Nur wenige Briefe nach Europa

Dieter Burdorf gibt „Rudolf Borchardts europäische Briefnetzwerke“ heraus

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rudolf Borchardt (1877–1945) ist neben Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann und Rainer Maria Rilke einer der großen deutschsprachigen Briefschreiber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war ein obsessiver Briefschreiber; seine Schreiben umfassen oft zahlreiche handschriftlich eng beschriebene Seiten. Das Briefwerk liegt als Gesammelte Briefe in elf Text- und zwei Kommentarbänden vor.

In der knappen Einleitung umreißt der Herausgeber die auf zwei Länder (Italien und England) fokussierte europäische Dimension von Borchardts Briefnetzwerk. 

Demgegenüber spielen die weiteren romanischen Länder […] sowie der nord-ost- und südosteuropäische Raum für ihn eine ebenso untergeordnete Rolle wie außereuropäische Perspektiven.

Dieser verengten europäischen Dimension ist das erste Kapitel mit je einem Beitrag von Vivetta Vivarelli und Markus Neumann zu den italienischen (unter anderem mit Benedetto Croce) und den englischen Korrespondenzen (im Wesentlichen gescheiterte Versuche, Kontakte zum englischen Buchmarkt herzustellen) gewidmet. Das zweite Kapitel (Der Brief als Medium der Freundschaft) berichtet von „den Abgründen der Korrespondenz“ zwischen Borchardt und Hofmannsthal (Jörg Schuster) sowie der Arbeit des Autors am „Erbe“: In den Briefwechseln mit Rudolf Alexander Schröder und Hofmannsthal kommt er immer wieder auf seinen Versuch zu sprechen, einen Kanon literarischer Texte zu etablieren (Leonhard Herrmann). 

Das dritte Kapitel handelt vom Autor als Liebenden und Liebesschriftsteller und stellt in zwei Beiträgen (von Peter Sprengel und Renate Stauf) die 56 (zwischen April 1912 und August 1913) erhaltenen Briefe und Karten an Christa Winsloe, eine elf Jahre jüngere Bildhauerin, und die an seine Geliebte und spätere zweite Ehefrau Marie Luise Borchardt (geb. Voigt) vor (298 Briefe zwischen 1918 und 1944). Das abschließende Kapitel besteht aus dem Beitrag – dem umfangreichsten des Bands – mit dem Titel Der Brief als Selbstaussage, Fiktion und Fälschung. Kai Kauffmann beschreibt anhand eines Gangs durch das Gesamtwerk „die rhetorische Strategie der Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung“ und zeigt, dass Borchardt dabei nicht vor einer Fälschung zurückschreckte, wie der angebliche Brief von Borchardts Doktorvater, Friedrich Leo, vom 10. Mai 1902 an Hofmannsthal beweist – eine Fälschung, die erst vor wenigen Jahren aufgedeckt wurde.

Der Band, der auf die gleichnamige Jahrestagung der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft von 2018 zurückgeht, gibt insgesamt einen konzisen Überblick zu den in den Beiträgen abgehandelten Themen, schränkt aber schon in der Einleitung des Herausgebers den Anspruch ein, die europäischen Briefnetzwerke zu behandeln, denn offenkundig bestanden – wie eingangs zitiert – nur zu einem geringen Teil Europas Briefkontakte.  

Titelbild

Dieter Burdorf (Hg.): Rudolf Borchardts europäische Briefnetzwerke.
Quintus-Verlag, Berlin 2021.
200 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783947215836

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch