Nichts für Elise
Warum die Erzählerin in „Eine redliche Lüge“ von Husch Josten so elegisch gegen einen emotionslosen Wahrheitsbegriff anspricht
Von Andreas Urban
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Schweizer Autorin Angelina Roth bemerkte vor einiger Zeit: „Es gibt zwei Arten von Büchern: mit Corona in der Geschichte und ohne.“ Eine redliche Lüge von Husch Josten gehört zur ersten Art – und versucht dabei, emotional aus dem Vollen zu schöpfen. Denn der Roman liest sich wie eine Elegie zur Frage, was uns fehlen würde, wenn Corona gesellige Zusammenkünfte dauerhaft unmöglich machen würde.
Zu diesem Zweck wagt der Roman den Sprung in die Zukunft und landet im Jahr 2051. Die Erzählerin – eine Schriftstellerin namens Elise – blickt auf den Sommer 2019 zurück. Der letzte Sommer vor Corona, wie die Erzählerin betont, als gesellschaftliche Treffen noch uneingeschränkt möglich waren und bevor es die ersten Kontaktbeschränkungen gab. Für Elise ist es auch privat ein einschneidendes Jahr: Sie hat soeben ihr Literaturstudium beendet und zieht in jenem Sommer bei einem mittelalten Paar in der Normandie ein, bei Margaux und Philippe Leclerc.
Da sie hier als Haushaltshilfe angestellt ist, wird sie Ohrenzeugin einer Reihe von Tischgesellschaften, zu denen die Leclercs auffallend häufig einladen. Einige der Gesellschaftsabende sind als gegenwärtige Berichte – im Präsens geschrieben mit verändertem Schriftsatz versehen – in die Rückschau eingeflochten. Diese Doppelbödigkeit der Form passt bestens zur Frage nach der Identität, die im Roman eine wichtige Rolle spielt (Elise ist Deutsche und Französin), nach Echtheit, Wahrheit und der Rolle von Lügen. Die formale Gestaltung stellt außerdem einen Konnex zwischen geselligen Tischgesprächen und literarischem Erzählen her, wie sich im Laufe des Buches zeigt.
Der Themenreigen bei den Tischgesellschaften ist groß, kein Wunder angesichts der hohen Anzahl unterschiedlicher Gäste, die sich an verschiedenen Abenden einfinden: Beim ersten Essen geht es gleich um Untreue, Wahrheit und Lüge. Später reden Gruppen mit anderen Teilnehmern über Themen wie Trump, Femizid, Traumdeutungen, Gewalt an Polizisten oder jene Nazi-Größe, die Hitler nach dessen Selbstmord verbrannt haben soll.
Da diese Gespräche nur Mittel zum Zweck und Auftakt für das eigentliche Anliegen des Buches sind, stört es auch nicht, dass die beteiligten Personen lediglich Abziehbildern gleichen und in der Regel rasch wieder aus der Geschichte verschwinden. Oder dass manche Aussagen der Gäste an der Oberfläche dahintreiben – und dabei schon mal bis an die Grenze des Peinlichen heranführen: „Der Geist ist dazu da, […] uns die Möglichkeit zur Entscheidung zu geben, den Trieb unter Kontrolle zu halten.“ Ein Satz wie aus einer Abiturklausur.
Wichtiger wird an einem der Gesellschaftsabende vielmehr die überraschende Wendung in der Geschichte, dass erstens die innige Verbundenheit der Leclercs – ein Musterpaar vor dem Herrn – auf einer Lüge beruht und dass es zweitens Philipp in einer weiteren Angelegenheit faustdick hinter den Ohren hatte. Doch warum ist Margaux, die von diesem zweiten Geheimnis nichts wusste, beim Einstürzen von Philipps Lügengebäude so derart fassungslos? Bei der ersten und grundsätzlicheren Lügengeschichte ihres Mannes vor vielen Jahrzehnten war sie ja Komplizin.
Eine redliche Lüge von Husch Josten beweist zweierlei. Zum einen können Lügen redlich sein, sofern Menschen damit etwas Gutes bezwecken möchten. Deswegen haben es Margaux und Philippe kultiviert, so häufig Menschen zu Gesprächen beim Essen einzuladen. Nur in ihren Geschichten gibt sich zu erkennen, warum Menschen tun, was sie tun, und worin ihre persönliche Wahrheit liegt. „Lügen kann Gnade und Verbrechen sein, kann andere retten oder ins Verderben stürzen“, sagt Elise einmal. Erst Geschichten ermöglichen folglich den Blick auf den Einzelfall, um die Frage nach Gnade oder Verbrechen zu entscheiden. Die Tischgespräche haben damit im Roman lediglich die Funktion, auf diese Ansicht des Paares aus der Normandie zu referieren.
Zum anderen nimmt die Autorin Josten diese Maxime wörtlich und belegt mit ihrem Roman, dass die Literatur, diese Geschichtenerzählerin und Lügedienerin, am meisten dafür prädestiniert ist, von der Wahrheit zu sprechen. „Wahrheit und Lüge […] sind Gefühle“, lautet Elises Schlüsselsatz hierzu. Diese Stelle deutet an, dass das Buch offen für eine Romantisierung und Emotionalisierung der Literatur plädiert, die in der Literaturgeschichte schon Stefan Zweig so ähnlich angewandt hat. Selbst mathematische Gleichungen seien für Elise übrigens nicht gefühllos, führt sie weiter aus. Deswegen bringe ihr ein neutraler Begriff der Wahrheit rein gar nichts.
So ist die Redlichkeit der Lüge im Leben von Margaux und Philippe moralisch und poetologisch zu verstehen. Während der gesamten Lektüre fragt man sich, wer bei den direkten Leseranreden, die immer wieder im Text platziert werden, eigentlich gemeint ist. Am Ende klärt es Josten auf und streut damit auf der Gegenwartsebene im Jahr 2051 einen weiteren Aha-Effekt ein. Spätestens an dieser Stelle fällt der Groschen, dass es in diesem Buch um Literatur geht, es ist eine Erzählung über das Erzählen. Allein schon in Tischgesprächen, im Zusammenkommen von Menschen, sieht Josten eine Vorform der Literatur. So ist es auch die mündlich wiedergegebene Erzählung von Elise in Eine redliche Lüge, die auf den Ursprung des literarischen Erzählens verweist: auf das Sprechen. Und diese Kultur sei von den Kontaktverboten während Corona bedroht – das will das Buch sagen.
So interessant die Konstruktion ist (die sich hervorragend für eine filmische Umsetzung eignet) – ein ungetrübtes Lesevergnügen bietet Eine redliche Lüge deshalb noch lange nicht. Und das liegt vor allem am Zweig’schen Manierismus. Der Bezug zu Zweig kommt nicht von ungefähr. Elise zitiert einmal aus dessen Buch Die Welt von Gestern, in dem der österreichische Autor über eine untergegangene Epoche voller Hochkultur und Intellektualität schrieb. Ist es Absicht oder Zufall, dass Elises Erzählung mit ihrem pathetischen Tonfall immer wieder nach der Erzählkunst des Fin de Siècle klingt? Wie auch immer dies zu verstehen ist – die Rechnung geht jedenfalls überhaupt auf.
Seltsam ist bereits der erste Satz, der als Behauptung zwar ein Spiel mit verbindlichen Aussagen initiiert, aber keinen authentischen Klang hat. „Wenig nur ist von grandioserer […] Tristesse als ein Seebad am Ende des Sommers.“ Solche Räsonnements und makroperspektivischen Kulissenbeschreibungen lassen durchaus eine Verbindung zur Schreibweise Zweigs erkennen.
Auch thesenartige Erkenntnisse über das Leben im Allgemeinen, zu denen sich Elise immer wieder hingerissen fühlt, gehörten ganz ins Repertoire Stefan Zweigs. Bei Josten hört sich das hochemotionale Sinnieren über das Wesen des Menschen so an:
Was Eindruck auf uns hatte, wird unter Mitwirkung unserer Sinne in unserem Gedächtnis abgespeichert, und wieder ist es allein das Gefühl, das uns Erinnerungen für unsere Biografie und Identität zusammentragen lässt.
Überhaupt klingt die Erzählstimme während des Großteils des Romans wie aus dem Off gesprochen. Diese Zeitenthobenheit mag dem elegischen Ton geschuldet sein, nervt bei der Lektüre aber fürchterlich. Davon befreit sich das Buch erst gegen Ende, als die Erzählstränge aus Vergangenheit und Gegenwart zusammengeführt werden.
Umgekehrt lauert die Gefahr von Pathos und Kitsch überall. Als Elise in der Normandie eine Affäre beginnt, liest sich das wie ein Rosamunde-Pilcher-Roman. Oder wo sie in der Nachbarin ihrer Herbergseltern eine gute Freundin findet, mit der sie auch schon mal schweigen kann, heißt es: „Wir trafen uns im Gleichklang unserer Stille“. Oje.
Ein Ärgernis eigener Art bilden die ständigen Vorausdeutungen der drohenden Katastrophe und die Ankündigungen einer überraschenden Wendung à la: „Er konnte nicht ahnen, dass diese Nacht tatsächlich auf verhängnisvolle Weise unvergesslich wurde.“ Der Roman ist voll davon. Solche Sätze wecken nur leider irgendwann nicht mehr das Interesse an der Story von Margaux und Philippe. Man will sie – auch wenn sie auf eine Metaebene abzielen und ein typischen Gestaltungsmittel des Erzählens imitieren sollen – irgendwann nicht mehr hören. Sie untergraben auch ihre eigene dramaturgische Funktion und verringern den Überraschungseffekt des Momentes, als schließlich die Geschichte hinter den Leclercs – übrigens recht zügig – aufgeklärt wird.
Und das Zweig’sche Pathos färbt letzten Endes auf den Versuch ab, den Roman mit einem elegischen Charakter zu versehen und eine untergegangene Menschheitskultur vor Corona heraufzubeschwören. Denn die Weltuntergangsstimmung, die Elise gelegentlich im Rückblick auf das Auftauchen von Corona im Jahr 2020 anstimmt, wirkt aus der gegenwärtigen Sicht des Jahres 2021, wo bereits vom Ende der Pandemie gesprochen wird, einfach nur weltfremd. Und das gilt leider für das ganze Buch, das sich an seiner emotionalisierten Ästhetik schlichtweg verhoben hat.
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