Ist Lernen konfessionell bedingt?

Andreas Dietmann stellt in einem opulenten Band den „Einfluss der Reformation auf das spätmittelalterliche Schulwesen in Thüringen“ vor

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Non scolae, sed vitae discimus“ war vermutlich auch im späteren Mittelalter eine Sentenz, die im Kontext des Latein-Unterrichts zur Sprache kam, wobei dieser tendenziell dann aber doch eher an kirchlichem Latein ausgerichtet gewesen sein dürfte. Diese Zeit, zwar noch vor der Reformation, aber auch schon von künftigen Verwerfungen und Brüchen überschattet – oder besser gesagt: deren Auslöser gewissermaßen in sich tragend –, war von weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, die auch ihre Auswirkung auf das Lehren und Lernen hatten. Sicherlich ist die von Martin Luther angestoßene Reformierung beziehungsweise dann vollzogene Spaltung der abendländischen Kirche aufgrund des Diktums ‚sola scriptura‘ als Auslöserin einer deutlichen Verbreiterung und Ent-Exklusivierung ein noch größerer Bildungsmotor gewesen, aber bereits in vorreformatorischer Zeit wurden Weichen in diese Richtung gestellt. Durch die steigende Bedeutung der Städte, und hier ist nicht zuletzt das wirtschaftliche Potenzial gemeint, entwickelte sich sukzessive eine laikale Kultur der Bildungsvermittlung, die nicht komplett mit vorhandenen Traditionen brach, aber doch neue Entwicklungen mit sich brachte. Oder anders formuliert: Diese Epoche birgt die Wurzeln der modernen Bildungsgesellschaft.

An dieser Stelle kommt das vorliegende Buch ins Spiel, das diesen Aspekt thematisch wie zeitlich beleuchten soll. Dass es sich dabei um kein einfaches Unterfangen handelt, liegt auf der Hand, dennoch: Publikationen – oder vielmehr deren Ankündigungen – wecken immer auch Erwartungen, die in gewisser Hinsicht Vorurteilscharakter haben. Und so ist es auch mit dem von Andreas Dietmann erstellten umfangreichen Band Der Einfluss der Reformation auf das spätmittelalterliche Schulwesen in Thüringen. Trotz der irritierenden an den Titel anschließenden Zeitspanne 1300–1600, die ja zu zwei Dritteln eben nicht im konfessionellen Zeitalter liegt, schien die Verbindung zwischen diesen beiden Themengebieten quasi naturgegeben nahezuliegen – und das ist in gewisser Hinsicht auch grundsätzlich immer noch der Fall. Es gibt allerdings ein ‚aber‘, das sich erst mit der Lektüre zu erschließen vermag. Im Allgemeinen gilt sicherlich, dass selbst diejenigen, die der Theologie des Reformators kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, kaum geneigt sind, die im weitesten Sinne literaturgeschichtlich wirksame Leistung der Luther’schen Bibelübersetzung in Zweifel zu ziehen. Als ‚Bildungspolitiker‘ hingegen ist er kaum bekannt, was, so ist anzunehmen, durch die Forschungen Dietmanns geändert werden sollte.

Denn, und darauf rekurriert dieser Band zumindest im weiteren Sinne: Luther schuf ein Fundament, aus dem in den Folgejahrhunderten ein eindrucksvolles System von Lehrinstituten entstand. Dass nun gerade die Reformationsbewegung direkt wie indirekt ihren Niederschlag gerade im Bereich der Bildung – und zwar in weitestem Sinne auch der Bildung für breitere Kreise – fand, kann nicht verwundern, ist dies doch die konsequente Folge sowohl der reformatorischen Priesterschaft aller Laien als auch einer der Hauptsäulen der Theologie Luthers, die sich sola scriptura, also allein durch die (Kenntnis und Beachtung der Heiligen) Schrift ergab. Dieser grundsätzliche Aspekt geht im Übermaß an Detailinformationen und dem breiten zeitlichen Horizont, der in den Blick genommen wird, ein Stück weit verloren. Gleichwohl ist dieses Vorgehen nicht grundsätzlich falsch, lassen sich doch im Zusammenhang mit den vorangehenden spätmittelalterlichen, durch den ökonomischen Erfolg bedingten, Emanzipationserfolgen des städtischen Bürgertums bereits zuvor Ansätze von Bildungsreformen erkennen, die vor allen Dingen dadurch gekennzeichnet sind, dass es auch laikale Bildungseinrichtungen gab, das Schulsystem also nicht mehr exklusiv in kirchlichen Händen lag.

Aus diesem Grund setzt der Verfasser seine Argumentation deutlich früher an, indem er die Anfänge eines systematischen oder auch systematisierenden Schulunterrichts im späten Hochmittelalter an den Anfang seiner Untersuchung stellt und mit der Spanne zwischen 1300 und 1600 einen ereignisgeschichtlich breiten, von der rein chronologischen Entwicklung her aber noch gut überschaubaren Rahmen setzt. Die sich bei diesem dann doch weit reichenden zeitlichen Umfang ergebenden Probleme werden in der breit angelegten Hinführung dargelegt. Es ist wohl vor allem die disparate Quellenlage, die insbesondere in vorreformatorischer Zeit durch den Mangel gekennzeichnet ist – oder womöglich auch der ambitionierte, aber nicht gänzlich gelungene Versuch, das Thema nicht nur in quasi ‚organisierter’ Breite, sondern eben auch in historischer Tiefe zu behandeln, was hier zu Unwuchten führt.

Und so nimmt die Darstellung des spätmittelalterlich-vorreformatorischen Schulwesens im thüringischen Raum in einem ersten Großblock stattliche 150 Seiten ein. Exemplarisch wird hier das kirchliche Schulwesen in Altenburg dem bürgerlich-städtischen System in Saalfeld gegenübergestellt und ein besonderer Blick auf die Verhältnisse in der Reichsstadt Mühlhausen gelenkt. Diesen drei topographisch orientierten Unterkapiteln folgt ein allgemeiner gehaltener Teil, der die Ergebnisse der vorherigen Kapitel zusammenfasst und dabei dezidiert auf weiterreichende Rahmenbedingungen wie etwa Schulordnungen, aber auch rechtliche wie wirtschaftliche Folgen laikaler Schulträgerschaftsmodelle eingeht. Dass dieser Ergebnissicherung des zuvor Ausgeführten der ‚Sonderfall Erfurt‘ nachgestellt wird, verwirrt allerdings, da die an sich sinnvolle Reihung damit gewissermaßen rückgängig gemacht wird. Dies gilt in gewisser Hinsicht auch für das Abschlusskapitel dieses Teils, das „Schulverbreitung, Schulbesuch und Immatrikulationen vor der Reformation“ zum Inhalt hat.

Das Ganze wirkt stringent. Und doch lassen sich Irritationen respektive Unschärfen, die selbige hervorrufen, immer wieder erkennen. Durchgängig wird in deskriptiver, oft auch paraphrasierender Manier verfahren, sodass mitunter nicht erkennbar ist, welche Gesamtrelevanz die entsprechenden Ausführungen eigentlich haben. Mitunter ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, der Verfasser habe sich schlicht ‚verzettelt‘. Zudem sind eben auch die Schwerpunktsetzungen nicht immer erkennbar – oder anders formuliert: Es scheint, als habe Dietmann, vor die Alternative gestellt, Relevanzen zu setzen oder um keinen Preis auch nur Kleinigkeiten auszulassen, Letzteres gewählt. Und das ist der Lesbarkeit des Textes nicht unbedingt zuträglich.

Ein kleines Beispiel sei angeführt. Hinsichtlich des Changierens zwischen Choral- und Figuralgesanges ist Folgendes zu lesen: „Obgleich die Musik weiterhin ein charakteristischer Bestandteil des spätmittelalterlichen Schulwesens war, hatte sich der Unterricht im 15. Jahrhundert auch darüber hinaus von den einstigen Ursprüngen der kirchenmusikalischen Notwendigkeit gelöst.“ Gemeint ist offenbar, dass aufgrund der gestiegenen Anzahl von Zöglingen ein größerer Teil der Schüler spätmittelalterlicher kirchlicher Schulen nicht mehr für den Kirchenchor herangezogen wurde. Das ist so naheliegend, dass es der reichlich aufgeschwemmt wirkenden Beschreibung nicht bedürfte, die ja ohne die beigegebene Erklärung unverständlich bliebe. Derlei nachgerade ‚barock‘ anmutende Formulierungen finden sich immer wieder und machen die Lektüre nicht eben einfacher.

Im folgenden Kernteil, eben jenem, der sich auf die im Rahmen der Konfessionalisierung Mitteldeutschlands vollzogenen Veränderungen bezieht, wird dieser Aufbau übrigens – wenngleich variiert – wieder aufgegriffen. Erneut werden die Städte Altenburg, Saalfeld, Mühlhausen und – wieder unter dem Attribut eines ‚Sonderfalles‘ – die Stadt Erfurt exemplarisch für die Entwicklungen eines reformatorisch intendierten und geprägten Schulwesens angeführt. Hier wird dann allerdings auch das grundsätzlich Neue erörtert und damit der im Titel angesprochene Bereich der Publikation freigelegt. Mehr noch als in der Darstellung der vorhergehenden, also spätmittelalterlich-vorreformatorischen Verhältnisse wird hier deutlich, dass sich Andreas Dietmann intensiv mit der Materie befasst sowie im Zuge seiner Arbeit das Quellenmaterial intensiv – sowohl in der Breite als auch in der Tiefe – untersucht und in seine Argumentations- und Gedankengänge eingearbeitet hat. Allerdings geht auch hier die sich beim Blick auf die Gliederung offenbarende Klarheit der Struktur im Textgefüge immer wieder verloren. Die Aneinanderreihung von Detailinformationen, die jede gewiss ihren Wert hat, und deren Zusammenstellen unzweifelhaft verdienstvoll ist, führt die Leserinnen und Leser nicht wirklich zielorientiert an das Thema heran. Intensivere Lektüre hinterlässt letztlich oft einfach ein Gefühl der Ratlosigkeit, die dem Engagement des Verfassers sicherlich nicht angemessen ist.

Wie ist das Buch also zu beurteilen? Der Gesamteindruck ist zumindest zwiespältig, und es ist daher nicht leicht, dem Verfasser und seiner Arbeit vollumfänglich gerecht zu werden. Das Ganze ist hinsichtlich der guten Strukturierung stringent und folgerichtig aufgebaut und ermöglicht im Prinzip den Zugang zu einer Welt, die (bildungs-)politisch eine Umbruchs- und anschließend eine Konsolidierungsphase durchlief, die gleichwohl aber keinen kompletten Bruch mit den vorhergehenden Verhältnissen bedeutete. Dies nochmals und exemplarisch zu verdeutlichen, ist sicherlich nicht das geringste Verdienst des Verfassers, das in der vorliegenden Publikation aber so problematisch umgesetzt ist. Das Zusammentragen der entsprechenden Daten und Informationen ist das eine, die grundsätzlich geschickte ‚Spiegelung‘ der schulischen Verhältnisse in den ausgewählten Städten das andere, was den unzweifelhaften Wert der vorliegenden Publikation ausmacht. Im Moor der Details jedoch gehen Leserinnen und Leser früher oder später in die Irre, weil eben tragfähige und gangbare Pfade entweder fehlen oder zu wenig gekennzeichnet sind. Dazu trägt auch die Umsetzung bei, denn der fast durchgängig eher aufzählend beziehungsweise aneinanderreihend anmutende Duktus ist eben nicht unbedingt das Element, das zur Weiterbeschäftigung mit dem doch so wichtigen Thema einlädt.

Gerade bei den seinerzeit anstehenden Veränderungen oder später dann Konsolidierungen des reformatorisch initiierten und geprägten Bildungswesens, die – das geht teilweise auch aus den jeweiligen Textpassagen hervor – beileibe nicht immer konfliktfrei verliefen, wäre nicht nur das Heranziehen, sondern auch die Wiedergabe von entsprechenden Quellentexten sinnvoll und anregend gewesen. Bis auf die immer wieder erfolgenden, meist aber allenfalls einige Zeilen umfassenden Quellenausschnitte ist derlei jedoch nicht zu finden. Hier hätte die Einbeziehung auch längerer Textquellen nicht nur zu einer besseren Veranschaulichung, sondern eben auch der Möglichkeit, eigene Ansätze zu entwickeln, geführt und damit gewiss dem Anliegen Andreas Dietmanns gedient.

Das vorliegende Werk ist überdies schlicht zu umfangreich geraten. Die Gegenüberstellung der Verhältnisse vor und nach der Reformation wirkt beim Blick auf die Gliederung charmant und überzeugend, was auch für die angestrebten Spiegelungen im Hinblick auf die Referenzstädte gilt. In dieser Publikation jedoch stehen beide Blöcke eher nebeneinander, als dass sie korrespondieren, und für die hier in den Fokus gestellten Aspekte des (nach-)reformatorischen Bildungswesens in Mitteldeutschland ist der Blick auf die Zeit davor nur von geringer Aussagekraft. Dies gilt auch für andere Abschnitte des Buches, so etwa die angehängten „Diagramme zur Immatrikulationsfrequenz thüringischer Schüler an den Universitäten Erfurt, Leipzig, Wittenberg und Jena“. Die Sammlung der entsprechenden Daten sowie die Umsetzung in die vorliegende graphische Form ist zweifellos aufwendig, aber so allenfalls bedingt von Nutzen. Und es wäre auch wünschenswert gewesen, neben den umfangreichen – und sehr nützlichen – Registern zu Orten und Personen auch ein Sachregister angeführt zu finden, das gerade angesichts des Umfangs die Handhabung des Textes erleichtern könnte.

Einer Publikation zu attestieren, es handele sich um eine Fleißarbeit, trägt eigentlich bereits den Impetus des Beleidigenden in sich, weil das offensichtliche Lob ein vergiftetes ist. Halb und halb gilt dies auch für das vorliegende Buch. Das bedeutet: Mag der Umfang für die Erlangung des Doktorgrades erwünscht sein, so wäre der Autor bei der Veröffentlichung für den ‚breiten Markt‘ wohl besser beraten gewesen zu kürzen, um die Lesbarkeit zu erleichtern. So lobenswert das Aufspüren oft peripherer Details auch ist, zum allgemeinen und lesefreundlichen Verständnis wäre das eine oder andere besser in der Rohform verblieben. Damit sollen nicht Absurditäten wie Readers Digest oder – im vermeintlich wissenschaftlichen Kontext – Blinkist salonfähig gemacht werden, sondern sinnvoller Verdichtung, die den Kern des Ideenganges zu übermitteln vermag, das Wort geredet sein. Zumal überdies die schiere Überfülle an – mitunter eben auch eher randständigen – Informationen es schwer macht, zum eigentlichen Kern der Argumentationen vorzustoßen, was angesichts des wichtigen und interessanten Themas besonders bedauerlich ist.

Darüber hinaus hätte eine deutlich gestrafftere Publikation, die gleichwohl ihrem Entwicklungs- und Argumentationsweg adäquat gewesen wäre, sicherlich allein schon wegen des geringeren Umfanges die Herstellungs- und damit auch die Verkaufskosten niedriger ausfallen lassen. So aber fallen die 125 Euro, die der Band im Verkauf kostet, als gewissermaßen doppelter Hemmstein für den Erwerb ins Gewicht. Und so steht zu vermuten, dass diese Publikation wohl in erster Linie in Universitäts- und Archivbibliotheken anzufinden sein wird, wo sie zweifellos ihren Nutzen entfalten kann. Für eine weiträumigere Verbreitung aber wäre weniger hier ganz gewiss wirklich mehr gewesen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Andreas Dietmann: Der Einfluss der Reformation auf das spätmittelalterliche Schulwesen in Thüringen (1300-1600).
Böhlau Verlag, Köln 2018.
1096 Seiten, 125,00 EUR.
ISBN-13: 9783412508128

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