Lebenskluge poetische Texte des „Freundes aus Damaskus“

Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami legt neue Erzählungen und Betrachtungen vor

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Texte des neuen Buchs des „Freundes aus Damaskus“ (so die Übersetzung des Dichterpseudonyms Rafik Schami) sind in sechs Abschnitte unterteilt, wobei Erzählungen durch persönliche Betrachtungen zum Thema des jeweiligen Abschnitts ergänzt werden. In dieser Rezension wird auf je eine Erzählung pro Abschnitt eingegangen.

Im ersten Abschnitt Geburtstag liefert die Erzählung Mein Sternzeichen ist der Regenbogen den Titel fürs Buch. Weil der Autor ein Christ aus Syrien ist, fragt man sich, ob es um das Zeichen des Friedensbundes Gottes mit den Menschen geht, das nach der Sintflut am Himmel erschien. Oder steht der Regenbogen, so wie auf manchen Fahnen, als Symbol für Aufbruch, Frieden, Toleranz und Sehnsucht, was ja auch zur humanistischen Haltung dieses Schriftstellers passen würde? Die Antwort ist prosaischer und zugleich so originell wie viele Einfälle von Rafik Schami. In Syrien wurde der Geburtstag nicht dokumentiert, und deshalb erhält der Autor auf die Frage danach so viele verschiedene Antworten, dass sich die Sternbilder seiner Geburt quasi zu einem Regenbogen zusammensetzen.

Im zweiten Abschnitt Lachen ragt die dunkle Erzählung Galgenhumor heraus, die schonungslos die Grausamkeit, aber auch Brüchigkeit jeder Diktatur entlarvt. Ein wegen eines politischen Witzes zum Tode verurteilter Satiriker soll begnadigt werden, wenn er den Präsidenten zum Lachen bringt. Der erste Versuch misslingt ihm, doch nach dem zweiten Witz bricht der General in Gelächter aus. Nun überrascht der Autor seine Leser. Denn als der Präsident behauptet, dass nur Hurensöhne über eine solche Geschmacklosigkeit lachen, erschießt der General der Luftwaffe ihn mit den Worten: „Niemand nennt meine Mutter eine Hure!“ Das war keine spontane Reaktion, sondern der Vollzug einer Verschwörung. Wenig später wird auch der neue Diktator weggeputscht, der Satiriker aber durfte das Land verlassen.

Reisen heißt der dritte Abschnitt, und die Erzählung Wie Herr Moritz die Welt bereiste ist allen Lesern zu empfehlen, die sich erstmals ein Bild von Rafik Schami machen wollen, denn literarischer Einfallsreichtum und Menschenkenntnis verbinden sich hier zu einem bewegenden Text. Herr Moritz in der Pfalz will ein Jahr nach dem Tod seiner geliebten Frau um die Welt reisen. Tatsächlich erzählt er später im heimatlichen Dorf, wie es ihm in Nigeria ergangen ist und wie gern man im Iran lacht. Es folgen weitere Länder, die Herr Moritz in Wirklichkeit aber nicht bereist hat. Doch er hat genau zugehört, was ihm Bewohner des Asylantenheims über ihre Heimat zu erzählen hatten. Als sie ausgewiesen werden, ist Herr Moritz nur noch ein Schatten seiner selbst. Seiner Haushälterin hinterlässt er den Bescheid, er sei in der Toskana. So nennt er die Weinberghäuschen auf einem Wanderweg in der Nähe. Man findet ihn dort und ruft den Rettungsdienst. Ein Sanitäter, der ihn kennt, flüstert ihm zu, man bringe ihn nach Honolulu. Erleichtert schläft Herr Moritz ein – in Honolulu ist es immer warm.

Im Abschnitt Geheimnis findet sich die Erzählung Die Geheimsprache. Sie beginnt idyllisch und könnte tödlich enden, weil in einer Diktatur auch harmlos Privates den Verdacht der paranoiden Herrschenden erregen kann. Ein frischverheiratetes Paar in Syrien benutzt bei einem Ausflug aus alter Gewohnheit eine Geheimsprache, die leicht zu erlernen und dennoch von Dritten kaum zu entschlüsseln ist. Im Bus werden die beiden als israelische Spione verdächtigt. Der Geheimdienst foltert das Paar. Durch einen geschwätzigen Spitzel erfährt die Familie von ihrem Schicksal und kann sie durch Bestechung retten. „Von nun waren sie still, sie sprachen nur noch selten – und nie wieder in ihrer Geheimsprache“.

Die Augensprache der Hunde im Abschnitt Tiere ist ein wunderliches Märchen. Nach einem Hundebiss kann der Icherzähler vier Jahre lang an den Augen seiner Mitmenschen deren Gedanken und Stimmungen ablesen, so wie er das den Hunden zutraut. Er büßt Freunde ein, denen er ins Gesicht sagt, dass sie lügen. Als sich die Fähigkeit verliert, versteht er jahrzehntelang die Augensprache der Hunde. In die Realität mitnehmen könnte man den Ratschlag, sich einem grimmigen Hund gegenüber wie ein Löwe aufzuführen statt wie ein Kätzchen.

Schwer erträglich ist die Lektüre der Erzählung Ein Klassentreffen im Abschnitt Sehnsucht. Ein siebzigjähriger syrischer Arzt betrachtet ein Foto aus der Schulzeit. Die vier anderen Mitglieder der einstigen „Fünferbande“ stellen sich bei ihm ein, doch in Wirklichkeit sind sie alle tot. Von einem Geheimdienstoffizier erschossen, von der eigenen Frau vergiftet, von einem vierzehnjährigen Auftragsmörder erschossen, von einem Lastwagen erfasst. Angesichts leerer Weinflaschen und voller Aschenbecher fragt die Frau des Erzählers, mit wem gefeiert worden ist, und bekommt zur Antwort, es sei ein Klassentreffen gewesen, ein syrisches.

Auch die Erzählungen, die hier nicht näher vorgestellt werden, sind interessante Geschichten mit bemerkenswerten Personen, darunter viele starke Frauen. Eine von ihnen bestimmt das Geschehen bei einem Geburtstag mit Nebenwirkungen. Das ist eine spiegelverkehrte Version von Gottfried Kellers Novelle Der Landvogt von Greifensee. Während dort ein alter Mann fünf Frauen um sich versammelt, die ihn abgewiesen haben, bekommt es bei Rafik Schami ein Schwerenöter überraschend mit den Frauen (und gemeinsamen Kindern) zu tun, die er verlassen hat. Sie erzählen im Restaurant unverblümt erotische Szenen, bis der Mann einen Herzinfarkt erleidet.

Die Erzählungen und Betrachtungen lassen den in Deutschland vielzitierten Gegensatz zwischen Ost und West als unbedeutend erscheinen anlässlich der Spannweite zwischen Orient und Okzident. Der Migrant erzählt von Migranten und ihren teils problematischen Beziehungen zu Deutschen. Er sehnt sich nach den Orten, Menschen und Gerüchen seiner Kindheit zurück, wohl wissend, dass die Rückkehr ihn die Freiheit oder gar das Leben kosten könnte. Seine Schatzkiste ist prall gefüllt mit exotischen und hiesigen Motiven, die er kunstvoll kombiniert.

Das Deutsche beherrscht er, als wäre es seine Muttersprache – Teil der bewundernswerten Lebensleistung eines Mannes, der ohne Deutschkenntnisse ins Land kam und hier Doktor der Chemie und freier Schriftsteller wurde. Man hat ihn in 28 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Die Brüder-Grimm-Professur und die Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste zeugen davon, dass Rafik Schami nicht nur sein Handwerk als Erzähler meisterlich beherrscht, sondern auch tief in dessen theoretische Grundlagen eingedrungen ist. Derlei erreicht man nicht mit bloßem Fleiß. Rafik Schami spricht denn auch von einer „Liebesbeziehung“ zu den Sprachen.

Das Erzählen ist Rafik Schami Lebenszweck, und trotz mancher Bitterkeit bricht oft sein Humor durch, den er als Gedankenschmuggler bezeichnet. Hin und wieder äußert sich dieser Humor in so abwegigen Einfällen wie einem „Kunstfurzen“ in Der kluge Teppichknüpfer oder dem erstaunlichen Ausruf „Du bist nämlich mein Penis!“ in Selmas Plan. Seine Grundlage aber ist welterfahrene Lebensklugheit und die Hoffnung, das Gute werde das Böse besiegen. „Bruder der Scheherazade“ wurde Rafik Schami in einer Laudatio genannt. Zwar würde er nicht sein Leben verwirken, wenn ihm in einer von 1001 Nächten mal keine Geschichte einfiele, doch fesselt er uns mit seiner ausgereiften Erzählkunst so wie Scheherazade den Sultan und Millionen von Lesern.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rafik Schami: Mein Sternzeichen ist der Regenbogen.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
320 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783446270879

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