Von einer Zeitenwende

Yulia Marfutovas Romandebüt „Der Himmel vor hundert Jahren“

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht ungewöhnlich, dass einem Roman sogenannte Paratexte vorangestellt werden. Manchmal lenken diese Texte eine Lektüre in eine bestimmte Richtung und helfen uns Leserinnen und Leser auf etwas aufmerksam zu werden, das sonst leicht im Verborgenen des Textuniversums bleiben würde. Yulia Marfutova, die 1988 in Moskau geboren wurde und heute in Boston lebt, stellt ihrem auf Deutsch geschriebenen Romanerstling eine Widmung an die Großeltern voran. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Buch als eine Familiensaga gelesen werden kann. Tatsächlich bringt Marfutova in die deutschsprachige Literatur einen Ton ein, der an die russische Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erinnert.

Wie Iwan Gontscharow seinen wohl faulsten Helden der Weltliteratur Ilja Iljitsch Oblomow so zeichnet, dass er jeder Leserin und jedem Leser ans Herz wächst, sind auch die durchaus nicht unproblematischen Charaktere in Der Himmel vor hundert Jahren so vor uns hingestellt, dass diese kein allzu hartes Urteil erwarten müssen. Das bedeutet nicht, dass der Roman frei ist von Stellungnahmen und Einschätzungen. Er enthält eine Form von Gesellschaftskritik, die wir in ihrer humorvollen und anrührend magischen Art vielleicht von Michail Bulgakows Der Meister und Margarita kennen. Es ist ein großes Verdienst der Autorin, diese Welt in ihrer Art der Darstellung in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eingebracht zu haben. Zu Recht ist der Roman nominiert für den Debütpreis des Buddenbrookhauses und es ist keine Überraschung, dass der schmale Roman auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht.

Die Handlung des Romans ist einerseits dürftig. Da gibt es in dem weitgehend von der Umgebung isolierten rückständigen Ort an einem großen Fluss viel Tratsch und Aberglauben, rivalisierende Älteste, junge Männer, die zum Krieg eingezogen wurden, den alkoholsüchtigen Steuereintreiber der Grundherrschaft und den Wunsch, das Wetter vorhersagen zu können. Und dann ist da noch die ganz große Veränderung: die Revolution. Sie tritt in den Roman als „Realität“ und verhält sich zunächst wie der Steuereintreiber des Gutsherren: sie lässt sich mit Speis und Trank bewirten. Die „Realität“ verkündet, „dass die Zukunft, die bekanntlich später noch kommen soll, fürs Erste dringend auf die Brennerei-Künste, die Äcker, die Ställe des Dorfes angewiesen ist. Also, bitte! Her mit allem. Jeder hat seinen Teil beizutragen.“

Im Dorf gibt es zwei alte Männer, mit ihren jeweiligen Anhängerinnen und Anhängern. Der Dorfälteste Ilja sagt das Wetter mit Hilfe eines Röhrchens, das er als Schwemmgut am Fluß gefunden hat und wie einen Schatz hütet, voraus. Seine Anhänger, die Erwachsenen, interpretieren sein Schweigen über die Veränderungen des Röhrchens – welch wunderbare Metapher für die Grenzen der Wissenschaft. Der alte Pjotr – er redet mit dem Fluss und behauptet, spuckend das Wetter besser vorhersagen zu können als „das Röhrchen“ – zieht vor allem die Kinder an und die Frau Iljas, Inna Nikolajewna. So stehen sich Ilijanismus und Pjotrianismus in einer Art Pattstellung gegenüber und die weiteren Themen am Markt sind: „der Gutsbesitzer. Der mit den sauberen Nägeln. Die Ehemänner. Die Kinder. Die Nachbarn. Die Aussaat […]“ bis Männer am Fluss auftauchen.

Die „Realität“ bedingt auch das Abmontieren der Ikone. Wo diese aufgestellt war, ist jetzt „nichts als gähnende Leere – zu der Iljas, zu der Inna Nikolajewnas, zu der Wadiks und Annas Blicke trotz allem beständig wandern. Morgens, mittags, abends. So viel zur Macht der Gewohnheit, die eine sehr große Macht ist.“ Es lässt sich schon darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn von der Religion, der gewohnheitsmäßige Blick auf die Leere zurückbleibt.

Yulia Marfutovas Dorfgeschichte ist so weniger eine Familiensaga als ein politischer Roman, der modellhaft darstellt, wie Veränderung in einer Gesellschaft passiert. In einer Welt, in der alles im bzw. am Fluss ist – der Zugang zur und Umgang mit der Natur, die Herrschaftsverhältnisse, die kriegerischen Ereignisse rundherum –, verändert sich auch das Verhältnis von Mann und Frau. Letzterer Veränderung werden wir gewahr am Beispiel des Heranwachsens von Innas und Iljas Enkelkind Annuschka, „ein kluges Kind, klüger als die meisten Burschen im Dorf. Jedes Wort merkt sie sich.“

So ist das knapp zweihundertseitige Buch Familien-, Dorfgeschichte, politischer und Coming of Age-Roman. Das geht gut zusammen mit den beiden kurzen Paratexten nach der Widmung an die Großeltern. Es sind dies von Laurence Sterne „Digressions, incontestably, are the sunshine …“ und von Salman Rushdie „But I digress“. Es ist im Roman, wie beim Reden am Marktplatz: „Immer wenn man mit einer Sache anfängt, schweift man unweigerlich ab und hin zu wieder und immer wieder anderen Dingen.“ Umso erstaunlicher, welch geschlossenes Werk Marfutova da gelungen ist, in dem man keine Abschweifung missen möchte und in das man sich regelrecht hineingezogen fühlt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001896

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