Die Archivierung von Einsamkeit

Peter Stamm schreibt in „Archiv der Gefühle“ über die Bibliothek einer ungelebten Beziehung

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es fällt nicht leicht, eine alles in allem abschließend befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, warum ein Autor, der in erster Linie kurze Bücher über Beziehungen, Liebe etc. und zudem in der Regel aus der Ich-Perspektive schreibt, sich dazu noch einem wie auch immer verstandenen Zeitgeist entzieht, ständig von neuem der Leserschaft fesselnde Werke vorlegt. Wenn man zudem in Rechnung stellt, dass Peter Stamm als einer der erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller der Gegenwart gilt, vielfach sogar als Bestseller-Autor bezeichnet worden ist, so scheint sich die Verwunderung noch zu steigern, so paradox sich das zunächst auch anhören mag.

Denn es ist festzuhalten, dass eine solche „Rezeptionslegende“ nicht unbedingt als Indikator für hohe literarische Qualität gelten muss, in Analogie zum Film und frei nach dem Motto: Ein Oscar prämierter Film muss deshalb noch lange kein schlechter Film sein. Wobei Peter Stamm sich zugleich über mangelnde Berücksichtigung bei literarischen Preisen nicht beklagen kann, wenngleich er noch nie auf der Short-List des Deutschen Buchpreises stand, dafür aber 2018 den Schweizer Buchpreis erringen konnte. Doch Peter Stamm schreibt nicht deshalb, sondern trotz dessen so gute Bücher wie das hier zu besprechende Werk. Wie nähert man sich aber nun einem so anerkannten und hochgelobten Autor und seinem neuestem Werk?

Mit dem Werk von 2021 Das Archiv der Gefühle legt er abgesehen von Theaterstücken und Hörspielen nun schon seinen 22. Prosaband vor. Wieder spielt das Psychologische, ohne besonders expliziert zu werden, eine nicht unerhebliche Rolle: In diesem neuen Werk setzt der Autor seine Protagonisten zwei Geistesexperimenten aus, zum einen: Wie es wäre, wenn man sich selbst als Ich-Erzähler und die Gefühle einer vermeintlichen Partnerin in ein Archiv verwandeln könnte? Ein Experiment, das am Ende allerdings scheitert.

Das zweite Experiment besteht in der literarisch angefertigten „Hypothese“, dass man quasi im Guten wie im Bösen von einer unerfüllten Lebensliebe ein Leben lang begleitet wird, auch wenn man sie gar nicht sieht und sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr zur eigenen Lebenswirklichkeit gehört.

Wie alle seine anderen Werke stellt auch dieser Roman einen schmalen Band dar. Auf die Frage, warum er immer so knappe und kurze Geschichten erzähle, bemerkte er, dass er anderen nicht so viel Zeit nehmen möchte (Sternstunde Philosophie). Aber ähnlich wie bei Raymond Carver so gilt auch für Peter Stamm, dass er in kurzen, abgedämpften Sätzen als Stilmittel weniger als nötig schreibt, so auch in diesem Roman, der einen namenlosen Protagonisten, aber eine Protagonistin mit zwei verschiedenen Vornamen enthält. Und auch diese Beschreibung ist eigentlich schon wieder zu wenig.

Peter Stamm ist mit dem Label einer der größten „Melancholie-Schriftsteller der Gegenwartsliteratur“ versehen worden (Jan Drees im Deutschlandfunk). Und auf sein jüngstes Werk bezogen sei vorweggenommen erwähnt: Er schafft das vor allem durch sein Talent zur Herstellung einer ungeheuer dichten, suggestiven Atmosphäre, in die er Leserin wie Leser hineinzieht. Oft, so auch hier, sind die Protagonisten Peters Stamms Gescheiterte, wie sie auch im neuen Band explizit genannt werden: Die Sängerin, Franziska/ Fabienne und der namenlose Ich-Erzähler, ein ehemaliger Student der Geschichte und Philosophie, der sein berufliches Leben in einem Archiv einer regionalen Schweizer Zeitung verbracht und jetzt seine Kündigung erhalten hat. Er empfindet diese Entlassung als Demütigung, lässt sich als Reaktion darauf das Archiv in den Kellerräumen seiner Wohnung installieren, weil es aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung der Zeitung nicht mehr gebraucht wird und beginnt zugleich Mappen, d.h. ein Archiv seiner ungelebten Beziehung zur (Chanson-) Sängerin Franziska, anzulegen, die er seit neununddreißig Jahren nicht mehr gesehen hat.

Diese Franziska oder Fabienne, wie sie sich mit Künstlernamen nennt, taucht aber in den fiktiven wie realen Passagen immer wieder auf, was nicht zuletzt eines der Gütekriterien des Romans ausmacht: Die „Handlung“ oszilliert zwischen der Darstellung der früheren Schul- und Kinderliebe und der Darstellung seiner Imagination Franziskas sowie scheinbar „realen Passagen“. Ohne die Pointe des Schlusses zu verraten, bleibt diese Darstellung am Ende offen. Man könnte in dem Sinne auch ein Qualitätskriterium anlegen, dass sich ein guter Roman darin auszeichnet, dass Leserin oder Leser schließlich unterschiedliche Enden gleichberechtigt für sich reklamieren könnten.

Zum anderen, und das ist das Mitentscheidende, haben die Hauptfiguren existentielle Probleme, wie sie jeden Menschen betreffen können (wie etwa mangelnder beruflicher Erfolg, das Älterwerden, die Brustkrebskrankheit der Protagonistin o.ä.).

Keiner schafft es wie Peter Stamm auf so engem Raum zugleich poetische Stimmungen und Hintergründigkeiten zu erzeugen sowie kluge Gedanken zu äußern. Der Ausgangspunkt des Ansatzes von Stamm bestand darin, zu überlegen, wie hätte ein Leben an einem Punkt ganz anders verlaufen können, als es tatsächlich ist. Man ist in dem Zusammenhang geneigt an Benjamins „rückwärtige Zukünftigkeit“ zu denken. Der namenlose, mittfünfzigjährige Ich-Erzähler lässt dabei seine Erzählweise in der für Stamm so oft charakteristischen Melange aus erzählter Realität und Fiktion. Plötzlich taucht die Protagonistin hinter dem Erzähler auf („Ich weiß nicht, woher sie gekommen ist“) und damit nicht genug: Es ist dem Leser oftmals nicht klar, ob damit die Jetztzeit oder die vergangene Zeit gemeint ist.

Reizvoll ist unter anderem auch der Gedanke, auf sein eigenes Leben mit dem wohlwollenden Blick einer anderen (einer vergangenen Liebe, seinem „Lebensschwarm“) zu schauen, einer Liebe, die für den Erzähler einmal alles ausmachte. Insofern liegt hier ein fast romantischer Ansatz vor. Zentral ist für den Erzähler dabei das schon angedeutete Motiv der Einsamkeit. Auch wenn er offensichtlich in mehreren Beziehungen war, so taucht doch immer wieder das Motiv des Alleinseins auf, von früher in der Schule. Hinzukommt die an jeder Stelle sehr spürbare Einsamkeit, wie etwas das (von den lang verstorbenen Eltern) verlassene Elternhaus.

In diesem Zusammenhang spielt das Archiv der Gefühle eine sehr wichtige Rolle bei der Frage, inwieweit sich Gefühle und Empfindungen konservieren (der Rückzug in die eigene Erinnerung an eine vergangene Liebe“) oder „ordnen lassen“, wie es im Werk heißt, anders als im Leben. Das Archiv hat sehr direkt mit dem Protagonisten konkret zu tun, weil er im Stadtarchiv gerade seinen Job verloren hat, jener Job, der für ihn zugleich entbehrlich wie unentbehrlich ist.

Diese Art der Einsamkeit fällt zu Zeiten der Pandemie und des Lockdowns besonders auf, obwohl diese an keiner Stelle explizit genannt wird. Dennoch zeigt sich unter der Oberfläche eine dystopische, hoffnungslose Welt, die nicht erst mit der Pandemie entstanden ist, obwohl das Ende für Stamms Verhältnisse als geradezu hoffnungsfroh bezeichnet werden kann. Insgesamt ist Peter Stamm wiederum ein für ihn einnehmender Wurf gelungen, der allen Leserinnen und Lesern zu empfehlen ist, die sich auf den suggestiv, melancholisch schönen Peter-Stamm-Sound einzulassen wissen.

Titelbild

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
192 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974027

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