Authentisch und atemberaubend

Gabriele Krauze erzählt in „Beide Leben“ autobiographisch von einem Leben zwischen Gewalt und Verbrechen auf der einen sowie einem Studium der englischen Literatur auf der anderen Seite

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Atemberaubend steigt der in London geborene Gabriel Krauze in seinen Roman des eigenen Lebens ein. Er erzählt von einem Straßenraub seines Ich-Erzählers Snoops mit seinem Kumpel Gotti, bei dem sie einer Frau die Rolex vom Handgelenk reißen wollen: „spüren, wie mir das Adrenalin in der Brust explodiert wie eine Supernova, es ist, als wäre mein ganzer Körper nichts als mein dröhnendes Herz“.

Nach einer augenscheinlich doch recht geborgenen Kindheit treibt es Snoops mit 17 Jahren aus dem Haus seiner Eltern zu seinem Uncle T nach South Kilburn, einem runtergekommenen Viertel im Nordwesten Londons mit brutalistischen Sozialbauten. Hier lebt er zwischen Junkies und Dealern in einer Atmosphäre der tagtäglichen Gewalt, die von Messerstechereien über Missbrauch und Vergewaltigung bis zum Mord reichen. Er fängt selbst an zu dealen, bewaffnet sich mit einem Springmesser und einer Pistole und spezialisiert sich mit Gotti auf brutalen Straßenraub: „Ich will gefährlich leben. Am Rand der Existenz.“

Der Reiz der Gefahr, das Adrenalin und das schnelle Geld treiben ihn immer weiter. Schuldgefühle und Mitleid mit seinen wohlhabenden Opfern hat er nicht. Sie kommen für ihn aus einer anderen Welt, die nichts mit ihm zu tun hat. Mit Nietzsche, den er an der Universität intensiv studiert, meint er „Moral ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können“ und „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.“

Es ist ein atemloses Gang-Leben mit viel Alkohol, Kiffen, Koksen, teuren Klamotten, Zahnbrillies und Cartiers als Statussymbole des erfolgreichen Gangsters. Revierstreitigkeiten werden mit brutaler Gewalt ausgetragen und auch Snoops sticht den einen oder anderen Konkurrenten mal eben ab bzw. an und landet schließlich im Knast.

Zeitgleich zu seiner Gang-Existenz wird Snoops von seiner Liebe zum Lesen und zur Literatur getrieben und zieht in einem fast unmöglichen Balanceakt sein Literaturstudium durch. Zwischen seinen Raubzügen und Rausch-Abenden schreibt er Seminararbeiten über Nietzsche und Shakespeare, schockiert seine Kommilitonen und Dozentinnen und erlangt schließlich doch noch den B.A. in Englischer Literatur.

Gabriel Krauze erzählt mit ungeheurer Intensität und Authentizität von einem Gang-Leben am Rande des Abgrunds und von Menschen, die von vornherein kaum eine andere Chance haben als kriminell zu werden. Er gibt fesselnde Einblicke in die Rituale und gnadenlosen Mechanismen und Gewaltspiralen des Ghettos, in die Angst und Gier von Menschen, die nichts zu verlieren haben. Und er erzählt im wahrsten Sinne von Blutsbrüderschaften, die dann am Ende ebenso wie der Mythos des coolen erfolgreichen Gangsters schmerzhaft zerplatzen: „Dabei sind wir nur ein Flüstern in der Finsternis, das vergessen ist, sobald der neue Tag heraufzieht.“

Titelbild

Gabriel Krauze: Beide Leben.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
380 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958507

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