Geschlossene Dorfgesellschaft
Polyperspektivisch porträtiert in „Vierunddreißigster September“ von Angelika Klüssendorf
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHilde und Walter leben in einem Dorf im Osten Deutschlands. Wie es heißt, tut scheinbar nichts zur Sache. Walter, ehemaliger Brigadeleiter der Forstwirtschaft, war sein ganzes Erwachsenenleben hindurch aggressiv gestimmt, bis ein inoperables Glioblastom ihn zu einem „zahmen Lämmchen“ mutieren lässt. Hilde kümmert sich um ihn bis zu dem Moment, als sie ihn nicht mehr ertragen kann und ihm daher kurzerhand, während er schläft, den Schädel mit einer Axt spaltet. Sie geht auf eine Silvesterparty und verlässt danach das Dorf. So der fulminante Auftakt, der einen Kriminalroman einläuten könnte.
Der Ermordete wird erst einige Wochen später gefunden, als Hilde schon längst über alle Berge ist. Nach seiner Beerdigung lebt Walter mit den anderen Toten des Dorfes auf dem Friedhof weiter. Aus Beobachtungen und Gesprächen der Lebenden erfährt er, dass Hilde ihn umgebracht hat. Um ihrem Motiv auf die Spur zu kommen, lernt er Tschuktschisch, die Sprache, in der seine Frau, die schon immer schriftstellerische Ambitionen hatte, ihre Gedichte verfasst und sogar veröffentlicht. Als Walter während seiner Streifzüge bei den Lebenden ein Exemplar des Bändchens erblickt, weiß er, dass es Hilde gut geht. Schließlich gelingt es ihm, eine Gedichtzeile zu übersetzen: „Nur Regen, der auf nichts mehr trifft“.
Dieser Vers resümiert das Klima der Desillusion, das Klüssendorfs dreigliedriger Roman in virtuoser Variation und Assoziationsstärke spiegelt. Im ersten Teil steht Hilde in ihrem Verhältnis zu Walter im Vordergrund, vier Kapitel betreffen wechselweise sie und ihn, im zweiten Teil alternieren kurze Kapitel zu Walter und anderen Dorfbewohner*innen, bevor im dritten Teil Walters Blick auf die ihn Umgebenden im Zentrum steht. In dieser formalen Trias erhebt sich, vor dem Hintergrund der doppelten existenziellen Grundperspektive, Walters Erzählstimme, die sich sowohl inner- als auch außerhalb des Geschehens im Dorf befindet. Von den Toten, deren Ordnung er langsam verinnerlicht, ist er als Berichterstatter auserwählt worden. In dieser Funktion rückt er so nah an die Dörfler*innen heran, dass sich der Eindruck wechselnder personaler Erzählmodi und eines damit verquickten polyperspektivischen Erzählens ergibt.
Auf diese Weise entstehen eine Reihe von ausgeklügelten und gerade in ihrer Kürze tiefgründigen Porträts. Da ist im ersten Teil des Romans Hilde, die sich nach 40 Jahren Ehe fragt, ob sie ihren Mann jemals geliebt hat. Kinder waren ihr und Walter nicht vergönnt, ihr Beruf als Arzthelferin erfüllte sie nicht, daher widmete sie sich intensiver Lektüre, lernte Tschuktschisch und begann zu schreiben. Walter habe, so erwähnt sie, zu Beginn der Ehe „zwei zart anmutende Lipome“ links und rechts auf der Stirn gehabt, nach der Wende seien diese zu zwei „wuchtigen Beulen“ angewachsen, so, als ob ihm „die Wut in die Stirn“ gestiegen sei. Walter selbst erfährt erst auf dem Friedhof, dass er vor der Übermacht der Wut freundlich und ausgeglichen gewesen ist. Mit Hilfe einiger Mitverstorbenen blickt er auf seine Geburt, seine Kindheit und seine Eltern zurück, bevor er sein Leben vor der Ehe und vor der Wende idealisiert. Seine Wut erlischt nun vollends, weicht Ernüchterung, gar Gelassenheit. In der Phase des Übergangs, seinem persönlichen „Purgatorio“, ist er auf der Suche, seine Stimme weicht zurück, wenn die Dorfbewohner*innen präsentiert werden, er aber dennoch als eine Art „dux“ Kontinuität beweist.
Zwischen Walters Reminiszenzen und zwischen die lebhaften Diskussionen auf dem Friedhof, in denen unter anderem eine „Verrückte“, ein „Dr. Freud“ und ein Steinkind, ein Lithopädion, das Gerda Engel, Hildes Mutter, jahrzehntelang in ihrem Bauch trug, auftreten, schalten sich 16 Dorfbewohner*innen mit ihren Mikroporträts ein. Damit spannt Klüssendorf einen weiten Bogen der Diversität, der von Wolfgang, dem Bio-Bauern, über Herrn Geist, der für die „Neuen aus dem Westen“ arbeitet, „die dicke Hubert“, die auf den Regisseur wartet, der das Leben ihres Großvaters verfilmen möchte, den Orthopäden Dr. Kies über Branka, die Wirtin, hin zu Röschen, 97 Jahre alt, auf den baldigen Tod hoffend, und den noch jungen Leo Panzer, Aushilfskraft auf Wolfgangs Hof, reicht. Hinzu gesellen sich unter anderen ein Mann, den jeder nur „Bipolarchen“ nennt, der Alkoholiker Heinrich alias „Schlucki“, der Hobbyfotograf „Eisenalex“, außerdem Helen, das „Rollschuhmädchen“, die Walters Leiche fand und das „stille Theater“ der „Gleichgültigkeit“ in ihrem Elternhaus diagnostiziert.
So unterschiedlich sie alle sind, so homogenisiert werden sie vom Dorf. Die jeweiligen Charakterisierungen könnten nahezu isoliert vom Gesamtkontext des Romans gelesen werden, weil sie sich mit ihrem Open End einer typischen Kurzgeschichte von Peter Bichsel oder Gabriele Wohmann annähern. Sie bieten „tranches de vie“, Tableaus, die einfach daherkommen, sich aber als labyrinthisch, von einem „Fallgrubensystem unterkellert“ erweisen, wie Wolfdietrich Schnurre zur Kurzgeschichte schreibt. Nur wenige Seiten umfassend sind Klüssendorfs Kapitel gerade in dieser Ökonomie äußerst dicht und lang in der Desillusion, die sie wiedergeben. Sie spiegeln die Paradoxie der existenziellen Grundsituation, die dem Roman immanent ist.
Zeitliche Dimensionen spielen im zweiten Teil des Romans kaum eine Rolle: iterativ sind die Vergnügungen von Leo, Hans und Eisenalex, ab und an einen Joint zu rauchen, oder die des Trommlers, immer nur „Smoke on the water“ zu performen. Durativ ist bei nahezu allen Beteiligten die Grundemotion der Wut, daraus resultierend auch ein dysphemisierendes Element, das mit den meisten Interaktionen der Dorfbewohner*innen einhergeht und andere Emotionen kaum entstehen lässt. Ein solches Klima der affektiven Frustration potenziert die Trostlosigkeit des Dorfes. Allein die Wut vermag ansatzweise als Waffe gegen die Verkümmerung und als Bollwerk gegen die Verzweiflung zu dienen, allein sie erleichtert, weil man sich, solange die Wut währt, nicht der nackten Existenz stellen muss. Daher verwundert es nicht, dass sich der verstorbene Walter seine Wut zurückwünscht.
Im dritten Teil des Romans rast die Zeit dann, wenn Walter, so wie Gerda Engel konstatiert, „angekommen“ ist. In einer Raffungsintensität, die Schnelle auf Dauer stellt und in der sich verlorene Hoffnungen konkretisieren, lässt der Ich-Erzähler Walter unterschiedliche Ereignisse Revue passieren. Weder ein Inder namens Krishna, der kurz vor Weihnachten in sommerlicher Kleidung im Dorf auftaucht, noch der Regisseur, der eine Stippvisite bei der ehemals „dicken Hubert“ und ihrem Sohn unternimmt, noch die Pastorin mit ihrer Weihnachtspredigt können die Menschen, die bleiben, aus ihrer Lethargie reißen. Weit und breit ist kein „deus ex machina“ in Sicht, eben nur Walter, den man als harmlosen „diabolus ex inferno“ etikettieren könnte.
Diese Hölle und das Leben zuvor ist der amorphen Masse äquivalent, die Antoine Roquentin, Sartres Protagonist aus Der Ekel, im Wurzelwerk eines Baumes erblickt und als Existenz definiert. Doch während sich Roquentin zur „Essenz“, zur Wesenhaftigkeit bewegt, bleibt diese den lebenden und den toten Dorfbewohner*innen versagt. Sie sind der Natur ausgeliefert, denn diese „macht ihr Ding, egal ob jemand weint“ und „die Erde macht weiter, sie braucht uns nicht. Die Menschheit ist nichts weiter als eine Episode auf diesem Planeten“. Auch Sätze wie „Kein Tod wird mich retten“ oder „Der Tod bleibt folgenlos“ indizieren eine opake Macht im Hintergrund und können nicht nicht an Sartres Geschlossene Gesellschaft erinnern.
Die Hölle indessen sind hier weniger die anderen als vielmehr die Bedingungen, unter denen man mit diesen interagiert, etwas Meso- und Makrosystematisches, das, soweit möglich, als von Individuen entkoppelt gedacht werden kann und sich diachron herausgebildet hat. Kaum erstaunlich, dass die direkten und indirekten Verweise auf den Nationalsozialismus und die deutsche Nachkriegsgeschichte hochgradig expressiv sind. Als etwa Herr Geist die Pastorin nach Buchenwald fragt, entgegnet diese lakonisch, dass man sich mit Buchenwald wohl „vergaloppiert“ habe. Nicht zuletzt die Spuren dieser Geschichte trägt das Dorf, das über verstörende Ereignisse ein Leichentuch ausbreitet. Logisch erscheint daher Walters Aussage, dass er einen doppelten Tod erlitten habe, was „die Verrückte“ auf den Punkt bringt: „Nun weiß ich endlich, was die Hölle ist – in dem Dorf, das man verlassen wollte, begraben zu sein“.
Nichtsdestoweniger möchte Walter das „Nachtprogramm“ auf dem Friedhof nicht missen, das unter anderem darin besteht, in die Träume der Lebenden zu schauen, von denen immerhin nicht alle folgenlos bleiben: Hilde ist aus dem Dorf geflüchtet, Branka sitzt auf gepackten Koffern, Helen geht auf ein Internat und Gabriela war in Paris.
Auch das Datum des 34. Septembers, das an Kästners Roman Der 35. Mai erinnert, leuchtet kursorisch als Perspektive auf, als Eisenalex meint, dass er und Leo einen Tag erfinden und an diesem „alles anders“ machen könnten. Nachfolgend fragen sich die beiden jungen Männer aber nur, warum sie geboren worden sind. Heinrich alias Schlucki, der Säufer, eröffnet des Weiteren eine märchenhafte Perspektive, als kurz vor seinem Tod „das Band von seinem Herzen springt“. Der Froschkönig tritt genauso in ironischer Negativbrechung auf wie Der 35. Mai. Weder Abenteuer im Schlaraffenland noch in einem jenseitigen Land wie Nangijala aus Astrid Lindgrens Roman Brüder Löwenherz, auf den Klüssendorf mit den Brüdern Leo und Pede Panzer alludiert, offerieren einen Ausweg. Auch Gabrielas Riesenschildkröte Coco stirbt, so wie die edelsteinbesetzte Schildkröte von des Esseintes aus Huysmans‘ Roman Gegen den Strich. Gedeutet werden kann sie ebenso als Vexierbild von Cassiopeia aus Michael Endes Momo.
Und dennoch: Mit einem Paukenschlag beginnend, dann ins tendenziell Handlungsarme übergehend, aber aus seiner Vielfalt lebend, konstruiert Vierunddreißigster September mit der kunstgewordenen Diagnose der ruralen und existenziellen Ödnis eine Fluchtmöglichkeit aus ebendieser. Die Assoziationsstärke des Textes fusioniert mit der typischen Klüssendorfschen Knappheit. Somit bleibt die Autorin dem unverwechselbaren Ton ihrer autobiografischen Trilogie (Das Mädchen, 2011; April, 2014; Jahre später, 2018) treu.
Darüber hinaus ordnet sie sich ein in das Genre des „Dorfromans“ und erhebt ihre Stimme in der „östlichen Campagna“. Eine Frau aus der schreibenden Zunft taucht als namenlose Figur, schlichtweg „die Schriftstellerin“, im Roman auf. Ein Kurzporträt ist ihr zwar nicht vergönnt, aber es kommt nicht von ungefähr, dass Hilde ausgerechnet zu ihrer Silvesterparty geht. Vergleicht man Vierunddreißigster September mit Juli Zehs Unterleuten, Alina Herbings Niemand ist bei den Kälbern und mit Dörte Hansens Altes Land sowie Mittagsstunde, dann offenbart sich eine Parallele in der schonungslos realistischen und entzauberten Darstellung des Dorflebens und insofern eine besondere Nähe zu Mittagsstunde, als auch Hansen die realistische Intensivierung ihres Stoffes transzendiert. Klüssendorf verleiht ihren „Dorfgeschichten“ zudem mit der Koexistenz der Lebenden und der Toten einen neuen Twist, geht damit weiter in Richtung Magie und Fantastik, um sich letztendlich in einer parabelhaften und surrealen Melange aus Existenzialisierung und Absurdisierung wiederzufinden.
Die drei Teile des Romans könnten die drei Akte eines absurden Dramas sein, das klimaktisch voranschreitet und im letzten Akt in eine Velozität mündet, mit der sich die Zeit nivelliert. Vielleicht reflektiert die makroformale Disparität, die Nähe zu anderen epischen Genres und zum Theater die inhaltliche Aussage. Es ist so, als ob Klüssendorf der Gattung Roman, die als Label herhalten muss, nicht traute. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Sinne einer Ununterscheidbarkeit von Leben und Tod erlangt eine besondere Tiefe in einem facettenreichen Sprachkunstwerk, in dem sich realistischer Roman, absurdes Theater und Kurzformen der Prosa mit Elementen des Märchenhaft-Fantastischen vereinen.
Vierunddreißigster September ist ein großartiges Buch, das den Blick in existenzielle Abgründe nicht scheut, das aber eher nicht mit der nihilistischen Moral der (fiktionalen) Schriftstellerin, „Das Leben ist nur eine Unterbrechung, ein kurzes Innehalten zwischen dem Nichts davor und dem Nichts danach“, enden sollte, sondern mit dem, was Walter im Totenreich begriffen hat: „Dass wir dem Leben einen Sinn geben müssen, weil es keinen gibt“.
Sisyphos lässt grüßen.
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