Die Befreiung der Textweltmenschen

„Der Leselebenstintensee“ – Der letzte Roman des 2020 verstorbenen deutsch-georgischen Autors Giwi Margwelaschwili

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 2020 verstorbene deutsch-georgische Schriftsteller Giwi Margwelaschwili war mit seinem einzigartigen Werk so etwas wie ein Solitär im literarischen Betrieb. Seine Ausnahmestellung wird schon durch seine Biografie deutlich: 1927 in Berlin geboren, besuchte Margwelaschwili dort zwischen 1934 und 1946 verschiedene Schulen, Deutsch war somit seine erste Sprache, während Russisch und Georgisch erst später hinzu kamen. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er von den Sowjets in verschiedene „Speziallager“ verschleppt und hernach nach Georgien umgesiedelt. Dort arbeitete er nach seinem Philosophiestudium als Deutsch- und Englischdozent am staatlichen Institut für Fremdsprachen und wurde 1971 an das Philosophische Institut der Akademie der Wissenschaften berufen. Schon seit 1960 schrieb er auf Deutsch, jedoch „für die Schublade“. Erst 1990 konnte er nach Berlin zurückkehren und sein Werk konnte auch in Deutschland erscheinen.

In seiner Autobiografie Kapitän Wakusch – von der bislang nur die ersten beiden Bände im Berliner Verbrecher Verlag publiziert worden sind – wird seine ganz eigene Schreibweise deutlich, so im Bericht über seine Entführung durch den sowjetischen Geheimdienst:

Gegen acht Uhr hatte Wakusch sein Radio mit den neuesten Dixieländern (ein buntes Kurzweil der A.F.N. mit verschiedenen Militärjazzkapellen charlestonscher Vickers) abgestellt, um sich für einen Besuch bei Freund Hans Georg (der immer noch im Krankenhäuschen lag) fertigzumachen. Da klingelte es. Der Exmamassachlissimus machte auf. Wakusch, der durch den Schlitz einer Sprechzimmertür den hellen Wartburgsflur gut überblickte, sah einen untersetzten, dunkel gekleideten Mann mit einfachen, breiten kolchosischen Gesichtszügen über die Schwelle treten. Die flache Schiebermütze […] wies ihren Inhaber als ein Ostminster zugehöriges Individuum aus.

Auch in den folgenden Werken, vorwiegend Romane, Erzählungen und Novellen, erfand sich Margwelaschwili ein originäres Vokabular. Seine spezifische, manchmal an den Philosophen Heidegger erinnernde Terminologie, durchzieht sein gesamtes Werk, das bis zuletzt durch ein besonderes Motiv gekennzeichnet war: das Leben in „Buchwelten“. 

In Muzal. Ein georgischer Roman heißt es:

Ich bin eine Buchperson. Das bedeutet, dass ich eigentlich nur in einem Buch zu Hause bin, nur zwischen zwei Deckeln richtig existiere und statt einer Telefonnummer eine Seitennummer habe. Ab und zu – es geschieht nicht oft, aber auf ein paar Besuche im Jahr kann ich immer rechnen – steckt eine Realperson ihren Kopf zu mir herein. Ich sollte sagen zu uns, denn ich bin nicht allein in meinem Buch. Mit mir zusammen sind da noch hundert andere Gestalten. Wir bilden eine zahlreiche, auch ziemlich weit verzweigte thematische Verwandtschaft. 

Eine weitere Ich-Abspaltung des Autors existiert auch im Roman Kantakt (Berlin 2009), wo Margwelaschwili selbst zu einer Figur seiner Lese- und Lebenswelten wird. Dort liest er Kurt Tucholskys 1912 erschienene Erzählung Rheinsberg – Ein Bilderbuch für Verliebte und versucht, mit dem jungen Liebespaar in Kontakt zu treten, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie Figuren der Literatur sind, ihre Liebe in dieser Form aber unvergänglich ist:

Ich halte mich hier in Rheinsberg vor allem als Leser auf. Ich muß bitten, mich hier genau zu verstehen, denn das Rheinsberg, das ich jetzt meine, liegt in der Buchwelt. Es ist ein Buchweltbezirk oder es ist – wenn Sie wollen – eine kleine Buchweltstadt, in die ich mich lesend hineinbegebe. Dabei lasse ich mich führen. Jawohl: zwei junge Hauptpersonen in dieser Buchweltstadt – zwei Buchpersonen also – sind bei dieser Lesereise meine Führer. Wir bilden zusammen eine kleine Lesereisegesellschaft, denn die beiden – es sind zwei verliebte junge Leute (sie heißt Claire, er Wolfgang) – besuchen auch zum ersten Mal Rheinsberg. 

Posthum ist von Margwelaschwili nun der Roman Der Leselebenstintensee erschienen. Dass es einen Leselebenstintensee tatsächlich gibt, glaubt eine Gruppe von Buchpersonen, die – inspiriert von Thomas Manns Zauberberg – in die Buchberge aufbricht, um den See zu finden und vielleicht sogar die Nasenspitze des Verfassers zu sehen, der vornübergebeugt am Schreibtisch sitzt und diese Geschichte gerade schreibt. Unter Anleitung eines Lesers, einem Alter Ego des Autors, will die Gruppe im Roman herausfinden, wie sie alle zu ihrem buchweltlichen Leben, ihrer „Bibliobiographie“, gekommen sind. Dabei helfen ihnen Thomas Manns Figuren, die sich dank des Romanthemas und ihres Aufenthaltes in den Schweizer Buchweltbergen bereits in buchweltlichen Seinsfragen auskennen: 

Die Vision eures Leselebens als ein zu Tal stürzender Bergfluß könnt ihr vergessen. Denn sei stimmt einfach nicht. Als Buchpersonen sind wir – wenn man schon unbedingt darauf bestehen will, daß wir einem nassen Element entsprungen sind – aus Tinte geboren, und die fließt in der realen Welt nicht irgendwelche Bergwelten hinunter, sondern steht in einem Tintenfaß auf einer waagerechten und breiten Fläche, unter der man sich die Platte eines Schreibtisches vorzustellen hat, an dem unser Autor, Schöpfer oder Dichter – nennt ihn, wie ihr wollt – gesessen hat, als er uns ausdachte und aufschrieb. Wo wollt ihr also hin?

Eine reale Handlung gibt es in diesem nachgelassenen Roman mit seinen elf Kapiteln nicht mehr, sondern der Autor spielt parabelhaft noch einmal Fragen der Literaturtheorie durch.

Andere, sagen wir mal ›gewöhnliche‹, Buchpersonen, also solche, welche wähnen, Realpersonen zu sein und in der realen Welt zu leben, hätten sein Expeditionsziel nie verstanden und das ganze Sujet nur für einen albernen Mummenschanz gehalten, den ihr Verfasser sich mit ihnen erlaubt.

Margwelaschwilis Buchmenschen waren stets auf der Suche nach dem Verhältnis des Autors zu seinen Kopfgeburten, und auch in seinem letzten Roman beschäftigen sie sich quasi unter der Hand mit neueren Erzähltheorien. Die so erzeugte Doppelbödigkeit und Metafiktionalität betont das Prozesshafte literarischen Schreibens und macht dessen Künstlichkeit deutlich. 

In einem seiner letzten Interviews bekannte Margwelaschwili: 

Jedenfalls hat mich in allem, was ich da so gemacht habe, was ich so geschrieben habe, der Gedanke angespornt, die Textweltmenschen, wie ich sie so nenne, aus ihren Texten zu befreien. Damit meinte ich natürlich, dass wir von ideologischen Texten loskommen sollten und das war dann so hyperbolisch eben das Gegenstück dazu, nicht? Ich habe mich dann mit der Befreiung von Textweltmenschen aller Art befasst, ich sah sofort, dass ein unheimlich weites Feld existiert, die ganze Literatur wartet auf Befreiung, wenn man so will.

Bislang ist nur ein kleiner Teil von Margwelaschwilis Schriften in Deutschland publiziert worden. Sein Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Er besteht aus unveröffentlichten Manuskripten, Tagebüchern und Korrespondenzen, zwei Laptops sowie einer Bibliothek mit mehreren Filmrollen, auf denen abfotografierte philosophische Bücher zu sehen sind.

Die neue Erstveröffentlichung des Verbrecher Verlags lässt hoffen, dass noch weitere „Textweltmenschen“ befreit werden können, von einem Autor, der das Verhältnis von Leser und Gelesenem tief ausgelotet hat. „Buchpersonen“ waren für ihn Gefangene der jeweiligen ideologischen und politischen Systeme, sie damit – wie der Autor – lebenslang Gebannte. Wie in den anderen Büchern des Autors wird auch hier eine „ontotextologische“ Versuchsanordnung geboten, und die Leser sind aufgefordert, sich auf überraschende Leselebenswelten einzulassen.

Titelbild

Giwi Margwelaschwili: Der Leselebenstintensee. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2021.
400 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783957324948

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