Ruhm hat.

literaturkritik.de: Sie sprechen von der Dominanz der großen Titel, eben erwähnten Sie auch „Berichterstattungspflicht“. Welche Möglichkeit haben Sie überhaupt, kleine Titel und belletristische Themen mitaufzunehmen?

Schmitt: Als wir 1995 angefangen haben, waren wir relativ froh über alles, was wir bekommen haben, um die Sendung füllen zu können. Wir haben bei Literaturkritikern, die wir beispielsweise von der Berichterstattung beim Bachmann-Preis schon kannten, angefragt, ob es Bücher gibt, die sie gerne besprechen möchten, für die sie aber vielleicht im Rahmen der großen Print-Feuilletons keinen Platz gefunden hatten. Nach ca. zwei Jahren, als sich die Sendung einigermaßen etabliert hatte, hatten wir dann aber das Gefühl, dass wir mit „nur Nische“ nicht weiterkommen.

Das hat vor allem damit zu tun, dass Kulturzeit eben kein reines Literaturmagazin ist, sondern zum großen Teil von Generalisten gemacht wird und sich an ein ‚common reader‘-Publikum richtet, also an Menschen, die sehr breite Interessen haben. Wenn dieses Publikum – und auch die Kolleginnen und Kollegen – nun in jeder Zeitung Artikel über die neuen Bücher von Jonathan Franzen, Mithu Sanyal, Daniel Kehlmann – diese Namen sind wie gesagt austauschbar – liest, stellt sich natürlich die Frage, warum es dazu bei uns nichts gibt. Dieses Wort „Berichterstattungspflicht“ hat damit zu tun, was außenherum passiert und woran man also auch gemessen werden kann. Und da wir zwar für eine TV-Kultur-Sendung viel Sendezeit zur Verfügung haben, aber dann doch mit wenigen Beiträgen jonglieren, ist das ein Kriterium, das sich leicht einengend auswirken kann.

Ein Faktor dabei ist sicher auch, dass wir eine tagesaktuelle Sendung machen. Da wir eine recht große Reichweite haben, bekommen wir Rezensionsexemplare und pdf-Dateien normalerweise frühzeitig und können Bücher behandeln, wenn sie herauskommen – aufgrund der limitierten Beiträge aber nur wenige. Was den Rest angeht, stellt sich dann nach einigen Wochen nach Erscheinung schon die Frage: Ist das jetzt schon durch? Wenn z.B. sechs Wochen zuvor bereits Rezensionen in der taz, der FAZ und der SZ gleichzeitig erschienen sind und wir erst jetzt etwas dazu machen könnten.

literaturkritik.de: Was für eine Rolle spielt Literatur Ihrer Meinung nach heutzutage noch in unserer Gesellschaft?

Schmitt: Klassische Literaturkritik, mit der ich noch großgeworden bin – ich bin intellektuell ein Kind der späten 70er, 80er Jahre, also beispielsweise noch vom ZEIT-Feuilleton eines Fritz J. Raddatz – war ein Medium der Gesellschaftskritik. Man hat fast ritualartig dem Autor und der Kritik  abverlangt, dass Literatur und Kunst der Gesellschaft gegenübersteht und sie kritisch durchleuchtet. Das ist ein enges Programm, aber wenn man das einmal aufgesogen hat, wird man es nie so richtig los.

Wenn man sich das heute anschaut, haben wahrscheinlich jüngere Redakteure wie etwa Simon Sahner von 54 Books recht, wenn sie sagen, es sei ein heute vor allem ein Medium des gesellschaftlichen Gesprächs. Es gibt die einst verehrten und zugleich verhassten Groß-Kritiker (meist waren es ja Männer) nicht mehr, jene „großen kritischen Denker“, deren Rolle so heute niemand mehr ausfüllen möchte oder könnte. Es ist ein großer Pool an Stimmen und Medien, alten wie neuen, entstanden, wo in anderen Zungenschlägen über Literatur gesprochen wird. Es ist also gewissermaßen zu einer Demokratisierung gekommen.

Ich glaube schon, dass es richtig ist zu sagen, dass Literatur immer noch ein Kommentar zur Gesellschaft und keine reine Unterhaltung sein sollte. Die eine große kritische gesellschaftskommentierende Instanz, auf die sich das Bildungsbürgertum beziehen kann, ist sie aber nicht mehr. Dafür sind zu viele andere Formen daneben getreten. Das ist vielleicht sogar gut. Man muss sich auch fragen, was von diesen großen Namen nach ihrem Ausscheiden aus dem Betrieb und dem Diskurs geblieben ist – es war immer nur Journalismus, den sie betrieben haben, also etwas, das dem Tag und der Stunde verpflichtet war. Es war eher selten auch Wissenschaft oder eben Literatur.

literaturkritik.de: Und wie sehen Sie das auf Seite der Literaturproduktion? Muss Belletristik immer weiter nivelliert werden, um evtl. einem geringeren Anspruch seitens der Gesellschaft zu entsprechen? Auch hinsichtlich des Konkurrenzangebots von Streamingdiensten und den Sozialen Medien. Oder kann sie die Position als anspruchsvolleres Medium, die sie vor vierzig Jahren vielleicht hatte, weiter halten?

Schmitt: Es gibt diesen Satz von Martin Hielscher aus seiner Zeit als Beck-Lektor, „man hat Wünsche an die Literatur, aber Literatur hat nichts zu sollen“. Dem stimme ich voll zu, ich will also keine Nivellierung der Literatur anordnen oder ähnliches – im Gegenteil. Ich glaube, es gibt Markttrends, die sich teils durch Corona verstärkt haben und die eine gewisse Nivellierung der Angebote an Literatur und das Wegbrechen von Nischen für experimentelle oder avantgardistische Texte zur Folge haben. Lyrik kann man noch so sehr propagieren, und als Jan Wagner den Leipziger Buchpreis gewonnen hat, hat man zunächst von einem „Lyrik-Boom“ gesprochen. Der hat sich aber in Form von Verkaufszahlen nie eingestellt. Es wird ein bisschen mehr über Lyrik geredet, aber es werden immer noch nur sehr wenige Gedichtbände rezensiert.

Ich glaube, der Markt, bzw. insbesondere das Marketing, setzt bei vielen Verlagen aktuell eher auf Konformität, auf „mehr vom selben“ beim Bedienen von Leserwünschen. Aber: Es gibt auch Verlage wie Guggolz oder kookbooks, die mit geringen Auflagen irgendwie über die Runden kommen und dabei natürlich viel Selbstausbeutung betreiben, das ist genauso wie in spezialisierten Buchhandlungen.

Die Frage ist aber auch: Wie lesen wir Texte? Nehmen wir sie bei ihrer Oberfläche? Nehmen wir einen Sally Rooney-Roman nach dem anderen und lesen ihn als schickes Porträt von Millenials und deren Problemen? Oder gelingt es uns in der Kritik, in der Berichterstattung und jedem Leser als Einzelnem, die Texte, einzeln oder auch einige zeitgleich erschienene parallel, auch mal gegen den Strich zu lesen? Unter ihre Oberfläche zu gucken und zu fragen: Was sagen sie uns denn wirklich? Das ist ja der eigentlich interessante Punkt und auch der, der im Tagesgeschäft so schwer zu erreichen ist. Das gilt für Zeitungen genauso wie für uns. Es ist der Punkt, an dem Essays und längere Texte interessant werden, die es aber in der Medienlandschaft schwer haben.

Ganz anderes Beispiel: die Romane von Tamara Bach, Kinder- und Jugendbuchautorin. Die sind überhaupt nicht politisch, anders als die ganze aktivistische Kinder- und Jugendbuchproduktion, die derzeit unter anderem Klimaschutz thematisiert. Trotzdem steckt in diesen Büchern unglaublich viel über gesellschaftliche Zustände – man muss es nur finden wollen. Und das gilt im Zweifelsfall für viele Romane, die wir als Unterhaltungsliteratur abtun. Welche Gesellschaftsentwürfe stecken da drin und welche davon schlucken wir möglicherweise, weil wir die Romane einfach als gute Unterhaltung hinnehmen oder verbreiten? Das ist interessant und da kommt man selten hin. Aber das ist vielleicht die Chance einer Institution wie Literaturkritik.