Die Frau, die nicht weinen kann
Mit Selma Falck hat Anne Holt in ihrem neuen Kriminalroman „Ein Grab für zwei“ eine irritierende Ermittlerin entworfen
Von Miriam Seidler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDem ersten Satz eines Romans wird gerne eine zentrale Bedeutung für seine Rezeption zugewiesen. Er ist gewissermaßen die Tür, durch die der Leser den Raum der Erzählung betritt. Der Erzähleingang muss den Leser über die Schwelle locken mit einer kühnen Metapher, einem eigenwilligen Ereignis oder einfach nur einer gelungenen Formulierung. Am Beginn der Erzählung lässt sich somit auch der ästhetische Anspruch des Autors bzw. der Autorin ablesen. Damit gibt dieser erste Satz aber auch die Fallhöhe vor. Und so weckt der Einstieg in Anne Holts gerade auf Deutsch erschienenem Kriminalroman Ein Grab für zwei hohe Erwartungen:
Wenn Oslo ein Körper war, dann war das hier der Anus der Stadt.
Genau diese Wohnung.
Dieses Arschloch von Wohnzimmer.
Die stakkatohaften ersten Sätze sind fulminant und irritierend zugleich. Die norwegische Hauptstadt wird als Organismus beschrieben und wer immer hier spricht, ist an seinem äußersten Ende, im sozialen Abseits angekommen. Der Wechsel von einer gepflegten, hochsprachlichen Sprechweise hin zu einer umgangssprachlichen Ausdrucksweise zeigt, dass die Sprecherin oder der Sprecher sich in unterschiedlichen Welten bewegen kann. Die Verwendung des deiktischen „diese“ bzw. „dieses“ lässt sofort erkennen, dass sich das Ich in diesem Wohnzimmer befindet, dass es doch so inakzeptabel findet.
Die Figur, mit deren Blick der Leser in den Roman einsteigt, ist der von Selma Falck. Die erfolgreiche Anwältin, ehemalige Olympiasiegerin und Ehefrau eines Abgeordneten hat gerade den gesellschaftlichen Absturz hinter sich. Mit der Wahrnehmung der neuen Wohnung wird der Aufprall am Tiefpunkt ihres Lebens beschrieben. Wie der Leser im Verlauf der Erzählung erfährt, hat die Anwältin Gelder veruntreut, die sie in Pokerrunden und an der Börse verspielt hat. Der Unternehmer Jan Morell, der festgestellt hat, dass auf seinem Treuhandkonto große Summen fehlen, hat sie nicht angezeigt, sondern unter der Bedingung, dass sie die Gelder zurückbezahlt, nicht mehr als Anwältin arbeitet und sich professionelle Hilfe zur Bewältigung ihrer Abhängigkeit sucht, von einer Anzeige abgesehen. Der Glaube, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat, ist eine seiner Maximen und hat auch bereits anderen Mitmenschen geholfen, das Gesicht zu wahren. Selma Falck hat die Aufdeckung ihrer Sucht nicht nur das berufliche Aus beschert, sondern auch die Trennung von ihrer Familie.
Die eingangs beschriebene Wohnung wurde ihr von einem Kleinkriminellen vermittelt und steht sinnbildlich für ihre gesellschaftliche Isolation. Trotz der scheinbar ausweglosen Situation beginnt der Roman für die Protagonistin mit einem Lichtblick. Jan Morell benötigt ihre Hilfe: Kurz vor den Olympischen Spielen wird seine Adoptivtochter, die junge Skilangläuferin Hege Chin Morell, des Dopings überführt, obwohl sie ihre Unschuld beteuert. Selma, die als Anwältin bereits erfolgreich des Dopings angeklagte Sportler vertreten hat, scheint ihm bestens dazu geeignet, den rätselhaften Fall zu lösen:
„Betrachte es als Wette“, sagte er mit scharfer Stimme. „Deine allerletzte. Wenn du die Erklärung dafür findest, wie und warum bei einer ehrlichen, sauberen Spitzensportlerin auf unerklärliche Weise ein positives Testergebnis herauskommt, die dadurch das eindrucksvollste Erlebnis ihres Lebens auf Spiel setzt, bekommst du das Geld zurück.“
Mit Jan Morell ist Selma Falck nun nicht nur wiederholt mit demjenigen konfrontiert, der ihre eigene Schwachstelle aufgedeckt hat, in gewisser Weise begegnet sie mit Hege ihrem jüngeren Ich. Auch sie selbst war als Ausnahmesportlerin in der Olympiaauswahl der Handballerinnen Norwegens. Der Drang sich zu beweisen, besser zu sein als alle anderen, hat sie zu Höchstleistungen getrieben. Eine Verletzung, die ihren Tränenkanal in Mitleidenschaft zog, weshalb sie als die Frau, die nicht weinen kann, bekannt wurde, steht sinnbildlich für die Einsamkeit und die unterdrückten Gefühle der Hochleistungssportler. Keine kann daher so gut wie Selma Falck nachvollziehen, was der Dopingverdacht für die Skiläuferin Hege bedeutet. Andererseits sind die Beweggründe der jungen Langläuferin ganz andere. Sie erfüllt den Traum ihres Vaters im Andenken an den frühen Tod ihrer Mutter, die sie auch nach ihrem Tod nicht enttäuschen möchte. Das geheime Zentrum ist also auch hier unerreichbar.
Bevor Selma sich mit der Frage, wie die leistungssteigernden Mittel in das Blut von Hege gelangen konnten, auseinandersetzen kann, gibt es einen weiteren Todesfall. Ein Teamkollege von Hege, der zudem Selmas Patensohn ist, stirbt bei einem Sturz während einer Trainingsfahrt. Auch in seinem Blut werden die Spuren des Dopingmittels gefunden, das sich in den Proben der Skiläuferin befunden hat. Da er als moralisch absolut integrerer Dopinggegner gezeichnet wird, beginnt der Leser spätestens hier zu ahnen, dass es nicht um die Leistungssteigerung mit verbotenen Hilfsmitteln im norwegischen Nationalsport und die politischen Verstrickungen im Langlaufverband geht, sondern dass der Auslöser für die Beschuldigungen eine andere Ursache haben muss.
In die Handlung eingestreut sind darüber hinaus Erzählungen von einem Mann, der nackt in einem immer kleiner werdenden Raum gefangen ist, und mit „Drehbuch“ überschriebene Dialoge zwischen einem Mann und einer Therapeutin, die sich zunehmend von ihrem Patienten in die Enge gedrängt fühlt. Wie die einzelnen Erzählstränge zusammenhängen, wird Selma Falck im Lauf des Romans herausfinden. Unterstützung findet sie bei der neuen Aufgabe von dem einzigen Freund, der ihr geblieben ist: Ein ehemaliger Polizist, der sein Leben als Clochard unter den Brücken und in den Parks von Oslo fristet. Mit seinem aus besseren Zeiten stammenden Buch „Das ABC des Ermittlers“ und weiteren wertvollen Tipps für die Recherche gibt er ihr wichtige Hilfsmittel an die Hand, die der ehemaligen Anwältin helfen, die Wette zu gewinnen.
Anne Holt erzählt aus der Innenperspektive ihrer Figuren. Und zeigt dabei auf, wie diese sich in ihren eigenen Lebenslügen verstricken. Besonders beeindruckend gelingt ihr dies bei ihrer Hauptfigur:
Sie sollte schlafen gehen. Es ging auf Mitternacht zu, und sie war durch den unregelmäßigen Schlafrhythmus der letzten Tage erschöpft. Die Unruhe im Leib, das leise Zittern im Nacken und im rechten Arm, sie wusste, dass das alles in den kommenden Tagen nur noch schlimmer werden würde.
Selma war durchaus nicht spielsüchtig, wie Jan behauptete. Sie zockte nur einfach gern, und sie hatte es immer unter Kontrolle gehabt. Sehr lange jedenfalls. Viele Jahre lang hatte sie ein in jeder Hinsicht erfolgreiches Leben führen können, ohne dass jemand ihrem heimlichen Treiben auf die Schliche gekommen war. Sie war clever, aber auch vorsichtig, dachte sie. Das war der Schlüssel zum Erfolg, und in den allermeisten Jahren hatte sie Profit gemacht. Oder jedenfalls alles im Gleichgewicht gehalten. Ungefähr, sie rechnete nicht so genau.
Die erlebte Rede zeigt die ständigen Ausreden der süchtigen Figur. Immer wieder relativiert sie ihre eigenen Aussagen – auch wenn sie sehr genau weiß, dass das Zittern, das sie auch vor anderen nicht verbergen kann, ein Ausdruck ihrer Sucht ist. Lediglich ein wie nebensächlich eingeschobenes „dachte sie“ ist die Bestätigung, die der Erzähler für den Leser einstreut, dass Selma Falck ihr Leben nicht im Griff hat. Solch gekonnt gestaltete Passagen schaffen zwar eine gewisse Distanz zwischen Leser und Figur, dennoch entwickelt der Leser im Lauf der Lektüre eine Neugier für die Beweggründe der unkonventionellen Ermittlerin. Auch wenn sich Selma Falck immer wieder selbst belügt, so ist doch die von Jan Morell angebotene Wette die Rettung aus ihrer aussichtslosen Situation. Sie erhält mit der neuen Aufgabe zugleich ein Ziel, auf das sie hinarbeiten kann. Die Bestätigung gibt ihr wiederum ihr Selbstwertgefühl zurück.
Auf dem Markt für Kriminalliteratur hat sich in den letzten Jahren der Trend zur Serie durchgesetzt. Es ist daher weniger der zu lösende Kriminalfall, der den Spannungsbogen bedingt. Die Ermittlerfigur muss vielmehr mit dem Potential ausgestattet sein, über mehrere Bände hinweg die Neugier des Lesepublikums zu wecken. Wenn Anne Holt, eine der erfolgreichsten norwegischen Krimiautorinnen, eine neue Figur entwickelt, ist daher nicht nur die Frage nach dem Plot von Interesse, sondern vor allem auch die nach der Gestaltung der im Zentrum stehenden Ermittlerfigur. Aus diesem Grund scheint Anne Holt auch wesentlich mehr an der Konzeption ihrer Ermittlerin als am Verbrechen selbst gelegen zu sein. Die Ausgangssituation – eine berühmte, aber privat wie sozial gescheiterte Persönlichkeit arbeitet erfolgreich als Privatdetektivin – erinnert an Robert Galbraiths Cormoran Strike. Anders als beim ehemaligen Soldaten, der mit einer Beinprothese lebt, ist Selma Falcks Handicap allerdings weniger offensichtlich.
Selma Franck ist eine schillernde Figur, die viele Rätsel aufgibt. Leser, die sich auf die psychologische Entwicklung der Ermittlerfigur einlassen, werden den neuen Roman von Anne Holt mit Begeisterung lesen. Wer sich von der Lektüre eines Kriminalromans Spannung bei der Lösung eines kniffligen Falls verspricht, der wird von der Lektüre eher enttäuscht sein. Wie bereits der Erzähleingang zeigt, verfolgt Anne Holt mit dem Roman auch einen ästhetischen Anspruch. Diesen durchzuhalten gelingt ihr nicht durchgehend, dennoch zeigt der Text, dass die Autorin ihr Handwerk beherrscht. Welche Leichen die ambivalente Figur Selma Falck noch im Keller hat, erfährt der Leser in den folgenden Romanen der Reihe, die in Norwegen bereits erschienen sind.
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