Fragwürdige Binarität

Die brasilianische Autorin Carla Bessa über das Schreiben zwischen Rio de Janeiro und Berlin, Identität und Transsexualität, brasilianische Literatur in Deutschland sowie den deutschen Buchmarkt

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade ist Carla Bessas Erzählband Urubus in der deutschen Übersetzung erschienen. Das Porträt widmet sich den Ausgebeuteten der brasilianischen Gesellschaft und fasziniert durch eine raffinierte Erzählweise. In Brasilien wurde der Band gleich zweifach mit den renommierten Literaturpreisen Prêmio Jabuti (1. Platz) und dem Prêmio Literário Biblioteca Nacional (2. Platz) ausgezeichnet.

Carla Bessa (*1967) zog nach einem Schauspielstudium in Rio de Janeiro bereits 1991 nach Deutschland, wo sie erst im Theaterbereich tätig war. Seit 2013 ist sie als Literaturübersetzerin tätig, u. a. hat sie Max Frisch, Christa Wolf und Ingeborg Bachmann ins Portugiesische übersetzt, und begann darauf mit ihrer Karriere als Autorin. Ihr erster Erzählband Aí eu fiquei sem esse filho (dt. Dann stand ich ohne Sohn da) erschien 2017, Urubus (dt. Aasgeier) folgte 2019. Vor ein paar Monaten ist ihr erster Roman Minha Murilo (dt. Meine Murilo) auf Portugiesisch erschienen, in dem sie von der Entführung einer Transsexuellen in Rio de Janeiro erzählt und Identitäten in Frage stellt – ein Roman, der zur richtigen Zeit erscheint. Carla Bessa lebt zwischen Berlin und Rio.

 

literaturkritik.de: Sie haben sich für ein Leben zwischen Rio de Janeiro und Berlin entschieden: Inwiefern ergänzen sich diese Wohnorte? Was bietet Rio, was Berlin nicht hat und umgekehrt?

Carla Bessa: Neulich habe ich ein wenig über Erinnerung und Gedächtnis recherchiert und gelesen, dass bei den meisten Menschen die Zeit zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr am besten in Erinnerung bleibt, weil da wesentliche Erfahrungen gemacht werden und sich große Teile der Identität bilden. Nun weiß ich nicht, ob das wissenschaftlich bewiesen ist, aber für mich würde ich festhalten, dass Rio, wo ich bis zu meinem 23. Lebensjahr gelebt habe, viele meiner intensivsten Erinnerungen bewahrt. Nicht nur konkret an Orte und Personen, sondern auch diffuse Reminiszenzen an grundlegende Emotionen wie Geborgenheit oder Angst. Somit ist Rio der Ort der Vergangenheit, sozusagen mein ganz persönlicher Riesenkeller voller Leichen. Berlin wiederum ist der Ort meiner Gegenwart als erwachsene eigenständige Person. Ich sage oft, dass Berlin mein „Stützpunkt“ ist, im wahren Sinne des Wortes, d. h. es ist der Ort, der mich stützt, mir Halt gibt. Auch die militärische Konnotation des Wortes passt, denn hier ist die Basis, von wo aus ich meine Strategien entwickeln kann.

literaturkritik.de: Wirkt sich dieses Leben zwischen zwei Kontinenten, zwischen zwei Ländern und zwei Metropolen auf Ihr Schreiben formal und inhaltlich aus?

Bessa: Ich reise viel – vor allem, wenn ich an einem neuen Projekt arbeite – und ich lasse mich gerne von den Orten und Personen inspirieren, lasse ihre Geschichten in meine Erzählungen hineinfließen. Die Betrachtung der verschiedenen Welten um mich herum ist meine literarische Hauptquelle. Aber ich würde trotzdem nicht sagen, dass ein Leben in der Diaspora ein Thema meiner Arbeit ist. Zumal ich meine Schwierigkeiten mit diesem Begriff habe, denn die Diaspora setzt ja die Idee einer Heimat im Sinne von Nation voraus, und das ist etwas, was ich nie gekannt habe. Ich habe schon als Kind so etwas wie Fernweh gehabt (ich liebe dieses deutsche Wort, was sich gar nicht so ohne weiteres in meine Muttersprache übersetzen lässt), diese Sehnsucht nach dem Anderen. Wenn überhaupt, würde ich sagen, dass das Leben zwischen zwei Kontinenten nur insofern mein Schreiben beeinflusst, da die Alteritätserfahrung – und die Lust daran – ein wichtiges Thema meiner Bücher ist.

literaturkritik.de: Ist brasilianische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt gut vertreten oder finden Sie, hier müsste in den Bereichen Literaturvermittlung und Übersetzung noch mehr passieren?

Bessa: Es müsste auf jeden Fall mehr passieren. Es gab im Jahr 2013 einen Schwung, als Brasilien Gastland der Frankfurter Buchmesse war, aber seitdem sinkt die Nachfrage nach Übersetzungen aus dem brasilianischen Portugiesisch stetig. Das ist schade, vor allem wenn man berücksichtigt, dass trotz der politisch-wirtschaftlichen Krise in Brasilien so viel publiziert wird wie schon lange nicht. Es gibt unzählige kleine Verlage, die sich auf zeitgenössische Literatur spezialisiert haben und neue Autor*innen herausbringen, auch welche, die Schwerpunkte auf schwarze, indigene oder queere Literatur aus Brasilien setzen, die hier kaum bekannt ist.

literaturkritik.de: Die deutsche Übersetzung Ihres Erzählbands Urubus ist gerade erschienen. Es handelt sich um ein facettenreiches Porträt der brasilianischen (Rand-)Gesellschaft. In Brasilien wurde der Band mit Begeisterung aufgenommen und hat zwei Preise bekommen. Denken Sie, dass sich die Erwartungen des deutschen Lesepublikums vom brasilianischen unterscheiden? Was wird das deutsche Publikum an diesem Band faszinieren oder vielleicht auch verwundern?

Bessa: Es gibt innerhalb eines Lesepublikums, egal welcher Herkunft, immer auch verschiedene Gruppierungen, die wiederum unterschiedliche Erwartungen an Bücher haben. Mir stellt sich immer die Frage, warum man überhaupt ein Buch liest, was man darin sucht. Jede*r Leser*in sucht nach Antworten auf eigene Fragstellungen. Ich glaube, wenn man Urubus unter dem Gesichtspunkt liest, dass es Geschichten über die kleinen alltäglichen Tragödien des Lebens ganz gewöhnlicher Menschen sind, wie es schon im als Überschrift vorangeführten Gedicht von Bukowski angedeutet wird, dann unterscheiden sich die Leser*innen aus Deutschland und Brasilien nicht wirklich. Dennoch: als die Übersetzung herauskam, habe ich mich gefragt, ob der Band vielleicht für das deutsche Publikum zu „fremd“ ist, d. h., ob die Leute hier einen Bezug zu Geschichten finden, die teilweise sehr prekäre Verhältnisse wiedergeben. Ein Übersetzerkollege aus Polen hat das Buch dann gelesen und sagte: „Deine Figuren sind in der Nahaufnahme ja Menschen und erst wenn die Linse auf Totale geht, sind es Brasilianer.“ Das fand ich schön! 

literaturkritik.de: Bei der Lektüre hatte ich den Eindruck, dass Sie gerne aus einem anfangs unbedeutenden Detail, das man als Leser*in vielleicht auf den ersten Blick übersieht, eine dramatische Geschichte spannen. In Urubus ist es ein Päckchen, das in einer Szene nebenbei erwähnt wird, sich aber später zu einem Motiv entwickelt. Auch in Ihrem ersten Roman Minha Murilo hatte ich den Eindruck, das passiert mit dem immer wieder auftauchenden Hund bzw. mit einer als Passantin eingeführten Nebenperson (Alma), deren persönliche Geschichte erst Kapitel später entfaltet wird. Irgendwie lässt dieses Verfahren bei mir als Leserin ein ähnliches (befriedigendes) Gefühl wie bei der Lektüre eines Kriminalromans entstehen: Aus Einzelteilen entsteht ein Zusammenhang. Würden Sie dieses Verfahren als eine ganz bewusste und persönliche Schreibtechnik bezeichnen?    

Bessa: Bewusst wurde mir dieses Verfahren erst beim Schreiben von Urubus. Ich glaube, es spielt bestimmt eine Rolle, dass meine allerersten Lektüren als Kind tatsächlich Detektivgeschichten und Krimis waren, die ich in der Schulbibliothek gefunden habe. Wahrscheinlich lauerten diese Erzählstrukturen irgendwo in meinem Hinterkopf und daher kommt mein Interesse fürs Aufdecken psychologischer und gesellschaftlicher Beweggründe hinter den Taten der Figuren. Ich lese heute noch gern Thriller, allerdings eher moderne Kriminalromane, die nicht unbedingt auf lineare Chronologie aufbauen und einen Hauch von Science Fiction oder fantastischem Realismus haben, wie z. B. die portugiesische Autorin Ana Teresa Pereira, deren Lektüre mich sehr beim Schreiben von Minha Murilo beeinflusst hat. Auf der anderen Seite glaube ich, dass dieses Verfahren damit zu tun hat, dass ich es bevorzuge, indirekt Sachen zu erzählen, um den Leser*innen Raum für ihre eigene Imagination und Interpretation zu lassen. Deshalb verschiebe ich oft den Fokus auf Details und Nebenmotive und führe Umwege ein, stelle Denkfallen oder lasse bestimmte Verzweigungen ins Nichts münden, wie es bei der Geschichte von Alma in Minha Murilo passiert.

literaturkritik.de: Minha Murilo erzählt die Geschichte einer Transsexuellen, die von einem Taxifahrer verschleppt und in dessen Haus gefangen gehalten wird. Zu Beginn des Romans findet sich eine Widmung an eine Prostituierte im Viertel Glória in Rio de Janeiro. War das tatsächlich die Inspirationsquelle für die Verbindung der zwei Themenkomplexe, Transsexualität und Entführung, oder gab es da weitere Impulse?

Bessa: Die Prostituierte aus Glória – Dai Ana heißt sie – existiert tatsächlich und ich habe ein wunderbares Gespräch mit ihr an einem warmen Sommerabend in Rio gehabt. Vieles von dem, was sie mir über ihr Leben erzählt hat, fließt in meinen Roman ein – übrigens kommt sie auch schon bei Urubus in einer Erzählung vor –, aber das mit der Entführung, sowie die zentralen Fragen, die sich aus der komplexen Täter-Opfer-Beziehung ergeben, haben andere Hintergründe. Meine Figuren sind oft eine Art Überblendung von verschiedenen realen Personen und/oder auch fiktiven Figuren von anderen Autor*innen.

literaturkritik.de: Einerseits gilt Brasilien als homo- und transphob, als „eines der tödlichsten Länder für LGBTQI+-Menschen“ (DW). Andererseits sind Trans-Menschen im öffentlichen Leben viel präsenter als beispielsweise in Deutschland, zum Beispiel als Kandidat*innen bei den Kommunalwahlen. Wie lässt sich diese Ambivalenz in Brasilien erklären?  

Bessa: Ich glaube, das eine ist eine Konsequenz des anderen. Weil die Gewalt gegen LGBTQI+-Menschen in den letzten Jahren extrem gestiegen ist, will und muss sich die Community wehren. Außerdem ist das Selbstbewusstsein für die eigenen Rechte unter der linken Regierung der Arbeiterpartei, die der aktuellen des ultrarechten Präsidenten Bolsonaro voran ging, sehr gestärkt worden. Und so wächst der Widerstand gegen den Verlust der frisch erlangten Freiheiten jetzt. Nach dem Motto: Auf keinen Fall wollen wir die Präsenz, die wir gewonnen haben, wieder verlieren.

literaturkritik.de: Auch was das Schreiben betrifft, hat man den Eindruck, dass sich die brasilianische Literatur wesentlich früher, intensiver und irgendwie unbefangener dem Thema Transsexualität widmet als beispielsweise deutschsprachige Literatur – an was könnte das liegen?

Bessa: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe das Gefühl, dass die deutsche Literatur, obwohl vielfältig, ziemlich konservativ ist, sowohl in Sachen Inhalt als auch, was die Form betrifft. Im Allgemeinen sehe ich keine Diversität in den Figuren und auch nicht so viel Lust an Sprachübertretungen hier. In Brasilien sind wir da offener und neugieriger. Was Sprache betrifft, gibt es z. B. ganz viele Autor*innen, die mit bestimmten Mündlichkeiten arbeiten, mit Jargons, oder mit hybriden literarischen Formen. Die brasilianische Literatur kann schon sehr verspielt sein und humorvoll. Deutschland steht in einer älteren literarischen Tradition, was gut ist, aber auch einengen kann, wenn man sich nicht für neue Formen öffnet.

literaturkritik.de: Besonders beeindruckend beschreiben Sie in dem Roman das Schwanken zwischen männlichen und weiblichen Identitäten: Murilo wird zu Sasha, Sasha wird am Ende wieder zu Murilo. Mit dem Wechsel ändern sich auch die Pronomen und bereits im Titel kommt die Synthese zwischen männlicher und weiblicher Identität bzw. eines „hybriden Wesens“ – wie es im Roman heißt – zum Ausdruck. Ist das als Absage an binäre Identitäten zu lesen?

Bessa: Tatsächlich war mein persönliches Anliegen bei diesem Buch, die Binarität in Frage zu stellen. Dies sowohl in der Realität als auch in der Fiktion: Wann ist ein Mensch oder eine Figur ein Mann oder eine Frau? Was bedeutet es überhaupt, ein Mann oder eine Frau zu sein? In dem Buch Das Unbehagen der Geschlechter definiert die US-amerikanische Philosophin Judith Butler Geschlecht als performativen Akt. Sie vertritt die Auffassung, dass der Körper „sein Geschlecht durch eine Reihe von Handlungen erhält, die im Laufe der Zeit erneuert, überarbeitet und konsolidiert werden“. Mit Performativität meint sie, glaube ich, dass ein Widerholen von soziokulturellen Kodizes so weit internalisiert wird, dass der Mensch sich damit identifiziert. Dabei zitiert sie auch schon Simone de Beauvoir: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“. Butler hat sich übrigens auch selbst vor ein paar Jahren als nonbinary Person geoutet.

literaturkritik.de: Noch nie war das Thema Transsexualität so präsent und die Möglichkeit, verschiedene Identitäten, vielleicht auch gleichzeitig, auszuprobieren so groß. Spiegelt das Phänomen Transsexualität vielleicht ein zeitgenössisches Verständnis von einerseits brüchigen, aber ebenso frei gewählten Identitäten wider?   

Bessa: Für mich auf jeden Fall! Das ist auch, was hinter der Gender-Thematik in Minha Murilo steckt. Ich wollte das Konzept der Binarität nicht nur in Bezug auf Geschlecht hinterfragen, sondern auch vor dem Hintergrund allgemeiner Fragen wie politischer Positionierung, sozialen Handelns usw. Ich finde, gerade ist die Welt sehr gespalten und die Fronten härten sich, weil wir dazu neigen, Dinge auf eine manichäische Weise zu sehen und somit zwangsläufig zu polarisieren.

literaturkritik.de: In Minha Murilo entwickelt sich nach einiger Zeit tatsächlich eine Art Liebesbeziehung zwischen Entführer und Entführtem, obwohl die Verbindung ja nur durch das eigentlich perverse Bedürfnis des Taxifahrers zustande gekommen ist, eine Person vollständig besitzen zu wollen und diese Abhängigkeit zu spüren, wie es im Roman heißt. Ich habe mich einerseits nach der Motivation des Taxifahrers gefragt: Ist es Absicht, dass er sich für eine(n) Transsexuelle(n) entscheidet oder purer Zufall?  An einer Stelle heißt es auch, dass er Sasha/Murilo „neu erschaffen“ will. Ist das – vor allem auf die von ihm forcierte Entwicklung Sashas vom Transsexuellen zum Homosexuellen zu beziehen? Und wie lässt sich die Bereitschaft Sashas/Murilos, Gefühle für ihren/seinen Vergewaltiger und Entführer aufzubringen, erklären? 

Bessa: Zunächst einmal beschreibt diese Beziehung eine Eigenheit des sogenannten Stockholmsyndroms – ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Es ist eine unbewusste Reaktion des Opfers auf eine lebensgefährliche Situation, eine Überlebensstrategie durch extreme Anpassungsfähigkeit. Im Roman ist es auf der Oberfläche der Geschichte ein Zufall, dass Sasha dem Entführer über den Weg läuft. Dies ist aber eine kleine Falle für die Leser*innen, denn am Ende, das bewusst offengehalten ist, könnte es eine Möglichkeit sein, dass Sasha, Murilo und der Taxifahrer ein und dieselbe Person sind.

literaturkritik.de: Es gibt im Roman eine schöne Szene, in der die Mitbewohnerin von Sasha, Blanche, sie bei der Polizei als vermisst meldet. Während Blanche weibliche Pronomen verwendet, ist der Polizist unfähig, diese Identität zu akzeptieren und verwendet hartnäckig männliche Pronomen. Ist diese Szene auch als Sprachkritik zu verstehen: Muss sich Sprache verändern, um transsexuellen Identitäten gerecht zu werden? 

Bessa: Die Frage der inklusiven Sprache wird momentan ja heiß diskutiert, nicht nur in Bezug auf queere Menschen, sondern auch in Sachen Frauen, Menschen mit Behinderung, POC und anderer Minderheiten. Dabei geht es für mich vor allem um Sichtbarkeit, um ein klares Gemeint-Sein. Man kann nur etwas werden oder herstellen, was man es vorher sich hat vorstellen können, und diese Vorstellung braucht eine Spiegelung in den Bildern, die auf uns wirken, zu denen auch Sprachbilder zählen.

literaturkritik.de: Dieser Polizist erweist sich als Vertreter eines institutionalisierten (brasilianischen) Machismo – warum hält sich dieser im 21. Jahrhundert immer noch so hartnäckig?

Bessa: Nicht nur in Brasilien. Wenn man bedenkt, wie lange Frauen keine eigenen Rechte zugestanden wurden – das Wahlrecht wurde z. B. erst Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt, oder dass Frauen erst seit 1977 nicht mehr die Einwilligung ihres Mannes brauchen, um arbeiten zu dürfen, oder dass Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar ist! – dann kann man sich vorstellen, dass diese Ungleichberechtigung nicht einfach mit ein paar Gesetzen abgewunken werden kann. Die Gesetze sind zwar ein wichtiger erster Impuls auf institutioneller Ebene, aber der strukturelle Machismo ist nicht so ohne Weiteres aus den Köpfen zu verbannen. Zumal er ja sehr tief in unseren Denk- und Handlungsmuster verwurzelt ist und größtenteils unbewusst abläuft. Deswegen ist es auch meiner Meinung nach so wichtig, etwas wie Sprache daraufhin bewusst zu hinterfragen und zu verändern. Denn auch ich glaube: „Sprache spiegelt nicht nur Realität, sie schafft auch Realität“.

literaturkritik.de: Im Roman finden wir einen expliziten intertextuellen Verweis auf Kafkas Brief an den Vater. Auch Sashas Verhältnis zu ihrem Vater ist überschattet von Kälte und Unverständnis. In dem Brief muss sie dem Vater klar machen, dass es einen Unterschied zwischen sexueller Identität und sexueller Orientierung gibt. Welche Rolle spielt Kafka für Ihr Schreiben? Und gibt es weitere literarische Einflüsse, die Ihr Schreiben grundlegend prägen?

Bessa: Kafka habe ich als junger Mensch gelesen und das hat mich so furchtbar beeindruckt, dass es fast einen negativen, einen lähmenden Effekt hatte. Kafka war so gigantisch, dass er mich eingeschüchtert hat. Ich dachte, so schreiben werde ich nie können, also lieber gleich lassen. Und so habe ich mich entschieden, erstmal mit Texten anderer Leute zu arbeiten und bin Schauspielerin geworden. Zum Glück gab es viel später, als ich mich mit 45 Jahren entschieden habe, doch zu schreiben, auch andere Einflüsse, die mir die Angst genommen und einen Impuls gegeben haben. Meine ersten Vorbilder waren brasilianische Autor*innen, die ich nach 20 Jahren in Deutschland wieder- bzw. neuentdeckt habe, wie Lygia Fagundes Telles, Graciliano Ramos, Guimarães Rosa, um nur ein paar Namen zu nennen. Aber auch deutsche Autoren wie Max Frisch und Heiner Müller haben mich sehr geprägt.

literaturkritik.de: Sie leben seit langer Zeit in Deutschland, sprechen perfekt Deutsch und arbeiten auch als Übersetzerin, u. a. haben Sie Max Frisch und Ingeborg Bachmann ins Portugiesische übersetzt. Was würden Sie allgemein als Herausforderungen der Übersetzung beschreiben und haben Sie auch schon über eine Selbstübersetzung nachgedacht?

Bessa: Menschen, die nichts mit Übersetzung zu tun haben, glauben, dass die Schwierigkeit darin liegt, das ganze Vokabular der Fremdsprache zu beherrschen. Das ist aber nicht wirklich das Problem, denn dafür sind Wörterbücher ja da, falls man das eine oder andere Wort nicht kennt. Eine große Herausforderung ist viel eher die Syntax, die in der Zielsprache meistens komplett anders ist als in der Ausgangssprache. Eine spezifische Schwierigkeit bei der literarischen Übersetzung ist außerdem, die Doppeldeutigkeiten und den Ton der Autor*innen genau zu transportieren. Oder was nicht explizit gesagt wird, was unter oder zwischen den Zeilen liegt. Eine eigene Übersetzung würde ich nicht machen, dafür fehlt mir, glaube ich, die Distanz.

literaturkritik.de: War es vor allem die Arbeit als Übersetzerin, die Sie zum Schreiben inspiriert hat?

Bessa: In der Tat war ich erst Übersetzerin, bevor ich mich ans eigene Schreiben herangewagt habe. Als Übersetzerin wollte ich genau verstehen, was in den Köpfen der Autor*innen passiert, wie der kreative Prozess des Schreibens vor sich geht, damit ich besser übersetzen konnte. Dann hat es aber überhandgenommen, denn ich entwickelte immer mehr Lust, meine eigenen Geschichten zu erzählen. Aber ich glaube, im Grunde ist es dieses uralte Bedürfnis, mich in die Haut Anderer zu versetzen, die mich erst zum Theater, dann zum Übersetzen und letztlich zum Schreiben gebracht hat. Es macht mir große Freude, mit der Stimme anderer Menschen zu sprechen, durch fiktive Figuren andere Leben zu leben.

literaturkritik.de: Bestimmt arbeiten Sie bereits an einem neuen Projekt – verraten Sie, um was geht?

Bessa: Ich arbeite an einem Roman, einer Coming of age Geschichte über die Annäherung dreier junger Menschen – eines Brasilianers, eines Deutschen und einer Halbfranzösin – die, auf den ersten Blick, nichts miteinander gemeinsam haben. Es ist auch mein erstes Buch, das Berlin als Haupthandlungsort hat, und es wird eine Art urbaner Road-Roman, der Dokumentarisches und Fiktionales zusammenwebt, um von der Suche junger Menschen nach ihrem Platz – in der Stadt und im Leben – zu erzählen. Es ist eine Geschichte über Freundschaft, Toleranz und Überwindung von Grenzen und eine Liebeserklärung an die chaotische und vielstimmige Metropole Berlin, aus der Sicht eines Zugereisten aus Lateinamerika.

Titelbild

Carla Bessa: Urubus. Erzählungen.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Lea Hübner.
Transit Buchverlag, Berlin 2021.
112 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783887473860

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