Irrwege einsamer Männer

In „Flug der Flamingos“ findet Jens Wonneberger treffende Bilder für die Zersplitterung der Gesellschaft

Von Martin SchönemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schönemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jens Wonneberger ist seit den 1990er Jahren in seiner Heimatstadt Dresden als Zeitschriftenredakteur und Sachbuchautor präsent. Daneben schreibt er Kurzprosa und kleine Romane, die regelmäßig von der Kritik gelobt werden, aber nie große Aufmerksamkeit auf dem Buchmarkt erregen. Auch als 2008 bekannt wurde, dass eine seiner sprachlich wunderbaren Prosaminiaturen nahezu wörtlich in Uwe Tellkamps Epochenroman Der Turm auftauchte, verhalf das dem Autor nicht zu überregionaler Bekanntheit. 

Vielleicht hat dieses Aufmerksamkeitsdefizit damit zu tun, dass Wonnebergers Geschichten immer recht handlungsarm sind. Der Autor ist ein hervorragender Stilist – er schreibt konventionell und eingängig, dabei äußerst sensibel in der Wortwahl, genau in der Beobachtung auch kleinster Details und sehr fein im Gespür für die Spiegelung historischer wie auch aktueller gesellschaftlicher Umstände im Alltagsleben der Menschen. Die Plots seiner Romane sind dagegen einfach und spannungsarm. Manchmal drängt sich gar der Verdacht auf, die Handlung diene nur als Vehikel, eine gesellschaftliche Situation detailgenau zu beschreiben – wie zuletzt in Mission Pflaumenbaum.

In Flug der Flamingos, dem neuem Roman, treibt der Autor diese Neigung auf die Spitze: Es passiert den ganzen Roman über so gut wie überhaupt nichts. Wir hören den Monolog eines Witwers, der Tag für Tag morgens mit Kaffee und Zigaretten und abends mit Whisky vor seinem Haus sitzt, den Tod seiner Frau betrauert und die Welt verflucht. Er beobachtet seinen verhassten Nachbarn, einen neureichen Schnösel, dem die Frau davongelaufen ist; am Mittwoch lässt er sich manchmal von einem alten Klassenkameraden zu kleinen Aktivitäten wie dem Besuch des Friedhofs überreden; einmal wagt er sich sogar bis an die Tür der Kneipe, die er früher oft besucht hat; und am Ende nimmt er ein Paket für den Nachbarn an und kann einem kleinen Gespräch mit diesem nicht mehr ausweichen. Dazwischen gibt es endlose Monologe über die Vergangenheit mit der geliebten Frau sowie die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen – oder einsame Gänge durch das mit Dingen vollgestopfte, aber menschenleere Haus des Protagonisten, eines Restaurators, der seinen Beruf aufgegeben hat und mit seinen Ersparnissen die Zeit bis zur Rente überbrückt.

Gerade der Verzicht auf äußere Handlung erlaubt es dem Autor aber, ein Augenblicksbild der deutschen Gesellschaft zu entwerfen, das an Stimmigkeit und Intensität in der aktuellen Literatur seinesgleichen sucht. Ihm gelingt das, indem er in den scheinbar banalen Monolog seines Protagonisten sprachliche Bilder einbaut, die im Bezug zueinander auf grundlegende Probleme der Gesellschaft verweisen.

Da ist zunächst das Haus des Haupthelden: Es ist das übrig gebliebene Nebengebäude eines längst verschwundenen Gutshofes, von seinem Besitzer in Eigenarbeit renoviert; die alte Wagenremise hat er sich zu einer Werkstatt ausgebaut, hinterm Haus betrieb seine Frau einen großen Hausgarten – ein typisches Hippieidyll. Sich selbst identifiziert der Besitzer mit einem Gemälde, das er günstig auf dem Flohmarkt erwarb und das in seiner Werkstatt der Restaurierung harrt: ein epigonales spätromantisches Landschaftsbild mit Wald und Ruine. Damit entpuppt sich der Protagonist als Mensch mit veralteter Weltsicht, auch wenn er diese so intensiv empfindet wie der Künstler des vom ihm geliebten Gemäldes die seine. Potenziert wird das anachronistische Ambiente noch durch die endgültige Erstarrung des Helden nach dem Tod seiner Frau: Er restauriert nun nicht einmal mehr, er sitzt nur noch vor dem Haus, und der Garten verwildert.

Das Gegenbild dazu steht auf der anderen Straßenseite: der blendend weiße kubische Neubau des verhassten Nachbarn Rimböck, umgeben von einem Steingarten, der monatlich professionell von jeglichem Leben gereinigt wird, eine monströse Aktion, die jedes Mal die gesamte Nachbarschaft verstaubt. Ähnlich ritualisiert vollzieht sich der allmorgendliche forsche Aufbruch Rimböcks in die Welt, argwöhnisch beäugt vom Nichtstuer gegenüber. Als Letzterer eines Abends wagt, sein Grundstück in Richtung Kneipe zu verlassen, findet er bei seiner Rückkehr den Kubus des Nachbarn hell erleuchtet, ja, dieser scheint selbst zu leuchten. Auf der Flucht vor diesem grellen unwirklichen Licht schlägt er sich ängstlich durch Gebüsch und Dornen zur Hintertür seiner Werkstatt.

Der dritte einsame Mann, der den beiden Rivalen zugeordnet ist, hat nicht einmal ein Haus. Es ist der Klassenkamerad, ein alternder Verlierertyp mit Aktentasche und einer Vorliebe für Leberwurstbrötchen. Seine lächerlichen Kontaktversuche werden vom Protagonisten abgewiesen, er wird aus der Geschichte verjagt und taucht nicht wieder auf.

Ständig präsent, ja geradezu allgegenwärtig, ist dagegen die versöhnende Instanz der Ehefrau. Ihre Figur schafft die Verbindungslinien zwischen den drei einsamen Männern, und sie zahlt den Preis dafür. Die Leerstelle, die sie durch ihren Tod hinterlässt, hält das ganze Romangefüge zusammen. Ihr ist auch der Titel gewidmet: Der Flug der Flamingos. Es war ihre Sehnsucht, diese Tiere einmal wirklich fliegen zu sehen. Sie hat das nie geschafft, da sie zu beschäftigt damit war, ein soziales Leben voller Verzicht zu leben: Sie war in ihrer Jugend als Künstlerin erfolgreich, gab das aber zugunsten der häuslichen Idylle samt guter Beziehungen zu Nachbarn und Freunden auf. Sie arbeitete dann im Kulturamt, verwaltete also Kunst nur noch und schob ihrem Mann die Künstlerrolle zu, indem sie seine Werkstatt konsequent „Atelier“ nannte. Ihr unerfülltes Leben als bloße Vermittlerin ist das Gegenstück zur einsamen und ebenso unerfüllten Sturheit der Männer.

So erschafft Wonneberger in seinem neuen Roman einen Mikrokosmos aus wenigen Figuren, der weit über den eng begrenzten Schauplatz der Vorstadtstraße hinausweist. In einer Fülle eindringlicher, oft auch komischer Bilder und Situationen wirft er Fragen auf zu Problemen unserer Zeit. Es geht um den Konflikt zwischen Sozialität und gesundem Egoismus beim Verwirklichen der eigenen Träume, zwischen Kommerz und Konsumverzicht, zwischen Individualität und Untertanengeist – und immer wieder um die Rolle der Kunst dabei. Das Schöne an Wonnebergers Roman ist, dass der Autor zu alledem keine Antworten zu bieten hat, obwohl er die Probleme messerscharf analysiert und wundervolle Bilder für sie findet.

Alles in allem ist Flug der Flamingos ein besonders gelungener unter den immer qualitätsvollen Romanen Wonnebergers.

Titelbild

Jens Wonneberger: Flug der Flamingos. Roman.
Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2021.
170 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783990142189

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