Karl Kraus: Porträt des Autors als junger Mann

Gilbert Carr beleuchtet in „Demolierung, Gründung, Ursprung“, wie Kraus „Die Fackel“ entzündete

Von Andreas StuhlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Stuhlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Demolierung, Gründung, Ursprung aus dem Jahr 2019 legt Gilbert J. Carr eine beeindruckende Bilanz aus beinah fünfzig Jahren Arbeit zu Leben und Werk von Karl Kraus vor. Auch wenn die Forschung zu Karl Kraus schon damals, zu Beginn von Carrs Karriere, den Ruf hatte ein Haifischbecken zu sein, kam es in den 1970er-Jahren zu einer regelrechten Blüte an Büchern über den Wiener Publizisten, Zeitdiagnostiker und Kulturkritiken. Es fand ein wichtiger Generationsübergang statt: eine ganze Reihe von größtenteils nach dem Krieg geborener Wissenschaftler wie Jens Malte Fischer, Alfred Pfabigan, Sigurd Paul Scheichl und last but not least Carr, der in seiner Dissertation von 1972 Kraus’ große Polemiken untersuchte, etablierte eine kontinuierliche wissenschaftliche Beschäftigung mit Kraus. In einer Zeit des Umbruchs, der Krise und der Revolte – auch in der Germanistik – erschien Kraus, der den Mächtigen unbequeme Moralist, radikale Sprach- und Medienkritiker, begnadete Satiriker und gnadenlose Polemiker, nicht nur nun selbst als eine Leitfigur für die hitzigen Debatten der Zeit, sondern er wurde für einige der Genannten auch in gelegentlich nicht unproblematischer Weise zur Identifikationsfigur. Was sie verband war der Ehrgeiz, einen Autor mit einem im Verständnis der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung schmalen Oeuvre an Lyrik, Aphoristik und Dramatik aber mit einem gewaltigen essayistischen und publizistischen Werk fest im literarischen Kanon zu verankern. 

Ein magerer aber arbeitsfähiger Konsens zwischen den damals jungen Männern bestand in zwei Zielen: Zum einen galt es, in akribischen Fallstudien mit höchster philologischer Genauigkeit die Kontexte der heute zum Teil kryptisch anmutenden Texte mit ihren zahllosen feinen Anspielungen auf Personen und Ereignisse der Zeit zu enträtseln und zu diesem Zweck Texte, Dokumente und Briefe zu edieren. Zum anderen sollte das dabei gewonnene Wissen über die hinter der Persona des „Fackel-Kraus“ weitgehend unsichtbare reale Person des Autors in umfassenden Biographien zusammengetragen werden.

Doch leider erwies sich dieser Konsens über die Jahre nicht allein aus Desinteresse an tieferer Kollaboration, einer ungesunde Dosis an Wettbewerbsdenken und Egoismus als brüchig. Von den angekündigten großen Monographien sind die wenigsten erscheinen. Und so stehen heute die Biographien von Edward Timms mit ihren zwei Bänden (Karl Kraus: Apocalyptic Satirist, Bd. 1: Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna, 1986 und Bd. 2: The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika, 2005) und über eintausend Seiten und seit 2020 in ähnlichem Umfang Der Widersprecher von Jens Malte Fischer recht einsam in der Landschaft. Vor allem der erste Band von Timms stieß mit seinem klaren narrativen Zug und seiner Fülle von Informationen, neuen Einblicken und scharfsinnigen Verknüpfungen von Werk, Person und Zeitgeschehen auf fast einhelliges Lob der Forschung. Bedenkt man, dass auch dieser erste Teil noch einige blinde Flecken vor allem in Bezug auf die Jugendjahre und Kraus’ frühe journalistische Tätigkeit vor Gründung der Fackel enthält, versteht man, was Gilbert Carr, selbst ein früher Doktorand von Edward Timms, zu dem vorliegenden Buch motiviert hat. Mit mehr als zwanzig größeren und kleineren Arbeiten hat Carr über die Jahre immer wieder in die zum Teil hitzigen Debatten der Kraus-Forschung eingegriffen. Diese sind jetzt als Vorstudien in den vorliegenden Band eingegangen.

Mit feinstem Besteck seziert Carr Kraus’ erste journalistische Arbeiten Anfang der 1890er-Jahre sowie die frühen Jahre der Fackel bis etwa 1910 und zeichnet ein plastisches und feinziseliertes Bild der Person des jungen Karl Kraus. Er entwirft das Porträt des Autors als jungem Mann, als Schüler und Student und verfolgt seine Anfänge als Literatur- und Theaterkritiker. Dafür hat Carr sorgfältige Grabungen in die Kultur, Politik, Ökonomie und Justiz des Wiener Fin de Siècle unternommen und in Archiven und Bibliotheken immer wieder faszinierendes Material erhoben, das unser Bild dieser aufregenden Epoche weiter vertieft und abrundet: von seinen ersten handschriftlichen Aufzeichnungen zur Kampfschrift Die demolirte Literatur über Kraus’ Briefwechsel mit Otto Stoessl, bis hin zu den Quellen zu Wie Genies sterben, dem lyrisch-schwärmerischen Nachruf auf die von Kraus angebetete Schauspielerin Anni Kalmar.

Während ein großer Teil der Kraus-Forschung seiner Generation kulturwissenschaftlichen Ansätzen eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, lässt sich Carr von Arbeiten etwa von Pierre Bourdieu, Giorgio Agamben, Sigrid Weigel und Nike Wagner inspirieren und macht sie für seine Analysen fruchtbar. Der Duktus des Buches ist aber dennoch der der nüchternen Revision. Mit enormer Sorgfalt berichtigt Carr zunächst zahlreiche der noch von Freunden und Zeitgenossen etablierten Mythen über Kraus, in denen sich Werk und Biographie wechselseitig beglaubigen.

Diese Mythen bildeten bisher auch den Grundstock für noch immer fortgeschriebene schablonenhafte Deutungsmuster, die Carr auszumerzen bemüht ist. So korrigiert er u.a. kühl und sachlich die von Theodor Lessing auf Kraus projizierte und von den Kulturwissenschaftlern Sander Gilman, Paul Reitter und John Theobald wieder aufgegriffene Theorie vom „jüdischen Selbsthass“. Bei Kraus habe sich dieser, so die Interpreten, in der aggressiven Nutzung antisemitischer Klischees und einer distinkten rhetorischen Brutalität besonders gegenüber jüdischen Zeitgenossen geäußert. Carr verweist aber mit Recht darauf, dass für eine solche Zuschreibung schlicht das empirische Material fehlt und auf die satirische Natur zunächst für diesen Vorwurf scheinbar so einschlägiger Texte wie Eine Krone für Zion (1898). Dass sich in der Fackel reichlich antisemitische Schimpfwörter finden, sei, so Carr, allenfalls ein schwaches Indiz für einen antisemitische Haltung des Herausgebers, sondern es sei vielmehr kennzeichnend für jenen breiten, teils derb geführten satirisch-polemischen Feldzug von Kraus gegen Phrasen, Heuchelei und Machtmissbrauch in allen Schichten, Parteien, Berufen und Bevölkerungsgruppen. Dieser habe Juden ebenso wenig ausgenommen wie alle anderen Gruppen.

In diesen Kontext gehört auch Kraus‘ widersprüchliche Postion zur Dreyfus-Affäre. Während große Teile der Forschung bis heute Willy Haas‘ verkürzendes Diktum reproduzieren, dass Kraus ein „Anti-Dreyfusard“ gewesen sei, fordert Carr einen differenzierteren Blick. Er stellt zunächst heraus, dass Kraus wenig an der Frage interessiert gewesen sei, ob der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus Geheimnisse der französischen Armee an das Deutsche Reich verraten habe oder nicht. Auch die Eruption dumpfer antisemitischer Hetze und Gewalt in großen Teilen der französischen Politik, der Presse und der Öffentlichkeit war für ihn eher ein Randphänomen. Carr sieht Kraus‘ Bild von Dreyfus vor allem geprägt durch seine beiden Mentoren Maximilian Harden und Wilhelm Liebknecht. Der Publizist Harden, dessen Zeitschrift Die Zukunft zum Vorbild für Die Fackel wurde, und der Sozialdemokrat Liebknecht, der zum ersten wichtigen Gastautor und politischen Leitartikler der Fackel wurde, kamen aus je unterschiedlichen Gründen zu einem negativen Urteil über Dreyfus. Auf Basis von in Liebknechts Amsterdamer Nachlass aufgefundenen Briefen wird dessen große Bedeutung für die Gründungsphase der Fackel von Carr eindrucksvoll untermauert. Einig war sich Kraus mit beiden – und dies wird zentral für seine Position zur Affäre – in seiner Ablehnung der massiven liberalen Pressekampagnen für Dreyfus und in der Kritik an dem für ihn eintretenden Émile Zola. Zwar schätzte er Zola als einen der wichtigsten Autoren der Zeit, hielt aber dessen politische Positionierung für eine operettenhafte, peinliche Pose – eine wenig originelle Einschätzung und eine bis heute typisch gleichförmig Figur konservativer Literaturkritik. Während in Frankreich den liberalen Zeitungen im Angesichts eines kläglichen Versagens von Justiz und Politik eine wichtige Rolle bei der Forderung nach Aufklärung des Skandals zukam, spielte die Presse in Deutschland und Österreich eine unrühmliche Rolle. Kraus warf vor allem den heimischen Blättern vor, sich auf der Bühne der internationalen Berichterstattung auf billige und scheinheilige Weise als Vorkämpfer von Freiheit und Liberalismus zu profilieren, während sie ähnliche Justizskandale im eigenen Land totschwiegen. Carr sieht Kraus’ Kurzsichtigkeit gegenüber dem Gift antisemitischer Propaganda durchaus kritisch, weist aber auch auf das Übergewicht der liberalen Presse im Kampf um die öffentliche Meinung hin und darauf, dass Kraus’ Hinwendung zu innenpolitischen Themen seine bedeutenden publizistischen Abrechnungen mit Justizwillkür und Doppelmoral vorbereitete.

Im Hauptteil des Buches unterzieht Carr auch alle großen Texte aus der frühen Werkphase von Kraus von Die demolirte Literatur (1896) und Eine Krone für Zion (1898) bis hin zu Sittlichkeit und Criminalität (1902/08) oder Heine und die Folgen (1910) einer notwendigen Re-Lektüre. Er liefert eine Fülle bisher unbekannter oder zu wenig berücksichtigter Primär- und Sekundärquellen, bettet die scheinbar so vertrauten Texte in neue Kontexte ein und überschreibt bisherige Interpretationen. In vielen Fällen bedeuten Carrs Entdeckungen aber weniger völlige Neubewertungen als Akzentverschiebungen, etwa wenn er noch einmal Kraus’ Nähe zu zwei problematischen Figuren relativiert, zu dem Wagnerianer und glühenden Antisemiten Houston Stewart Chamberlain, den Kraus ebenso wie Liebknecht zu Gastbeiträgen einlud, und dem Philosophen Otto Weininger, dessen Buch Geschlecht und Charakter von 1903 ihn tief beeindruckte. 

Auch zu Kraus’ vermeintlich sattsam bekannter Ablehnung des literarischen Ästhetizismus und dessen namhaftesten Vertretern wie Oscar Wilde oder Maurice Maeterlinck finden sich neue Einsichten. Carr rekapituliert zunächst die bisherige Position der Forschung, dass Kraus’ Furor, ähnlich wie in der Dreyfus-Affäre, weniger den Autoren oder ihren Werken gegolten habe, als der überspannten, zugleich überhitzen wie banalisierenden Rezeption in Wiens Kulturszene und Presse. In einem zweiten Schritt fragt Carr aber auch, welche positiven Spuren Wilde und Maeterlinck denn in Kraus’ Werk hinterlassen haben. Für Maeterlinck beobachtet er z.B,, wie dessen formale Gestaltung einer lähmenden Tristesse und eines bohrenden Ennuis auf interessante Weise Einzug in die Darstellung des Kaffeehauslebens in Die demolirte Literatur findet – und das just 1896 auf dem Höhepunkt von Kraus’ Polemik gegen die Bemühungen, den Belgier in Wien zu Aufführung zu bringen. Auch seien, so Carr, Maeterlincks statische, marionettenartige Figuren denen in Kraus Letzten Tagen der Menschheit nicht unähnlich. 

 Es gibt zwei gewichtige Probleme mit Carrs Buch, beide haben mit seiner mangelhaften verlegerischen Betreuung zu tun: Das eine ist ein Problem von Aufbau und Gliederung. Es ließe sich vermuten, dass die drei Leitbegriffe des Titels Demolierung, Gründung, Ursprung bereits ein Gerüst nahelegten, doch verordnet Carr sich einen zunächst chronologischen Weg durch Leben und Werk, der nicht genügend Binnenstrukturierung bietet. So überspülen die schiere Materialfülle und die große Zahl der aufgerufenen Themen und Diskurse gelegentlich einen geordneten Fluss und der Leser verliert trotz eines elaborierten Systems von Vor- und Rückerweisen den roten Faden leicht aus den Augen. Ein engagierter Lektor hätte hier sicherlich helfend und ordnend eingreifen können. Weniger elementar, eher bedauerlich ist das andere Problem, das der zahlreichen formalen und beeindruckend wenigen stilistischen Inkonsistenzen. Registereinträge führen ins Leere, die Kapitelzählung ist brüchig. Ein Buch mit einem solchen Umfang und einer so langen und komplexen Entstehungsgeschichte verdient mehr Respekt und verlegerische Fürsorge, das sollte ein angesehener Wissenschaftsverlag nicht auf sich sitzen lassen. 

Es ist Zeit, dass Karl Kraus von einer neuen Generation von passionierten Wissenschaftler*innen entdeckt und wiederentdeckt wird. Gilbert Carr legt einen wichtigen Lektüreschlüssel vor, den man auf Jahrzehnte wird zur Hand nehmen müssen, wenn man verstehen will, wie Kraus zu einem Giganten im literarischen Feld des zwanzigsten Jahrhunderts wurde.    

Titelbild

Gilbert J. Carr: Demolierung – Gründung – Ursprung. Zu Karl Kraus‘ frühen Schriften und zur frühen Fackel.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
885 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783826065934

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