Unterhaltsam, aber mit intertextuellem und kulturhistorischem Tiefgang

„Silverview“: Der Nachlassroman von John le Carré

Von Jochen VogtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Vogt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass es einen 26. Roman von John le Carré gibt bzw. schon vor dessen Tod im Dezember letzten Jahres mehr oder weniger druckfertig gab, konnte nicht mehr überraschen, nachdem der Autor in den Jahren zuvor seinen Abschied von der Literatur gleich mit zwei angeblich „letzten“ Romanen und mit repräsentativen Lesungen in London wie in seiner Lieblingsstadt Hamburg orchestriert hatte. Das war eine wahre Abschiedssymphonie, der nun noch eine Zugabe folgt, fast wie im Konzertsaal.

In diesem relativ schmalen Roman, dem letzten nach den „letzten“, lässt der Altmeister der Spannungsliteratur seinem immer schon spürbaren, aber meist gezügelten Hang zu Ironie, Satire und tieferer Bedeutung freien Lauf. Gut hundert Seiten lang amüsiert er sich und uns mit der lustvoll-hinterlistigen Dekonstruktion des Tuns und Treibens in der Chefetage der „Firma“, also des britischen Auslandsgeheimdienstes, das sich immer mehr als eitles Getue entlarvt („Affenzirkus“, sagt ein Insider) – ohne dass wir vorerst einen roten Faden erkennen. Aber den muss es doch geben?

Zunächst treffen wir dann – in einem Seebad an der englischen Ostküste, das schon bessere Zeiten erlebt hat – auf bereits bewährte Motive und Figuren. Vor allem ein sympathisch-harmloses junges Paar: Julian, der vom Geldverdienen in der City wie vom dort verdienten Geld genug hat und als dilettierender Buchhändler neuen Lebenssinn sucht; und die resolute Lily, deren schwerkranke Mutter Deborah einst die legendäre „Topanalystin“ der „Firma“ war. In ihrem noblen Herrenhaus „Silverview“ und in zerrütteter Ehe mit ihr lebt auch Lilys Vater Eward, für seine Freunde „Ted“. („Silverview“ ist übrigens die Übersetzung von „Silberblick“: Friedrich Nietzsches Wohn- und Sterbehaus. John le Carré hat es wohl 2011 besichtigt, als er in Weimar die Goethe-Medaille entgegennahm. Was dies im Roman bedeuten könnte, bleibt allerding auch dem sehr geneigten Leser unklar.) 

Auffällig ist nun, dass Edward sich sehr schnell mit Julian anfreundet und dessen Hilfsbereitschaft und Computer für „dies und das“ benutzt; er ist ein ausrangierter britischer Agent, gebürtiger Pole, vielsprachig, listig, mit allen Wassern der Täuschung gewaschen, in sämtlichen Konflikten des alten Europa gehärtet. Er imponiert Julian vor allem mit seinen literarischen Tipps und spendiert gleich zwölf Exemplare von W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn für den Laden. (Dieser „ausgewanderte“ deutsche Autor hatte ja tatsächlich seit 1970 an der Universität im nahen Norwich gelehrt, nach 1980 als Professor für deutsche und internationale Literatur.) Sebalds Text ist oberflächlich ein Reisebericht aus der Region, zugleich aber „ein literarischer Taschenspielertrick erster Güte“, wie Edward dem staunenden Julian erläutert. Uns aber liefert er damit ein – oder besser: das Schlüsselwort für den Roman wie auch für die ganze Sphäre der Geheimdienste, die le Carré in all seinen Büchern, zunehmend verbittert, als ein gigantisches Festival der Täuschungen und der vielfachen Fälschung inszeniert und immer schärfer kritisiert hat.

Inzwischen mehren sich nämlich die Hinweise, dass der joviale Edward selbst eine Täuschung großen Stils betrieben und sich in ernsthafte Probleme manövriert hat, aus denen er nun einen Ausweg sucht. Dies wiederum wird mit all der Raffinesse und Subtilität erzählt, die wir am Erzähler John le Carré seit langem bewundern konnten. Dazu gehört auch, dass er ziemlich genau in der Mitte seines Buchs den entscheidenden Knoten schürzt, der sich erst allmählich entwirren lässt und den moralisch-existenziellen Kern der Handlung offenbart.

Es geht um eine Episode aus dem Krieg im zerfallenen Jugoslawien Mitte der 1990er Jahre, ein Massaker, in dem die serbische Soldateska alle muslimischen Männer und Knaben in einem bosnischen Bergdorf abgeschlachtet hat. Darunter ein jordanischer Arzt, der das Lazarett einer neutralen Hilfsorganisation leitet, und sein zwölfjähriger Sohn. Einem zu spät hinzugekommenen „Deutschen“ (!?) gelingt es nur noch, dem serbischen Oberst die Frau und Mutter abzuhandeln, weil er sie angeblich „für sich selbst will“!  

Dass Ted, der treue Freund der Familie (und Pseudo-Deutsche), unter diesen allerschwierigsten Umständen, im ‚Herzen der Dunkelheit’ (Joseph Conrad), die Liebe seines Lebens gefunden hat und nun an Salmas Seite für die Sache der Palästinenser agitiert – also im Schattenkrieg der Dienste längst die Seiten gewechselt hat –, erschließt sich erst schrittweise, für uns freilich immer noch ein paar Schritte vor den Vorgesetzten aus der „Firma“.

Und dann verschwindet dieser letzte Held Le Carrés, wie die meisten anderen auch ein Opfer, aus seiner Erzählwelt als ein gealterter und vom Leben gebeutelter Felix Krull (eine letzte Reverenz an den verehrten Thomas Mann), fast ohne eine Spur zu hinterlassen, aber nicht ganz ohne symbolischen Unterton, in einem „kleinen Auto“ französischer Bauart …

Soweit die Story. Es lohnt sich aber, der Erwähnung der Ringe des Saturn, die zunächst als aufgesetzter „Gag“ erscheinen mag,  genauer nachzugehen. John le Carré könnte mit seinem vorzüglichen Deutsch das Buch durchaus im Original gelesen haben, wahrscheinlicher aber doch die sehr verbreitete englische Übersetzung von Sebalds Freund und Nachbarn Michael Hamburger, der gegen Ende der Wanderung ja auch besucht wird. Jedenfalls zeigt sich, dass Die Ringe des Saturn einen zentralen, wenn auch teils verdeckten Intertext für die erwähnte Schlüsselszene von Silverview enthält und damit auf den moralischen Kern dieses nur teilweise amüsanten Romans verweisen. Im Vierten Teil von Sebalds Buch referiert der Erzähler nämlich sehr ausführlich einen Artikel aus der englischen Tageszeitung The Independent (1992, damals noch im Druck) über die „in Bosnien vor fünfzig Jahren (also nach 1940 – J.V.) von den Kroaten im Einvernehmen mit den Deutschen und Österreichern durchgeführten sogenannten Säuberungsaktionen“, das heißt die extrem brutalen Massentötungen von „volksfremden Serben, Juden und Bosniaken“. Allein im Lager Jasenovac an der Save wurden damals „siebenhunderttausend Männer, Frauen und Kinder ums Leben gebracht mit Methoden, die selbst den Fachleuten aus dem Großdeutschen Reich (…) die Haare zu Berge stehen ließen“.

Insgesamt beschreiben die Ringe des Saturn, wie gesagt, eine mehrtägige Fußwanderung des Autors/Erzählers durch die Grafschaft Suffolk, insbesondere auch ihre Küstenregion. Dabei bietet ihm die überwiegend karge und verlassene Landschaft mit ihren teils monumentalen, teils diskreten Überresten und Spuren der Vergangenheit regelmäßig Anlässe zu historischen Tiefenbohrungen, die ihn und uns im lokalen wie im globalen Maßstab mit dem „unseligen Verlauf unserer Geschichte“ konfrontieren – ganz im Sinne  von Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen, wo der vom Sturm getriebene Angelus Novus „eine einzige Katastrophe“ wahrnimmt, „die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“.

Dieser – wie wir annehmen – definitiv letzte Roman ist nun rechtzeitig zum 90. Geburtstag erschienen, den David John Cornwell, der Jahrhundertautor John le Carré, leider nicht mehr erleben durfte.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

John le Carré: Silverview.
Roman.
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
256 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783550202063

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