Es ist KOMPIZ: Sprachspiele des Nichtsprechens und des Verstummens
Friedrich Christian Delius fasziniert mit „Die sieben Sprachen des Schweigens“
Von Kai Sammet
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Eines Tages wäre die Geschichte der Jerusalemer Krawatte zu erzählen“, so beginnt Friedrich Christian Delius´ neues Buch, das klugerweise keine Untertitelgattungsbezeichnung (Roman oder so) trägt. Man darf diesen ersten Satz als Auftakt nehmen. „Eines Tages“ wären noch zwei weitere Berichte zu liefern, weil sie vor allem, aber nicht nur, über das Schweigen sprechen. Und das „Eines Tages“ klingt auch ein bisschen nach „es war einmal“, womit nicht nur das Märchen seine Wahrheit bekräftigt. Märchenhaft sind Delius´ Erzählungen nicht. Aber ein „es war einmal“ ist in ihnen verwoben. Sei es, dass sich Delius veränderte (Die Jerusalemer Krawatte), sei es, dass aus dem „es war einmal“ fast ein „er (Delius) war einmal“ geworden wäre.
Kann man über das Schweigen sprechen? Schon, aber ist da nicht der Witz des Schweigens weg? Vielleicht ist es aber so, wie es Wittgenstein über das Lügen sagt: „Lügen ist ein Sprachspiel, man muß es lernen wie jedes andere.“ Und da man nicht nicht kommunizieren kann, so wäre auch das Schweigen (auch, wenn man mit sich allein ist) ein Sprachspiel, das man lernen muss. Aber ist das nur ein Sprachspiel? Oder mehrere? Und wie viele dann? Delius listet in einer schlaflosen Nacht sieben Gründe für das Schweigen auf:
Schweigen wegen
Angst (vor Autoritäten, Urteilen)
Dummheit, Unwissenheit
Schüchternheit, Respekt
Verlegenheit, Unentschiedenheit
Überlegenheit (bess. Wissen, schlauer)
Faulheit, auch Denkfaulheit,
Macht (strateg. Vorteil, andere irritieren, Mitleid u. Interesse provoz.)
Dass der Pastorensohn Delius oder sein nächtlich gelockertes Gehirn die christliche Siebenzahl (sind die sieben Sprachen des Schweigens irgendwie das Pendant zu den sieben Todsünden?) dann doch fast aushebelt, zeigt sich am nächsten Satz: „Jetzt hast du das politische Schweigen vergessen, Du Trottel, oder gehört das zum Angstschweigen, und was ist mit den schweigenden Mönchen und den schweigenden Verbrechern“. Gibt es also fifty ways to leave your tongue? Jedenfalls war ich schnell herausgefordert (aber ich habe noch kein Ergebnis), weitere Gründe und Schweigenssprachen zu finden oder zu erfinden: Sprachspiele, die Sprachspiele erzeugen.
Was hat es mit der Jerusalemer Krawatte auf sich? Die Geschichte dieses zu bunten Accessoires führt 1994 nach Israel, zu einem Autorentreffen deutscher und israelischer Schriftsteller. Sie führt zur Einreichung eines Textes seitens Delius´: „Ich war Isaak“, in der er seine Version der alten, mich immer wieder befremdenden Geschichte des Opfers des Sohns durch seinen Vater, gefordert von einem grausamen Gott, erzählt. „Ich war Isaak“ führt zurück zum 11jährigen Friedrich Christian, zu dessen Nöten mit seinem Vater. Der israelische Schriftsteller Chaim B. ist von Delius´ Lesart der biblischen Geschichte fasziniert – woraufhin ihm eine andere Schriftstellerin, Aviava T., diesen von ihr selbst gebatikten Binder schenkt. Der aber wird nicht zum Knoten um den Hals, sondern es löst sich was. Was Delius stets irritiert hatte – „dass der Schrecken des Kindes keine Rolle spielte in der Geschichte und ich mit dem Schrecken allein blieb“ –, das wird entspannter. Delius fühlt sich entlastet, er muss sich nicht mehr so mit diesem Vater abquälen: „Ja, ich war ein anderer geworden in Jerusalem“. Doch die Mitteilung der Freude darüber zeitigt bei der Ehefrau (die Ehe kriselt schon lang vor sich hin) nur Verachtung. Eisiges Reden, der Ehemann zurückgeworfen ins eigene Verstummen oder Nichtsprechendürfen oder Stummgemachtwerden? Jedenfalls, die Ehe ist im Eimer, noch ein halbes Jahr wird sie überleben: Es war einmal.
Im Mai 2003, so der zweite titelgebende Bericht (Die sieben Sprachen des Schweigens), ist Delius in Schillers Garten in Jena mit einer Schriftstellerreisegruppe, die jetzt zum Mittagessen geschleust wird. Imre Kertész ist dabei und Delius und er gehen gemeinsam, wenig bis nichts redend. Delius phantasiert sich ins beiderseitige Schweigen hinein. Was das Nichtsprechen bedeuten könnte, einvernehmliches Schweigen, gleichdenkendes Schweigen, wird umkreist, Delius befragt sich, ob er sich täuscht, etwas in Kertész hineingeheimnist, in dieses Gehen:
Für eine kurze Zeit, würde ich heute behaupten, teilten wir die diebische Freude an wortloser Verständigung, diese Nähe, die zugleich Distanz bedeutete, dies beredte Schweigen schien uns beiden zu gefallen, es weitete den Raum, es hätte sogar ein ausholendes Erzählen ermöglicht, doch da wir beide keine ausholenden Gesprächserzähler waren, sprach nur das Schweigen zwischen uns
Und was, wenn Kertész gar nicht reden wollte, mal bloß eine Pause brauchte? Auch das Ausdeuten des Sprachspiels Schweigen ist ein Sprachspiel, wenn auch vielleicht nur im eigenen Kopf.
Wann, fragt sich Delius im dritten Bericht, habe er denn schon existenzielle Angst erlebt? Bei einer Fahrt im Boot, die bös hätte ausgehen können, Panik und Angst. Bei seinen zwei Tumoren (immerhin ein Nieren-, später ein Prostatakarzinom, also deutlich mehr als ein bloßer Männerschnupfen) – nein, interessanterweise sagt Delius darüber nichts, geht mit wenigen Sätzen drüber hinweg: (Ver-)Schweigen ist auch mal etwas Auslassen. Jetzt aber, im dritten Bericht: Lebensanzeige oder: Die Stimmlosigkeit der Stimmbänder, umkreist Delius andere Formen des Schweigens oder zum Schweigengebrachtseins.
Im Jahr 2008 ist er nahe dran – wohl eine verschleppte, perakute Virus-Pneumonie – vollständig zu verstummen: „Das Sterben hattest du dir schwerer vorgestellt“: Er ist mehrere Wochen auf der Intensivstation und erlebt ein Delir. Und dieses Delir wird erzählt, die Geschichte des stummgemachten Körpers darin, des langsamen Aufwachens in die gemeinsame Faktenrealität hinein. Noch, zu Beginn, nimmt er wahr, dass er keine Luft bekommt, das Schweigen der Erythrozyten, der Atem fehlt:
Das ist der Moment, in dem du dich aufgibst, du kannst nicht mehr, du weißt, du wirst nicht durchhalten bis zum nächsten Ufer, du merkst selber, dass du nun aufgibst, deinen Körper aufgibst und loslässt, der dir wegkippt, abwärts oder seitwärts oder aufwärts kippt
Delius überlebt: Das Hören kommt langsam wieder, dann das Sehen. Wochenlang deliriert er, sein Hirn erfindet und verwebt das mit Realitätsschnipseln:
Alles sehr konkret, du bist also in der Realität gelandet, möchtest gern glauben, in der Realität gelandet zu sein, aber zum Anfassen, zum Greifen nah ist das auch nicht, alles nur Kulissen, die weiter und weiter wachsen
Man sagt ihm, er habe im Koma gelegen, das beunruhigt ihn nicht, er glaubt zwei, drei Tage, da kann man sich schon mal ins vorläufig-absolute Schweigen absentieren, „aber zwei, zweieinhalb Wochen im Koma, das kannst du nicht glauben, da verstehst du was falsch oder die andern verstehn da was falsch“. Alles macht Mühe, er kann nicht sprechen, ist intubiert, das Sprechen funktioniert nicht und anfangs auch der Ersatz des Sprechens, wenn das Sprechen nicht geht; das Schreiben, das geht auch nicht: „ES IST ZU KOMPIZ“, kriegen die stotternden Hände nur heraus. Als alles vorbei ist, setzt sich Delius an den Schreibtisch, „nur ahnend, wie nah du der absoluten Stimmlosigkeit und dem völligen Verstummen gewesen bist“ und schreibt eine Rundmail an Freunde: „Lebensanzeige“. Dieses Stück Prosa, das das langsame Erwachen aus dem Schweigen, das phantastische Geschwätz eines Delirs zeigt, ist brillant – man muss es lesen.
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