Isolation und Traumatisierung

Wovon Claire Fuller in ihrem Roman „Unsere unendlichen Tage“ erzählt

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 1970er Jahren nahm die sogenannte „Survival-Bewegung“ mehr und mehr an Fahrt auf. Ihre Anhänger*innen fürchteten sich vor einem sozio-ökonomischen Kollaps, der allein, so ein Leitgedanke, in dünn besiedelten Gebieten fernab der urbanen Zivilisation überlebt werden könne. Unsere unendlichen Tage, Claire Fullers bereits 2015 im englischen Original veröffentlichter Romanerstling, integriert die „North London Retreaters“, eine Gruppe von Überlebenskünstlern, die unter der Ägide des selbstbewussten und vermeintlich gefährlichen Oliver Hannington aktiv sind. 

Im November 1985 ist es gerade einmal zwei Monate her, dass die 17jährige Peggy Hillcoat zu ihrer Mutter Ute und ihrem Bruder Oscar nach London zurückgekehrt ist. Fast neun Jahre lang hat sie in einer abgelegenen Hütte im Bayerischen Wald verbracht, zu der sie mit ihrem Vater James aufgebrochen war, als ihre Mutter Ute, eine bekannte Konzertpianistin, sich auf einer Tournee in Deutschland befand. 

Nach einer Odyssee, die sie von London aus quer durch Europa geführt hat, gelangen Peggy und ihr Vater zu der Hütte, die ein Fluss und ein Bergmassiv von bewohnten Gebieten trennen. Als Peggy nicht mehr glaubt, dass sie sich auf einer Ferienreise befinden, behauptet ihr Vater, dass der Rest der Welt während eines Unwetters untergegangen sei. Nach dem ersten Winter, in dem beide fast umkommen, weil es ihnen an Vorräten mangelt und es bitterkalt ist, pendelt sich das Leben von Vater und Tochter im Rhythmus der Jahreszeiten ein. Zum Frühstück verzehren sie einen Brei aus gekochten Eicheln, sie jagen Kaninchen und Eichhörnchen, die sie nicht nur essen, sondern aus deren Felle sie Decken und Schuhe herstellen. Ein heftiger Konflikt mit ihrem Vater veranlasst Peggy, sich in die Berge oberhalb des Flusses zu begeben. Dort trifft sie Reuben, von dem sie ihrem Vater, der allmählich den Verstand zu verlieren scheint, nichts erzählt. Dann verwüstet der Vater die Hütte und wirft ein Messer nach seiner Tochter, wobei sie ein halbes Ohr einbüßt. Zurück bleiben ein toter Vater und eine traumatisierte Tochter, die ein Kind erwartet.

Im Verlauf des Romans nähern sich die Ebenen der erzählten Zeit und damit erzählendes und erlebendes Ich einander an. Während zu Beginn die erzählende 17jährige Peggy und das erlebende achtjährige Kind in einem Konkurrenzverhältnis stehen, dominiert am Ende die Stimme der traumatisierten Jugendlichen, die mit dem Akt des Erzählens womöglich einen kleinen Schritt ihrer Therapie vollzogen hat. Die Erinnerung setzt ein mit einem Foto von der Retreater-Gruppe, auf dem auch ihr Vater zu sehen ist. Sie schneidet sein Porträt aus, schiebt es unter ihre rechte Brust, „wo ihn die warme Haut festhielt. Ich wusste, wenn er dort haften blieb, würde alles wieder gut werden. Und ich durfte mich erinnern“. Vor dieser Selbstermächtigung zerschneidet sie „den seidigen Stoff zwischen den Körbchen ihres Büstenhalters“, wehrt sich gegen die äußeren Zeichen ihrer Weiblichkeit und regrediert in ihre Kindheit. Sie lässt sich ein auf das disjunktive Wechselspiel zwischen Zivilisation und Wildnis, Ordo und Chaos, Kultur und Natur, Mutter und Vater, das in ihrem Innern wütet. 

Peggys Mutter hat sich von Anfang an gegen das Prepperdasein ihres Mannes ausgesprochen. Sie, die es nicht duldet, wenn ihre Kinder den Bösendorfer Flügel berühren, hat in der Musik ihre Ordnung des Daseins gefunden – Ästhetik, Zivilisation und Kultur. Als vulnerabel erweist sich diese Ordnung dann, wenn Ute die Wut auf ihren Mann mit dem energetischen Inszenieren von Chopins Revolutionsetüden kanalisiert und, so stellt sich später heraus, eine Affäre mit Oliver Hannington eingeht. Letztendlich ist diese das Fanal für den Aufbruch ihres Mannes und die damit einhergehende Entführung der Tochter.

James hat Ute in der spontan übernommenen Aufgabe eines „Ersatzseitenumblätterers“ kennengelernt, als sie 25 und er 17 Jahre alt war. Nach der Hochzeit und Peggys Geburt verfällt der arbeitslose Vater den „North London Retreaters“. Inspiriert von Oliver Hannington baut er einen Atombunker, legt Unmengen an Dosen-Vorräten an und verbringt zwei Wochen mit Peggy im Garten, bevor er mit ihr loszieht. Seine Verwilderung, nachgerade Depravation, vollzieht sich in Etappen: Fische, die fliegen sollen; ein Drachen, für den er das Zelt zerstört; ein Feuer im Wald, in dem er Dinge verbrennt, die Peggy ans Herz gewachsen sind; das vermehrte Ansprechen seiner Tochter als Ute; der Wunsch, sich selbst und Peggy mit Knollenblätterpilzen zu vergiften und schließlich die Zerstörung der Hütte. Von Anfang an zwar wird James Hillcoat als kauziger Charakter stilisiert, es mangelt ihm aber insofern an Tiefe, als die Emergenz seiner Monomanie, seines Zwangs, in der Natur überleben zu müssen, rätselhaft bleibt.

Peggy, die zwischen Natur und Kultur oszilliert, erlebt die Faszination der Musik in der Abgeschiedenheit, als ihr Vater und sie die Tasten eines Klaviers nachbauen und diese mit Kieselsteingewichten auf einem Tisch arrangieren. Ihre Stimmen avancieren zu Instrumenten, wenn sie die Klänge von Liszts Klaviersonate „La campanella“ singen. Nichtsdestoweniger kann das „Glöckchen“ aus der Zivilisation nicht verhindern, dass sich Peggy progressiv an die Natur rundum assimiliert. „La campanella“ kann im Übrigen genauso als Mahnung gelesen werden wie das Kinderlied „Oh Alaya Bakia“, in dem der Vater seiner Tochter verspricht, sie zu verheiraten. Nach Peggys Menarche löst James das Versprechen aus diesem Lied auf gänzlich pervertierte Weise ein.

Sowohl die Beschreibungen der Natur als auch die Präsentation der verfallenen Hütte antizipieren die Spirale in die Katastrophe hinein: „Durch die Bäume ging ein Zittern, als lachten sie über mich“, in der Hütte „klafften dunkle Löcher wie in einem Mund mit ausgeschlagenen Zähnen“, „die Reihe der dunklen Stämme stand reglos und stumm da“ und die Hütte „erwiderte meinen Blick mit trauriger Miene“. Die anthropomorphisierte Natur, an die sich die Hütte angeglichen hat, spricht eine klare Sprache. Ähnlich ist es mit dem Eigenleben des Friedhofs, der an das Londoner Grundstück der Familie grenzt, kurz bevor Peggy das Foto ihres Vaters dort vergräbt: 

Der Friedhof schwoll an und kam näher, die Grabsteine blähten sich auf und wurden wieder flach. Das Gesicht meines Vaters, das ich immer noch unter meiner Brust trug, versengte mir die Haut.

Das, was in vielen Epitexten als Hauptthema des Romans klassifiziert wird, nämlich das eher unwahrscheinliche Szenario der jahrelangen Isolation, das Eremitendasein, dient Fuller vielleicht nur als Vorwand, um über das eigentliche Thema, den Missbrauch, schreiben zu können und dieses sukzessive offenzulegen. Erst als transparent wird, wer für den Mord an James verantwortlich ist und von wem Peggy schwanger ist, fügen sich viele Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild: Peggy spricht zu Beginn der Retreat-Phase regelmäßig mit Phyllis, ihrer Puppe, eine Reverenz an das jüngste Kind in Edith Nesbits Die Eisenbahnkinder und Symbol für eine Kindheit, die trotz mancherlei Widrigkeiten unbeschwert ist. Dann wird Phyllis begraben und ersetzt durch Reuben, den imaginären Gefährten, mit dem die Kohabitation detailliert beschrieben wird, weil der Bruch des Inzesttabus unsagbar ist und Peggy die Traumatisierung allein durch Dissoziieren überleben kann. 

Eine Anspielung auf Sexualität und den Vollzug der „Ehe“ enthält auch der Name „Rapunzel“ bzw. die Kurzform „Punzel“, wie James seine Tochter in der Wildnis nennt. Zu erwähnen ist darüber hinaus, dass Peggy sich nach ihrer Rückkehr nur an eine frühere Lektüre erinnert: Alice im Wunderland. Die Homologie von „Kaninchenbau“, in den Alice fällt, und Hütte ist kaum von der Hand zu weisen, mehr zählt hingegen, dass Lewis Carroll immer wieder einmal eine Neigung zur Pädophilie nachgesagt wird. 

Es ist nicht abwegig, in den Schilderungen der Atmosphäre und der Geschehnisse in der Einöde einen „sensus literalis“ und „sensus allegoricus“ anzunehmen. Der „magische, geheime Ort im Wald“, der die „Hutta“ sein soll, insinuiert nicht, so wie in Rotkäppchen, die Warnung vor Vergewaltigung, sondern die Tat selbst, somit die Transformation der Ordnung in das Chaos hinein.

Parallelen zu Marlen Haushofers Die Wand, die sich mitunter aufdrängen, greifen einerseits zu kurz, weil Haushofers Dystopie auf dem Narrativ des Untergangs der Welt rundum basiert, während Peggys Vater dies als Lüge konstruiert. Andererseits jedoch wird diese Lüge im Erleben des pubertierenden Kindes zur bitteren Wahrheit. Peggy ist isoliert in ihrem Ausgeliefertsein und ihrer Hilflosigkeit, entführt an einen Ort, wo sich lediglich Täter und Opfer befinden. 

Der mit dem Desmond Elliott Prize ausgezeichnete und mittlerweile in viele Sprachen übersetzte Text punktet mit der Konstruktion eines Geheimnisses, das erst spät aufgedeckt, auf das aber konsequent hingearbeitet wird. Unsere unendlichen Tage ist ein parabelhafter Roman der leisen Töne, dessen deskriptive Passagen manchmal ziemliche Längen aufweisen. Dieser Eindruck kann aber das Gesamtbild der dichten und polyvalenten Aussage nicht schmälern. 

Titelbild

Claire Fuller: Unsere unendlichen Tage.
Aus dem Englischen von Susanne Höbel.
Piper Verlag, München 2021.
320 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492058285

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