Reflexiver Realismus in Fortsetzungen

Willi Wolfgang Barthold untersucht die Wechselwirkungen zwischen realistischer Literatur und illustrierten Printmedien im 19. Jahrhundert

Von Rolf ParrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Parr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I.

Der gesellschaftliche Wandel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit der Zeit, in der ein Großteil der aktiven Schriftstellerarbeit von Theodor Fontane, Wilhelm Raabe, Marie von Ebner-Eschenbach und Balduin Möllhausen liegt, ist charakterisiert durch exponentielles Bevölkerungswachstum, durch zunehmende Technisierung und in deren Folge Industrialisierung, durch die Ausdifferenzierung der sozialen Schichten und Milieus, die vermehrt funktional an die Stelle der vormaligen Stände treten, sowie durch eine viele dieser Entwicklungen allererst ermöglichende Kapitalisierung nahezu aller gesellschaftlichen Teilbereiche. Insbesondere der Wandel der Medien und der mit diesen eng verbundene der Kultur unterliegen verstärkt der Kommerzialisierung.

Bedingt dadurch tendiert der kulturelle Sektor und mit ihm auch die belletristische Literatur zum einen zunehmend zur Unterhaltung, zum anderen zur Versinnlichung durch Bildmaterial, wie es neben der Lithografie als älterem Bilddruckverfahren seit Mitte des Jahrhunderts vor allem die Fotografie in neuer Qualität und Quantität bereitstellt. Beiden Bedürfnissen, dem nach unterhaltender Literatur und dem nach Visualisierung, kommen die seit der Jahrhundertmitte prosperierenden illustrierten Familien-, Rundschau- und Romanzeitschriften entgegen, wie beispielsweise Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung, Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift, Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen, Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, Vom Fels zum Meer. Spemann’s Illustrirte Zeitschrift für das Deutsche Haus, Westermannʼs illustrirte deutsche Monats-Hefte für das gesammte geistige Leben der Gegenwart, Zeitschriften, die mit der Veröffentlichung von Erzählungen und Novellen sowie dem Vorabdruck von Romanen über mehrere Ausgaben hinweg die ökonomische Grundlage vieler Berufs-Schriftsteller bilden. Möglich wird die vergleichsweise preiswerte Produktion dieser Zeitschriften für ein ‚das ganze deutsche Haus‘ umfassendes Massenpublikum durch eine Reihe von Innovationen in der Papierherstellung, der Drucktechnik, der Buchbinderei und der vereinfachten Reproduktion von Illustrationen durch Stahlstich, Lithografie und nicht zuletzt Fotografie.

Um zu reüssieren, mussten diese Zeitschriften ihre Leser gut unterhalten, die jeweiligen Lebens- und Wertvorstellungen nicht zu sehr irritieren, sich hinsichtlich der Abonnentenzahlen rechnen und, um der Tendenz zur Visualisierung nachzukommen, vermehrt Bilder aufnehmen. In umgekehrter Blickrichtung sind es Bilder, Fotografien und auch Diskurse um die neuen Bildmedien, die auch die in den Zeitschriften erscheinenden Erzähltexte verstärkt thematisieren. Von daher – so hat Manuela Günter herausgearbeitet – ist es die mediale Praxis des Zeitschriftenvorabdrucks, die zu einem neuen und durchaus produktiven Zusammenspiel von Kunst und Unterhaltung führt, zu einem – wie Rudolf Helmstetter es in seiner Dissertation formuliert hat – „medialen Realismus“ in Form der Anerkennung der „nichtästhetischen und unliterarischen Bedingungen des Zeitschriftenmarktes als Vorgabe und Bedingungskontext literarischer Kommunikation“.

Doch nicht nur was die Abstimmung der Kapitellänge auf die Vorgaben der Zeitschriften, die Kopplung von kürzeren, kapitelorientierten Erzähl- und Spannungsbögen mit übergreifenden Entwicklungslinien der Handlung, was Thema, Wortwahl und die Favorisierung von Novelle, Erzählung oder kürzerem Roman als erzählenden Genres angeht, hat die Praxis des Zeitschriftenvorabdrucks Auswirkungen. Sie verschärft zudem die über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg virulente Diskussion um den Stellenwert von Beruf und/oder Berufung im Selbst- und Fremdverständnis von Schriftstellern, und zwar zugunsten einer verstärkt ökonomisch ausgerichteten schriftstellerischen Professionalität, von der exemplarisch die Biographien Theodor Fontanes und Wilhelm Raabes Zeugnis ablegen. So sind beispielsweise das Profil und das Publikum der jeweiligen Zeitschrift bereits bei der Konzeption von Beiträgen stets regulierend präsent; darüber hinaus bietet der Vorabdruck die Möglichkeit, noch während des Erscheinens der Fortsetzungen auf Publikumsäußerungen oder gar die Abbestellung von Abonnements zu reagieren.

II.

Ausgehend von Beobachtungen wie diesen hat die literatur-, buch- und kulturwissenschaftliche Forschung zum Verhältnis von Literatur und Familienzeitschrift den Akzent längere Zeit eher darauf gelegt, nach den ‚Zumutungen‘ des Zeitschriftenvorabdruckwesens für eigentlich zur Buchpublikation geschriebene Texte und ihre Autor:innen zu fragen. Das hat sich mit der neueren medienkulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft (Rudolf Helmstetter, Günter Butzer, Manuela Günter, Daniela Gretz, Christof Hamann und anderen mehr) geändert. Allerdings wurde noch nicht systematisch gefragt, ob und – wenn ja – wie die in den Familien- und Rundschauzeitschriften abgedruckten Texte ihre ‚mediale paratextuelle Umgebung‘ reflektieren.

An diesem Punkt setzen die Analysen von Willi Wolfgang Bartholds fulminanter Studie an, in der er – die vorliegenden „Ansätze der Journalliteraturforschung“ mit solchen der Visual Culture Studies produktiv verknüpfend – ebenso den „Wechselwirkungen zwischen den (illustrierten) Zeitschriften als Massenmedien des 19. Jahrhunderts“ und den in ihnen erscheinenden „literarischen Texten“ nachgeht, als auch „der Art und Weise, wie sich Literatur selbstreflexiv mit diesem massenmedialen Kontext und ihrer eigenen Verortung in der Populärkultur auseinandersetzt“ und sich auf diesem Wege auch „als Reflexionsinstanz zu den Wirklichkeitskonstruktionen der Massenmedien in Beziehung setzt“. Vier sich in der Regel überlagernde mögliche Ebenen der Beziehung von Literatur und illustrierten Printmedien werden dabei sichtbar: (a) Ein unabhängig vom Druck in einer illustrierten Zeitschrift geschriebener Text erhält in der Zeitschrift zusätzliche, vor allem visuelle Kontexte, die als rezeptionssteuernde Paratexte wirken, d.h. die „direkte Nachbarschaft der Texte zu Bildern auf der Zeitschriftenoberfläche gibt Anlass zu einer Neubewertung intermedialer Konkurrenzbeziehungen zum Visuellen“; (b) ein literarischer Autor antizipiert mit seinem literarischen Text den Publikationsort ‚Zeitschrift‘ und dessen mediale Rahmenbedingungen; (c) ein literarischer Autor antizipiert den Publikationsort ‚Zeitschrift‘ und seine Rahmenbedingungen und reflektiert diese zudem in seinem Text; (d) ein literarischer Autor antizipiert den Publikationsort ‚Zeitschrift‘ und seine Rahmenbedingungen, reflektiert diese zudem in seinem Text und versucht sie zugleich zu erfüllen und zu unterlaufen, wie im Falle Raabes durch Mehrfachlesbarkeit für unterschiedliche Publika.

Seiner systemtheoretisch grundierten Generalthese eines mit den illustrierten Zeitschriften neu entstehenden medialen Kommunikationszusammenhangs auch für die Literatur des Realismus geht Barthold dann an vier für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts exemplarischen Texten und Autor:innen nach.

Für Wilhelm Raabes Roman Pfisters Mühle (1884) und den Publikationskontext der Grenzboten kann Barthold zeigen, dass sich Raabes „Erzählung über die negativen Folgen der Industrialisierung für Natur und Umwelt“ auch als Reflexion der Bilderflut der illustrierten Zeitschriften lesen lässt, wobei die junge Ehefrau des Protagonisten „den Rezeptionshabitus und das stereotypisierte Bild einer ‚typischen‘ Leserin illustrierter Zeitschriften personifiziert“. Insgesamt zeigt sich dabei „eine komplexe und ambivalente Selbstpositionierung des Romans“, partizipiert er doch einerseits „am System der massenmedialen Bild- und Informationszirkulation“, distanziert sich aber andererseits doch auch kritisch davon.

An Theodor Fontanes in der Gartenlaube vorabgedruckter Kriminalnovelle Unterm Birnbaum (1885) wird detailliert herausgearbeitet, wie im Rückgriff auf das Genre der Dorfgeschichte solche „Beobachtungs- und Kommunikationsmechanismen“ literarisch durchgespielt werden, die auch für die illustrierten Massenmedien der Zeit prägend sind, nämlich „panoptische Universalbeobachtung, performative Steuerung von Beobachtungsprozessen, und […] zunehmende[] Unzuverlässigkeit visueller Evidenz“. Dadurch wird „‚Wahrheit‘ zu einem Resultat effektiver Inszenierung“, nicht zuletzt solcher visueller Art, und zugleich werden die „Darstellungsprinzipien des Realismus“ in einer sich wandelnden medialen Öffentlichkeit hinterfragt.

Für Balduin Möllhausen und seine Erzählung Fleur-rouge (1870), die in Trowitzsch’s Volkskalender erschienen ist (nebenbei bemerkt: die Erneuerung der Volkskalender als ‚quasi illustrierte Zeitschriften‘ wäre eine eigene Untersuchung wert), wird nachgezeichnet, wie Möllhausens Amerika-Texte im Zusammenspiel mit den Illustrationen des Kalenders einen kolonial-imperialen Blick und „Fantasien westlicher Überlegenheit“ inszenieren sowie diskursive Positionen der Aneignung und Abwertung des Fremden ermöglichen bzw. verfestigen.

Am Beispiel von Marie von Ebner-Eschenbachs Komtesse Muschi. Eine Novelette aus Österreich (1884), erschienen in der Neuen Illustrirten Zeitung, und der Erzählung Komtesse Paula (1884), erstveröffentlicht in der Illustrirten Frauen-Zeitung, kann Barthold nachweisen, dass von Ebner-Eschenbach Spielräume für das kritische Hinterfragen der in den Frauen- und Modezeitschriften propagierten Bilder weiblicher Identität und der mit diesen verbundenen „Blickregime und Subjekt-Objekt-Hierarchien, die geschlechtsspezifischer Objektifizierung Vorschub leisten“, auslotet.

Solchermaßen angelegt, hat man es bei der Dissertation von Barthold mit einer Reihe von Fallstudien zu tun, die durch einen mit „Einführung“ etwas unter Wert annoncierten theoretisch-methodischen Teil und eine – ebenfalls etwas arg zurückhaltend überschriebene „Schlussbetrachtung“ gerahmt werden. Alle vier Fallstudien, von denen jede einzelne für die jeweilige Autor:innen-Philologie gewinnbringend ist, sind auch separat sehr gut rezipierbar, womit der Überlegung Rechnung getragen wird, dass sich an Fontane interessierte Leser:innen nicht unbedingt auch mit Möllhausen oder Ebner-Eschenbach beschäftigen müssen. Der Preis für diese separate Lesbarkeit besteht jedoch in etlichen Redundanzen, die bei durchgängiger Lektüre auffallen. Immer wieder wird Helmstetter mit der Formulierung vom „medialen Realismus“ zitiert; und immer wieder – wenn auch in Variationen – wird betont, dass eine mediengeschichtlich informierte Untersuchung der Literatur des Realismus unter Berücksichtigung der technologisch-medialen Innovationen und des massenmedialen Kommunikationssystems erfolgen müsse. An einigen Stellen wird zudem etwas zu breit ausgeführt, was bereits längere Zeit bekannt ist. Bisweilen etwas schwer zu folgen ist Barthold schließlich dann, wenn auf engem Raum abwechselnd aus der Position des Wissenschaftlers, aus der Perspektive der Autor:innen, derjenigen der analysierten Zeitschriften und schließlich der Sicht der Rezipient:innen gesprochen wird. Auch wenn alles, was dabei gesagt wird, gewinnbringend und nachvollziehbar ist, wäre eine etwas stärkere Systematisierung der Lesbarkeit und dem Nachvollzug seiner Befunde an einigen Stellen doch zu Gute gekommen.

III.

Fortschritt, so ein überkommener Topos der Wissenschaftsforschung, entsteht oft dann, wenn bisher separat verfolgte Forschungszweige zusammengeführt werden. Barthold gelingt dies, indem er die in den letzten Jahren boomende literatur- und kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung auf innovative Weise mit den neueren Visual Culture Studies verbindet. Dabei folgen Thesen, Hypothesen und manchmal auch eher Vermutungen in regelrechtem Stakkato aufeinander, was deutlich macht, wie neu das mit der Kopplung entstandene Forschungsfeld noch ist, aber auch wie vielversprechend es bereits jetzt ist. Auch wenn man nicht allen diesen Überlegungen im Detail folgen mag, sind sie doch nahezu durchgehend inspirierend und wert, dass man sich näher auf sie einlässt. Gewinnbringend ist die Lektüre nicht zuletzt auch, weil Barthold die einschlägige englischsprachige Forschungsliteratur berücksichtigt hat, was in der Germanistik nicht immer der Fall ist.

Offen bleibt am Ende die Frage, inwieweit die illustrierten Zeitschriften ein eigenes, von der Literatur unterschiedenes ‚mediales‘ Realismus-Konzept entwickelt oder ob Zeitschriften wie die Gartenlaube nicht gerade mit ihrem Bildmaterial das ‚Verklärungs‘-Konzept der belletristischen Literatur gedoubelt haben.

Für die weitere Arbeit mit der höchst lesenswerten Studie von Barthold, an der künftige Forschungen zum ‚medialen Realismus‘ nicht werden vorbeikommen, sei angemerkt, dass es bei den Literaturangaben neben ungewöhnlichen Einordnungen im Alphabet auch falsche Zuschreibungen gibt. So wäre der Rezensent gern Verfasser des Artikels zu Pfisters Mühle im Raabe-Handbuch, doch gebührt diese Ehre Lothar L. Schneider.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Willi Wolfgang Barthold: Der literarische Realismus und die illustrierten Printmedien. Literatur im Kontext der Massenmedien und visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
270 Seiten, 45 EUR.
ISBN-13: 9783837655933

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