Eine Liebe in Deutschland

Mit „Kairos“ arbeitet Jenny Erpenbeck weiter daran, Vergangenem wie Verdrängtem eine Stimme zu geben

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man schreibt das Jahr 1986, als sich Anfang November und mitten in Ostberlin die 19-jährige Katharina und der DDR-Schriftsteller Hans begegnen. Er ist Mitte 50, verheiratet, Vater eines erwachsenen Sohnes, gut vernetzt im ostdeutschen Kulturbetrieb und sexuell äußerst umtriebig. Sie sucht noch nach ihrem endgültigen Platz im Leben, hat eine Lehre als Facharbeiterin für Satztechnik beim Staatsverlag begonnen, geht später auf seinen Rat hin als Praktikantin für Kostüm- und Bühnenbild ans Theater nach Frankfurt an der Oder und stürzt sich Hals über Kopf in eine Affäre, von der sie sich vom ersten Blickwechsel an das ganz große Glück verspricht. Aber schon in ihren Gedanken nach einer spontan verbrachten gemeinsamen Nacht werden die Unterschiede, wie er und sie in die Zukunft ihrer Beziehung schauen, deutlich: „Nie wieder wird es so sein wie heute, denkt Hans. So wird es nun sein für immer, denkt Katharina.“

Kairos – jener altgriechische Begriff für einen Moment, der günstig ist und ergriffen werden sollte, weil er Erfüllung verspricht – hat Jenny Erpenbeck als Titel über ihren vierten Roman gesetzt. Sie erzählt darin die Geschichte einer Liebe in Zeiten des ostdeutschen Systemwandels. Katharinas Familie – sie lebt bei ihrer Mutter und derem neuen Lebensgefährten, hat aber noch eine gute Beziehung zu ihrem Vater, der als Professor an der Leipziger Universität tätig ist – zählt zum Intellektuellenmilieu. Hans ist in der Literaturszene der DDR fest verankert und verdient sich seine Brötchen mit Radio-Features für einen Berliner Sender. Auch er ist voll im Bann seiner neuen Liebe, hat sich allerdings von vornherein ausbedungen, sein bisheriges Leben mit einer kleinen Familie auf der einen Seite und gelegentlichen Affären auf der anderen weiterführen zu dürfen. Der größte Reiz an dem Mädchen scheint für ihn darin zu bestehen, dass sie noch ein relativ unbeschriebenes Blatt ist, dem er hofft, seinen Stempel aufdrücken zu können. Mit der Verantwortung für die Beziehung, die er ihr von vornherein zuschiebt – „Es geht so lange, wie du willst, sagt er.“ –, ist sie allerdings überfordert.

Die Ernüchterung kommt deshalb schneller als gedacht. Eine kurze Affäre mit einem Kollegen am Theater in Frankfurt genügt. Und just als es auch mit der DDR den Bach hinuntergeht, kündigt Hans der jungen Frau seine Liebe auf. Sich komplett von ihr zu trennen, vermeidet er allerdings. Stattdessen beginnt er, sie mit sadistischen Quälereien zu verfolgen, zwingt sie, seine mit dem Tonband aufgenommenen Beschuldigungen stundenlang anzuhören und ihm darauf zu antworten, stellt Fallen, weil er ihr die Einmaligkeit ihres Fehltritts nicht glaubt, und lässt keine Gelegenheit aus, sie mit seiner wachsenden Eifersucht zu verfolgen.

Jenny Erpenbeck hat ihren Roman in zwei große Teile aufgeteilt, die jeweils in 29 Kapitel (Szenen) untergliedert sind. Dem Ganzen sind ein Prolog voraus- und ein Epilog nachgestellt. Zwischen „Karton I“ und „Karton II“ hat sie ein kurzes „Intermezzo“ platziert, so dass man von einer strukturellen Untergliederung in fünf Teile sprechen kann und das Ganze ein wenig an das Fünf-Akt-Modell der klassischen Tragödie gemahnt. Dem entspricht auch, dass „Karton I“ Szenen enthält, die den Beginn der Liebesgeschichte und ihren weiteren Verlauf bis zu dem Punkt dokumentieren, an dem Hans einen Zettel findet, auf dem Katharina zu ihrer Selbstvergewisserung intime Details aus ihrer kurzen Beziehung zu Vadim, dem Kollegen am Frankfurter Theater, notiert hat. Es ist der Moment, an dem in der traditionellen Tragödie die Handlung umschlägt. In „Karton II“ finden sich die Leser dann entsprechend auf dem absteigenden Ast der auf ihr Ende zulaufenden Beziehung wieder.

Kairos wird aus der Gegenwartsperspektive erzählt. Seit der Geschichte mit Hans sind mehr als zwei Jahrzehnte vergangen, der Schriftsteller inzwischen verstorben. Ihr Versprechen, zu seiner Beerdigung zu kommen, konnte Katharina, da sie zum Zeitpunkt seines Todes in Pittsburgh weilte, nicht einhalten. Aber die beiden Kartons mit Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit – „Flachware das meiste davon, wie das in der Sprache der Archive heißt“ – werden kurz nach ihrer Rückkehr von den USA nach Berlin zum Anlass einer Rekapitulation jener Jahre, die voll Glück begannen und bitter endeten.

Wenn Erpenbecks Heldin jetzt die Dokumente aus jenen Jahren sichtet – zum Inhalt der beiden Kartons aus Hans‘ Nachlass gesellt sie ihre eigenen, in einem Koffer verschlossenen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit –, Hans‘ Bücher noch einmal liest, alte Notizbücher und Briefe von Freunden hervorkramt und der Vollständigkeit halber sogar einen Antrag auf Akteneinsicht bei der den Nachlass der Staatssicherheit der DDR verwaltenden Behörde stellt, ist sie inzwischen verheiratet und kann die Frage ihres Mannes, warum sie sich all das noch einmal antut, nicht beantworten. „Viele Abende und etliche Wochen […], den ganzen Herbst hindurch“ sichtet sie das Material: „Manchmal sieht sie sich selbst unter der Erde liegen und sieht gleichzeitig, wie sie sich ausgräbt.“

Es ist tatsächlich Archäologie, was Katharina betreibt, Ausgrabung einer vergangenen Geschichte, aber nicht zuletzt auch Befreiung eines untergegangenen Landes von den Schlacken und Verkrustungen, die die inzwischen vergangene Zeit aufgetürmt hat. Hinabtauchen in eine DDR in ihren letzten Jahren, mit deren Beschreibung die Autorin sich bisher immer schwertat und die sie sich jetzt endlich als Hintergrund für ihre tragisch endende Liebesgeschichte vorgenommen hat. Wobei der Begriff „Hintergrund“ wohl zu kurz greift. Denn in Kairos spiegelt sich das eine im anderen: die Geschichte der Liebe zwischen Hans und der jungen Katharina in der Geschichte des östlichen Deutschland zwischen 1949 und 1989.

Letzten Endes nämlich wiederholt Hans mit dem Verlauf seiner Liebesgeschichte auch noch einmal seine bisherige politische Biographie. Nachdem er, 1933, im Jahr der Machtergreifung der Nazis, geboren, einst ein stramm systemgläubiger Hitlerjunge war, ging er nach dem Kriegsende in den Teil Deutschlands, der ihm eine bessere Zukunft zu versprechen schien und in dem er „im Kreise anderer Nachkriegsjünglinge […] das Denken, das Hoffen und das Saufen lernte.“ Später – in den 1960ern hat er sich von der Stasi als Inoffizieller Mitarbeiter anwerben lassen, 1200 Seiten umfasst seine Täter-Akte, als Katharina sie sich im Epilog des Romans anschaut, um sich über diese Seite eines Mannes, der ihr im Verlauf ihrer Beziehung immer fremder wurde, ins Bild zu setzen – hat das Hoffen ihn verlassen, „nur Denken und Saufen sind übriggeblieben“. Letzteres praktiziert er bei seinen Begegnungen mit Katharina dann auch ausgiebig, immer eine Zigarette im Mundwinkel und von Anfang an mit dem besorgten Blick eines Mannes, der Angst hat, „in diesen jungen Augen ein alter Mann zu sein.“

Katharina hingegen, für die die östliche deutsche Republik nur eines von vielen Lebenshintergrundgeräuschen darzustellen scheint, sieht in Hans, der den Glanz einer anderen Welt wie einen Heiligenschein mit sich herumträgt, die Chance, aus ihrem bisherigen Leben herauszukommen und endlich die zu werden, nach der sie sich schon lange sehnte. Dass ihr Geliebter, je manipulativer, zynischer und sadistischer er im Laufe ihrer Beziehung wird, dem Staat, in dem ihre gemeinsame Geschichte beginnt, in dessen absolutem Anspruch und der Manie, alles über seine Bürger wissen zu wollen und Glück als nur in der Gemeinschaft erreichbar darzustellen, immer ähnlicher wird, merkt sie erst, als es fast zu spät ist.    

Die Geschichte der Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau wurde schon oft erzählt. Allerdings meistens aus männlicher Perspektive. In Kairos hingegen ist es einmal umgekehrt, hier dominiert die durch den Verzicht auf die Ich-Perspektive etwas zurückgenommen wirkende Erzählstimme einer jungen Frau. Und in deren Hoffnung auf die plötzlich in ihr Leben platzende Möglichkeit auf das ganz große Glück scheint auch ein wenig von all jenen Erwartungen auf, die viele vom Leben bisher nicht unbedingt verwöhnte DDR-Bürger in der Wendezeit mobilisierten.

Partizipieren am Glanz des Westens, reisen, kaufen, kaufen, kaufen und erst später nachdenken über das Morgen – eine Weile schien das gut zu gehen, auf Dauer freilich erwies sich diese Haltung als nicht zu konservierender Lebensentwurf, waren die „blühenden Landschaften“ Helmut Kohls nicht mehr genug für Menschen, deren zurückliegende Leben sich plötzlich wie entwertet anfühlten. Und tatsächlich: Ein „Ich […] gab es in keiner Einkaufszeile der westlichen Welt zu kaufen“, wie Katharina bereits feststellen musste, als man ihr kurz vor dem Mauerfall einen Besuch bei ihrer 80-jährigen Großmutter in Köln gestattete. Denn „wenn die Erfüllung der Sehnsüchte hier allein eine Frage des Preises ist, verwandelt sich dann nicht jegliche Sehnsucht in die Sehnsucht nach Geld?“

Titelbild

Jenny Erpenbeck: Kairos. Roman.
Penguin Verlag, München 2021.
384 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600855

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