Wo bleibt die Prinzessin im Rollstuhl?

In „Entstellt“ hält Amanda Leduc ein überzeugendes Plädoyer über Märchen und Behinderung

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt sie nicht, die Bösewichte in den Märchen der Brüder Grimm, von Hans Christian Andersen oder in den Disney-Filmen. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass kaum eine/r der Gegenspieler*innen der Held*innen das körperliche Idealbild erfüllt. Die Schwestern von Aschenputtel sind hässlich, Gnome und Kobolde sind bucklig oder humpeln, Simbas böser Onkel hat eine riesige Narbe im Gesicht. Doch nicht nur die Bösewichte weichen von der „Norm“ ab – Arielle wird die Stimme genommen, Zwerg Nase wird kleinwüchsig und riesennasig, in Grimms Märchen verliert eine Heldin schon mal ihre Hände und Quasimodo ist der Inbegriff körperlicher Entstellung.

Märchen sind voll von Protagonist*innen, die nach einem Verständnis der Mehrheitsgesellschaft anders sind. Für Leduc haben Märchen „einen Nährboden für behindertenfeindliche Narrative geschaffen“ (S. 13). Aus diesem Problembewusstsein heraus hat sie ein beeindruckendes und berührendes Buch über das Verhältnis von Märchen und Behinderung geschrieben. Es wirft einen bedenklichen Schatten auf westliche Erzählkultur, gibt einige spannende literaturhistorische Einblicke und verknüpft die persönliche Biografie von Leduc mit einem aktuellen politischen Appell.

Leduc, Jahrgang 1982, ist kanadische Schriftstellerin, Aktivistin für Diversität und aufgrund einer leichten Zerebralparese und einer spastischen Hemiplegie beim Gehen eingeschränkt. Was sie schreibt, schreibt sie aus der Perspektive der Behindertenrechtsbewegung. Daher ist dieses Werk keine literaturwissenschaftliche Beschreibung von Behinderung im Märchen oder ein Beitrag zur Märchenforschung – einen Hinweis, den Leduc selbst gibt. Sie betrachtet bekannte und weniger bekannte Geschichten mit dem Fokus auf körperliche Einschränkung bzw. körperliche Andersartigkeit und legt dabei den Finger in der Wunde bezüglich herrschender Vorstellungen von Normalität. Das Kernproblem, das Leduc dabei erkennt und benennt, ist die Frage danach, warum etwas anderes als schlechter, als weniger wertvoll angesehen wird und nicht einfach als anders.

Die Passagen zu den Märchen und deren Herkunft sind durchaus interessant – was aber den Kern des Buches ausmacht, sind die autobiografischen Abschnitte. Zum Einen berichtet Leduc viel von dem eigenen Umgang mit ihrer Behinderung, von den Demütigungen, die sie erfahren musste, von den Reaktionen ihres Umfeldes auf ihre Einschränkung. Das ist nicht nur klar und direkt beschrieben, es zielt auch nicht auf Mitleid ab. Trotzdem stockt einem gelegentlich der Atem, wenn sie von ihrer Schulzeit berichtet oder die quälenden Wochen im Krankenhaus beschreibt. Zum Anderen sind in dem Buch immer wieder Teile der Konsultationsberichte eingefügt, welche der erste Neurochirurg den Eltern gab, als Leduc mit vier Jahren das erste Mal operiert wurde. Diese Berichte hätten die Wahrnehmung der Eltern auf die Behinderung geprägt. Und tatsächlich werfen diese medizinischen Passagen einen erschreckenden Blick darauf, wie Ärzt*innen die Behinderung sehen.

Leduc schreibt nicht nur über Märchen. Natürlich betrachtet sie Die Schöne und das Biest, schreibt über die Meerjungfrau Arielle, über Hans mein Igel, Das Mädchen ohne Hände und Das hässliche Entlein. Aber sie schlägt auch den Bogen in die heutige Zeit, wenn sie über Shrek, Maleficent oder das Marvel-Universum schreibt. Immer wieder deckt sie dabei ein durchgängiges Motiv auf: Andersartigkeit als etwas Negatives, das entweder den/die Böse/n auszeichnet oder von dem/der Guten überwunden wird. Um mehrheitsfähig zu sein, um „normal“ zu sein, muss das Anders-sein verschwinden. Steve Rogers ist als schmächtiger Junge für den Krieg unbrauchbar – erst als gepimpter Captain America wird er zum Helden. Fiona hält ihre Form als wunderschöne Prinzessin für die Normalität und die Verwandlung in einen hässlichen Oger für die Strafe. Aber Leduc vermittelt auch, dass es in den letzten Jahren eine zumindest kleine Trendwende gibt. Am Ende von Game of Thrones wird der querschnittsgelähmte Bran Stark zum König gewählt und vom kleinwüchsigen Tyrion Lannister gekrönt. Carol Danvers ist in Captain Marvel zu Beginn mehrfach behindert und wird dennoch zu einer starken Frau und Heldin. Seit 2019 gibt es in der Kinderserie Peppa Wutz die Figur Mandy Mouse, die einen Rollstuhl nutzt.

Trotz dieser zaghaften Normalisierung vom Verhältnis Märchen und Behinderung sind wir noch weit davon entfernt, Behinderung als normal anzusehen. Jede/r kann anders und trotzdem wie alle sein – das ist der Kern von Leducs Botschaft. Sie wünscht sich mehr Unperfektion, mehr Geschichten mit behinderten Menschen, die die Welt verändern. Sie wünscht sich mal eine Prinzessin mit Prothese, einen Prinzen mit Brille, einen Helden im Rollstuhl. Diesem Wunsch kann man sich nur anschließen.

Titelbild

Amanda Leduc: Entstellt. Über Märchen, Behinderung und Teilhabe.
Aus dem Englischen von Josefine Haubold.
Edition Nautilus, Hamburg 2021.
288 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783960542513

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