Im Dazwischen leben
Tsitsi Dangarembga schickt ihre Protagonistin in den Romanen „Aufbrechen“ und „Überleben“ durch Simbabwes Fährnisse zwischen kolonialen Normen, autochthonem Patriarchat und neuer Unterdrückung von anfänglicher Hoffnung bis zu späterer Desillusionierung.
Von Edith Werner
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ich war nicht traurig, als mein Bruder starb.“ Trotzig, wahrheitsliebend und selbstkritisch, so führt sich die zu Beginn von Aufbrechen dreizehnjährige Tambudzai Sigauke, genannt Tambu, ein. Wir ahnen es, das wird ihren Weg von der Kindheit in ihrem heimatlichen Schona-Dorf bis zu ihrem Berufsleben in der Hauptstadt Harare, das Gegenstand des dritten Romans ist, nicht leicht machen. Der ebenso fesselnde mittlere Roman über Tambus Zeit im katholischen Internat, The Book of Not, liegt leider noch nicht in deutscher Übersetzung vor.
Wir können Aufbrechen, im englischen Original schon 1988 erschienen und inzwischen als Klassiker in der afrikanischen Literaturszene betrachtet, als Entwicklungsroman lesen und als Auseinandersetzung mit den kolonialen Zumutungen im Rhodesien Ian Smiths der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Tambu ist sich sicher: So wie ihre Mutter, resigniert zwischen allzu häufigen Schwangerschaften und dem Schuften auf dem Feld und im Haus dahin vegetierend, will sie nicht enden. Der haltlose Vater und der früh verstorbene, arrogante Bruder bieten auch keine Orientierungshilfe. So vollzieht sich Tambus Entwicklung in der Auseinandersetzung mit dem Onkel, dem so benevolenten wie autoritären Vaterbruder Babamkuru. Er ist der gute Schwarze. Er durfte mit einem Stipendium ein paar Jahre in England studieren und ist nun Leiter einer Schule, die er ebenso wie seine zahlreiche Familie mit eiserner Hand regiert. Tambus sozialer Aufstieg beginnt mit der Aufnahme in Babamkurus wohlhabenden und wohlgeordneten Haushalt und dem Besuch der Schule, die eigentlich nur ihrem Bruder hatte zugute kommen sollen. Ihr erstes Schulgeld verdient sie sich mit dem Verkauf von selbstgezogenem Mais, dann springt der Onkel ein.
Der Autorin gelingt es, auch den nicht afrikakundigen Leser Tambus Welt von innen miterleben zu lassen. Die Ich-Form und die lebendigen Dialoge ziehen uns ganz hinein. Dangarembga ist in ihrem Heimatland vor allem als Filmregisseurin und Theaterautorin hervorgetreten. Diese ästhetische Erfahrung kommt ihren Romanen zugute. Klug faltet sie das Dilemma, in dem sich eine Schwarze junge Frau in diesem Umfeld befinden muss, das ständige Schwanken zwischen Anpassung und Rebellion, in zwei Personen auf. Tambus Kusine Nyasha, Babamkurus Tochter, erleidet das, was Tambu im ersten Roman noch erspart bleibt, den Zusammenbruch, der sich in Bulimie und Nervenkrise äußert. Die Jahre in England haben Nyasha dem traditionellen afrikanischen Leben entfremdet, sie gegen die patriarchalische Ordnung des Familienlebens und die prüde Gängelung der Mädchen eingenommen und in ihr einen frühreifen Zynismus wachsen lassen. Vergeblich rennt sie gegen die Welt ihres Vaters an und flüchtet schließlich in die Selbstzerstörung. Tambu bewundert die intelligente, eigenwillige ältere Kusine, ohne sie ganz zu verstehen. Sie selbst sucht noch den Weg des Erfolgs und der Anerkennung. Die Nervous Condition, so der schwer übersetzbare Originaltitel, bringt allein Nyasha an den Rand des Todes. Tambu dagegen entlässt die Autorin mit der Aussicht auf die Aufnahme in eine Eliteschule, ausgestattet mit einem der raren Stipendien für Schwarze. Sie wird ihren Weg machen, wird uns signalisiert, eine Hoffnung, die schon in dem zweiten, unübersetzten Roman der Trilogie, der in eben diesem Internat spielt, zerstört wird. Hier fließt sicher viel von Dangarembgas eigener Lebensgeschichte zwischen England und Simbabwe ein.
Filmisch plastisch und dicht erleben wir auch das reiche Arsenal an Nebenfiguren. Wie vom Kamerascheinwerfer beleuchtet, treten sie in einzelnen Szenen hervor. Alternative weibliche Lebensformen scheinen auf, wenn die ungebildete aber freiheitsliebende Tante Lucia die patriarchalische Ordnung mit wechselnden Liebhabern unterläuft, während Maiguru, die wie der Onkel in England ausgebildete andere Tante, sich als unerschütterlich loyale Frau Babamkurus und Mutter Nyashas selbst verleugnet.
Nicht immer gelingt es Dangarembga, den Fehler vieler Romane, in denen durch einen Kindermund gesprochen wird, zu vermeiden. Gemessen an ihrem Alter macht sich Tambu manchmal zu viele kluge Gedanken, doch wird sie nie unglaubwürdig. Sie kann ebenso kindlich verspielt sein, sozusagen eine schwarze Pippi Langstrumpf mit tragischem Hintergrund. Auch umschifft die Autorin in beiden Romane die Klippen von Didaktik und ungestalteter politischer Anklage. Da ist alles Dialog und pralle Handlung.
Die Übersetzung von Aufbrechen wurde der afrika-erfahrenen Hand von Ilija Trojanow anvertraut. Abgesehen von kleinen sprachlichen Manierismen, wie dem Gebrauch des Infinitivs ohne zu, trifft Trojanow den Stil Dangarembgas gut.
So sehr es anzuerkennen ist, dass ein kleiner Verlag wie Orlanda diese Veröffentlichungen gewagt hat, so sehr mag man die eher verkaufsfördernden als kongenialen simplen Titel und Titelbilder beider Romane beklagen. Für Nervous Condition, dessen Titel allein schon Chinua Achebes epochemachendem Things Fall Apart an die Seite gestellt werden kann, hätte sich vielleicht auch im Deutschen ein differenzierterer Titel finden lassen. Die große Qualität von Dangarembgas Schreiben, Ambiguität durchzuhalten und plakative Urteile zu vermeiden, kann man so erst in den Büchern entdecken. Dabei lässt Dangarembga uns spüren, dass sie ihren Personen nahe ist. Das macht sie glaubwürdig.
Ein weitaus dunklerer Grundton herrscht in Überleben. In gewisser Weise hat Tambu wie ihre Mutter resigniert. Nachdem sie einen gut bezahlten Job bei einer Marketingagentur freiwillig aufgegeben hat, lebt sie unverheiratet und von Selbstzweifel geplagt in einem Hostel von Tag zu Tag dahin. Nyashas selbstzerstörerischen Ausbruch im ersten Roman kann man als Vorausdeutung auf Tambus Scheitern lesen. Der Roman hat seinen Höhepunkt in der beklemmenden Szene in Tambus Dorf, wo sie ihre Mutter und andere Bewohner im Auftrag ihrer Agentur überredet hatte, für vermeintlich wohlmeinende Öko-Touristen einen angeblich originalen Tanz aufzuführen und dabei ihre Brüste zu entblößen, was in ihrem Dorf keineswegs üblich ist. Ihre Mutter hatte zunächst zögernd eingewilligt, weil der tägliche Überlebenskampf im postkolonialen Simbabwe Robert Mugabes, der vom Freiheitskämpfer zum korrupten Diktator mutiert war, genauso schwierig ist wie im Rhodesien Ian Smiths. Doch brechen die Frauen aus der verlogenen Veranstaltung schließlich aus, und alles endet im Chaos. Auch hierfür gab es in Aufbrechen eine Vorausdeutung. Um dem Komment Genüge zu tun, hatte dort Babamkuru angeordnet, dass die unverheirateten Eltern Tambus eine pomphafte Hochzeit nachholen sollten, eine Farce, der sich Tambu damals noch verweigerte. Mit den Dorfszenen und den skizzierten Viten von Tambus anderen Geschwistern transportiert Dangarembga Informationen über die brutalen Machtkämpfe und den Quasi-Bürgerkrieg in Mugabes Simbabwe. Auch hier gelingt es ihr, politische Fakten in Handlung umzusetzen.
Anders als in Aufbrechen wählt die Autorin in Überleben die zweite Person als Erzählperspektive. Die Identifikation des Lesers mit der Protagonistin wird nicht mehr gesucht. Eher scheinen wir einem Gespräch der Autorin mit ihrer Hauptperson zuzuhören. Auch der Stil hat sich geändert. An die Stelle der zügig und stringent geführten Handlung in Aufbrechen tritt eine eher lockere Reihung von Episoden. Alles löst sich auf, und Tambu zweifelt mehr und mehr nicht nur an der neuen Gesellschaftsordnung, sondern auch an sich selbst und ihrer Rolle als erfolgreiche, mit der Zeit gehende schwarze Frau. Keine klare Gegenüberstellung Onkel – Nichte, alte Ordnung – neue Hoffnungen mehr. Das unübersichtliche, gefahrenreiche Großstadtleben Harares macht solche scheinbaren Gewissheiten unmöglich. Wir können nicht mehr mit Tambu hoffen, wir können nur mit ihr leiden. „Tsitsi Dangarembga writes the pain“ (dt. „Tsitsi Dangarembga schreibt den Schmerz“) ist das Fazit einer ihrer Landsmänninen in der simbabwischen Zeitung The Zimbabwean.
In Überleben ist auch die Sprache anders. Oft reihen sich kurze Sätze fast atemlos aneinander. Das mag durch Anette Grubers Übersetzung noch betont werden, entspricht aber ebenso dem Stilwechsel zwischen den beiden Romanen.
Auch hier hilft es uns, den englischen Originaltitel anzusehen. This Mournable Body (dt. Dieser betrauernswürdige Körper) ist ein Echo auf Teju Coles Essay Unmournable Bodies (dt. Nicht betrauernswürdige Körper). In einem Interview in der südafrikanischen Wochenzeitung Mail & Guardian stellt Dangarembga ausdrücklich diesen Bezug her. Während Cole beklagte, dass eine Gruppe von in Afrika ermordeten Studenten in der medialen Öffentlichkeit kaum beklagt wurde, während die Toten von Charlie Hebdo ein enormes Echo fanden und mit Ich bin Charlie betrauert wurden, will Dangarembga zeigen, dass auch afrikanische Körper betrauernswert sind. Es gibt inzwischen in Afrika einen reichen innerliterarischen Dialog. Die Zeiten, als man sich ausschließlich auf westliche Literatur bezog, sind vorbei.
Welche die betrauernswerten Körper sind, überlässt Dangarembga unserer Interpretation. Ist es die mühebeladene, düpierte Mutter, war es Nyasha in ihrem verzweifelten Ausbruch, ist es Tambu selbst in ihrem Selbsthass? Ist es ihre sanfte, jüngere Schwester Netsai, die im Guerilla Krieg ein Bein verlor? Nicht alles muss ausgesprochen werden. Wir können Dangarembga wieder darin vertrauen, dass sie in der Schwebe lässt, was nicht eindeutig erklärt werden kann, noch sollte. Das ist um so beachtenswerter, als Dangarembga im wirklichen Leben in ihrem Land als politische Aktivistin eher auf griffige Slogans vertrauen muss. Ihre kompromisslose Forderung nach mehr Demokratie und freierer Meinungsäusserung brachte sie 2020 vorübergehend ins Gefängnis.
Zwischen Aufbrechen und Überleben liegen 32 Jahre, fast eine halbe Lebensspanne. Der Bogen, den Dangarembga mit dem Beginn der Trilogie 1988 gespannt hat, hält. Aufbrechen war nicht nur ein vielversprechender Erstling. Doch die Desillusionierung der späteren Jahre hat sich wie ein bedrückender, grauer Schleier auf das Leben Tambus gelegt und droht, sie von innen zu verzehren. Oft vermittelt ihre scheinbare Ruhe und Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Situation den Eindruck, sie wolle sich gegen den Schmerz immunisieren. Dangarembga verkündet uns keine Botschaft, wenn wir nicht eine unauffällige Nebenbemerkung von Tambus Kusine als solche auffassen wollen: „Manchmal ist, was für einen selbst gut ist, auch gut für alle.“ Schließlich kehrt Tambu nach Hause ins Dorf zurück. Sie beginnt, einfache Aufträge für ihre mit einer Sicherheitsfirma wohlhabend gewordene Tante Lucia auszuführen. Dieser auf zwei Seiten zusammengedrängte Schluss wirkt ein wenig angeklebt, doch vermeidet Dangarembga auch hier einfache Antworten. Der Kreis schließt sich, ob für eine geläuterte oder eine resignierte Tambu, bleibt offen.
Mit Tsitsi Dangarembga, für Überleben 2020 in die Shortlist des Booker Preises aufgenommen, wurde 2021 mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eine bedeutende simbabwische Autorin und eine Stimme der Freiheit geehrt.
Es wäre wünschenswert, wenn sich Orlanda oder ein anderer Verlag entschließen könnte, auch das mittlere Buch auf Deutsch zu veröffentlichen. The Book of Not (dt. Das Buch vom Nein) ist nicht irgendeine Internatsgeschichte. Es ist das missing link zum besseren Verständnis von Überleben. Wie schon im Titel erkennbar, ist die Negation, in die Tambu getrieben wird, hier bereits angelegt.
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