Kunden als Krätze, Apokalypse als Befreiung?

Volker Braun macht sich in „Große Fuge“ vielleicht Gedanken zur (Corona-)Weltlage

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sicher war es meine falsche Erwartungshaltung – und ich tue Volker Braun Unrecht. Dennoch fällt mir bei seinem Gedichtband Große Fuge eher Mauliges ein. Politische Lyrik ist immer etwas langweilig. Warum? Weil sie plakativ ist? Jein. Nicht das Plakative, allzu Eindeutige macht sie fad. Eher, dass sie meist nicht (mehr) auf der Höhe der Zeit ist – wenn sie auf altbekannte Muster und Ideen zurückgreift. Und ist das hier nicht der Fall? Große Fuge umfasst drei Teile. Römisch I ist titellos, hier gibt es zuerst einen Prosatext, der wohl einen Fieberwachtraum beschreibt. Das erste Gedicht verbrät alte Muster, dies nun, darf man behaupten, im Zusammenhang mit Corona. Titel: Nach unserer Zeit

EINE WEISSE YACHT  DER MAST GEBROCHEN   BEWE-
GUNGSUNFÄHIG  VOR MINDANAO DÜMPELND EIN
KÖRPER   FAHL   UND   BRÜCHIG    WIE      DRECKIGER
FEUCHTER   SAND   ZUSAMMENGESUNKEN  AM TISCH
NUR   NOCH   IN   FORM   UND   HALTUNG EINEM MEN-
SCHEN ÄHNLICH
So sehe ich die Menschheit treiben
In ihrem Fahrzeug Nach ihrer Zeit
Totenstille Ein Geist ist an Bord.

Oke, verstanden, so ungefähr: (a) Anspielung auf Bibel, Arche Noah, Floß der Medusa oder vielleicht Schatzinsel (Siebzehn Mann auf des toten Mannes Kiste)? Aber nur noch Tote druff, (b) also Apokalypse, (c) es muss schon die ganze Menschheit sein. Aber zumeist ist halt nicht die ganze Menschheit betroffen, sondern nur die armen Schweine. Falls man dies Gedicht (auch) auf Corona beziehen darf, dann zeigt doch grade diese Syndemie (die Interaktion zwischen Biologie [=Virus] und je spezifischen gesellschaftlichen, sozialen Aktionen und Reaktionen) wie jede Krise: nix Menschheit, sondern manche kommen gut weg, andere trifft´s härter, sowohl was die Letalität anbelangt wie auch die wirtschaftlichen Folgen. Die erste alte Idee also: Apokalypse, Weltuntergang, ganze Menschheit: nichts da. Corona ist keine Apokalypse, sondern eine Pandemie, die Welt wird wohl auch diesmal nicht untergehen (ob´s einem gefällt oder nicht). Nur am Rande: Es gibt zum Beispiel Hinweise, dass in ‚entwickelten‘ Ländern selbst akademisch ausgebildete ÄrztInnen mit Migrationshintergrund stärker von Tod durch Corona betroffen sind als andere (siehe dazu den Artikel von Abraham Verghese et al. im Journal of the American Medical Association). Einwand: ein Gedicht ist kein Zeitungsartikel und keine Statistik. Gegeneinwand: Ein Gedicht ist auf der Höhe der Zeit, wenn es nicht unterkomplexe Ideen benutzt, denn das verzerrt. Überdies: Geschichtsmythologie ist gefährlich, Geschichtsphilosophie: lässt sich drüber streiten. Geschichtskenntnis: ist am besten. 

Römisch II heißt Große Fuge. Aggregat K, geschrieben März/April 2020, Corona ist neu und eigentlich weiß man ja nichts, aber das erste Gedicht, Katarrhsis, weiß halt doch wieder viel: „Die Stadt ist ruhiggestellt / wie ein Pestpatient“ – Corona gleich Pest (ein Vergleich, der mehrfach gezogen wird). Wir befinden uns aber nicht im Mittelalter oder der frühen Neuzeit, sondern im 21. Jahrhundert. Sicher, das Amalgam aus Katarrh und Katharsis gibt eine interessante Wortverschmelzung und Anspielung. Hier die (schleimige) Entzündung der oberen Atemwege, dort die Reinigung (aber eben:) der Seele als Wirkung einer Tragödie. Und wieder: ist Corona eine Tragödie und wir sehen zu und werden irgendwie geläutert? Und gegen welche Götter wurde von wem gefrevelt? 

Auch das, was dann kommt, erscheint mir nicht so furchtbar neu, sondern altkommunistisch brummelnd. Wie viele ist Braun froh, dass endlich mal Ruhe ist, wie viele findet er die Ruhigstellung gut: „Entmenschte Straßen, wie befreit / von der Krätze / Der Kunden.“ Das mag man gefunden haben wie man will. Sind aber „Kunden“ Krätze, also jeder Konsument, also jeder von uns, nichts als ein juckender Hautausschlag vor den Kaufhäusern? Auch das mag man finden, wie man will. Jedenfalls ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl des Antikapitalismus, verkoppelt mit allzu naheliegender Infektionsmetaphorik. Da findet sich dann auch ein Zitat aus einem Canto Ezra Pounds: „The scientists are in terror“ – tja, die nun ja grade nicht. Sicher gab es unter den WissenschaftlerInnen auch einige, die wie aufgescheuchte Hühner wirkten, aber informierte scientists waren weder besonders überrascht oder in Schrecken. Innerhalb recht kurzer Zeit bekam man das geboten, was von Wissenschaft erhältlich ist: unterschiedliche Einschätzungen probabilistischen Wissens, (vorläufiges) Wissen, das korrigierbar ist – nicht mehr, nicht weniger. 

Und dann kommt´s: „während wir uns in Selbsthaft verfügten“. Wiederum, wenn Braun das so empfindet, dann empfindet er es so. Aber es ist halt plakativ, nicht zugespitzt oder wuchtig, sondern schlicht unterkomplex. Jedenfalls stand vor meiner Haustür kein Polizist mit MP, um mich am Gang zum Kiosk (Zeitung, Zigaretten, Brötchen) zu hindern. Auch U-Bahnfahren war soweit ok. Und dann noch: Jetzt regiert der Staat, was er sonst nicht tat: „Soviel Wesens sonst um nichts, Routinen Bluff / In den Parlamenten. Es ging um die schwarze Null / Er hat lange nicht nachgedacht, nichts zurückgelegt, keine / Gedanken gehortet.“ Das riecht fast ein bisschen, einerseits, nach Corona-Diktatur, andererseits danach, ein Staat möge ein denkendes Wesen sein: Staat als Organismus? Bitte nicht. 

Sicher habe ich Braun arg selektiv gelesen. Kann Lyrik etwas zu Corona sagen, was weder auf alte Pestliteraturmuster zurückgreift, noch bloß neugelernte Wörter (R-Wert, Inzidenz) abpinselt? Wahrscheinlich hatte ich gehofft, da würde sich jemand einen Reim auf etwas machen, auf den es noch gar keinen gibt. 

Römisch III schließlich heißt Tonkrieger. Gemeint ist wohl die Terrakotta-Armee im Grabmal des chinesischen Kaisers Qin Shinghuangdi (dort 210 v. Chr. beigesetzt). Manchmal wird es hier ambivalenter, differenzierter. Welche Tonkrieger betrachtet Braun? In einer komplexen Klage spricht er über, indirekt mit seinem Neffen Jens Braun, der 2015 im Alter von nur 53 Jahren wohl an Krebs verstarb (so mutmaße ich). Da wird es verunsicherter: „Vor allem keine Konsistenz, wenn es um Wahrheit geht / Die Welt ist ein Fragment.“ 

Der zweite Tonkrieger wird Braun selbst sein, der in „Leibesbeweis“ wegwerfend über die Wartung seines Körpers erzählt: „Nicht oft kommt es vor, daß ich ihm Liebe zeige / Nachlässig wie ich bin faul und gefühllos / Gerade dem Nächsten gegenüber, der Körper / Ist es gewohnt und wird nicht gewartet / Eine Durchsicht im Halbjahr Routine.“ 

Es folgt ein Dante-Gedicht, der sechste Kreis der Hölle beherbergt bekanntermaßen die Häretiker. Der nächste Tonkrieger ist Imre Kertész, es finden sich Zitate aus dessen Tagebüchern, hier wieder der starke Bezug zum Katastrophischen. Das nächste Gedicht, die nächsten TonkriegerInnen sind „Anatomie, Kleist, Meinhof“. Und das ist mir dann wieder zu rückwärtsgewandt, warum Ulrike Meinhof? Weil Braun wieder auf eine „sprachlose unverfrorene statische Macht“ eingehen kann. Gibt es die aber? Ist sie, um mit Luhmann zu sprechen, der Fall? Und steckt sie hinter allem? Gibt es also das große enigmatische Machtzentrum und Künste oder Wissenschaften müssten sein zerstörerisch-klandestines Tun aufdecken? Was der Fall ist, weiß doch keiner. Und, wieder Luhmann, was wohl mag dahinter stecken? „Gar nichts!“ 

Tue ich Braun unrecht? Sicher. Mögen andere sich einen anderen Reim auf Große Fuge machen. 

Titelbild

Volker Braun: Große Fuge.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
53 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518430217

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