Vom Himmel in die Hölle in Toronto

Der südafrikanisch-kanadische Autor Kenneth Bonert schildert in „Toronto“ drastisch die Irrwege willensschwacher Menschen

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kommen Bücher aus dem englischsprachigen Raum auf den deutschen Markt, freut man sich, wenn ihr Titel weder einfach belassen noch verfälschend dramatisiert wird. Der Diogenes Verlag und die Übersetzerin Stefanie Schäfer, die bereits zwei Romane von Kenneth Bonert ins Deutsche übertragen hat, sind schöpferisch mit Titel und Untertitel der kanadischen Originalausgabe umgegangen. Aus Carry Us To Daylight – Four Novellas of Toronto wurde Toronto – Was uns durch die Nacht trägt.

Die Vorfahren des Autors Kenneth Bonert stammen aus Litauen. In seinem preisgekrönten Debütroman Der Löwensucher schilderte er das Schicksal einer der zahlreichen jüdischen Familien, die von Litauen nach Südafrika emigrierten, wo er geboren wurde. Er ging 1989 mit seinen Eltern nach Kanada. Vor einigen Jahren anlässlich einer Lesereise in Dresden gefragt, wo er sich zu Hause fühle, antwortete er: „Eindeutig in Kanada. Das ist ein Land, in dem man jeden willkommen heißt. Besonders Toronto ist ein Schmelztiegel der Kulturen.“ 

Ähnliches Lob ist mehrfach im Buch zu finden, wobei die kostenlose Gesundheitsvorsorge besonders gewürdigt wird. Schönfärberei gibt es jedoch kaum – lediglich ein Mann „mit Migrationshintergrund“ will sich seine Illusionen nicht ausreden lassen. Ansonsten wird das Land, das man grundsätzlich liebt, durchaus kritisch betrachtet. Da ist vom dünnen Mantel der Freundlichkeit die Rede, die zum Teil geheuchelt ist und sich in hassvolle Intrige wandeln kann. Obwohl ein dunkelhäutiger Mensch als „Nigger“ beschimpft wird, thematisiert Kenneth Bonert nicht Rassismus, sondern Charakterschwäche, von trägem Dahinleben bis zu abartigen Gewohnheiten. Stefanie Schäfer bringt die zuweilen drastische Sprache geradlinig ins Deutsche.

Familienangelegenheiten: Die Protagonistin will mit Cellospiel, Gruppentherapie und Esoterik einen unendlichen Schmerz bannen, dessen Ursache zunächst dunkel bleibt. Da taucht ein junger Mann bei ihr auf, „höchstens Mitte zwanzig“, weil ein „Zu vermieten“-Schild auf der Veranda hängt. Geld von einem Untermieter braucht sie nicht, doch führt sie den Wohnungssuchenden in den dritten Stock, den sie „seit der Katastrophe“ nicht mehr betreten hat. Kränkliche Wärme und der Geruch nach Medizin und verwesendem Fleisch hängen dort in der Luft. Ist der Ehemann oder ein Elternteil verstorben? Beides nicht – die Überraschung sei dem Leser überlassen. Der Untermieter wird aufgenommen. Der düstere Erzählton lässt ahnen, dass es nicht um banalen Sex gehen wird. Der junge Mann, erfolgloser Maler, zahlt mit Bargeld, weshalb die Vermieterin ihn für einen Drogendealer hält. Heimlich folgt sie ihm eines Abends – er jobbt als Barkeeper. Die Initiative zum ersten Sex geht von ihr aus, doch bald kommt es zum Streit. Er will nicht der brave Junge sein, nach dem man pfeift – und sie kann ihn nicht „auf der Todesetage“ besuchen. Er soll verschwinden, obwohl es kaum freie Mietwohnungen in Toronto gibt. Als er fort ist, wird sie zu Weihnachten erstmals „seit der Katastrophe“ ihre Verwandten einladen. Ob die viel Freude an ihr haben werden, steht dahin.

Berührung: Trevor wohnt mit Trudy in einem Vorort nördlich von Toronto, wo man mehr Ruhe und eine größere Wohnfläche bekommt als in der Stadtmitte. Er lebt in bequemer Trägheit, bis er eines Tages seine Kollegin Ping im Arm hält. Eine Woche später verlässt Ping die Firma. In einer kostenlosen Boulevardzeitung sieht Trevor nun Inserate für Massagesalons mit Frauen, die Ping ähneln. Die Geschichte wird abwechselnd vom sprachbewussten auktorialen Erzähler und, kursiv gedruckt, von Trevor erzählt, der in gehemmten inneren Monologen das ausspricht, was er seiner Frau verschweigt. Trevor überwindet seine Sucht nach Massagen, wird aber rückfällig, als er zufällig der schwangeren Ping begegnet. Er lässt sich von Martha massieren, einer Medizinerin aus Belarus, deren akademische Abschlüsse in Kanada nicht anerkannt werden. Als sie von Kriminellen bedrängt wird, macht er sich aus dem Staub. „Sie war nur eine Dienstleisterin in der Nacht.“ Am Schluss schreibt er ein umfassendes Geständnis für Trudy und begibt sich auf eine Reise ins Ungewisse, dem Riss in seinem Leben folgend. Schwer vorstellbar, dass dieser rückgratlose Mann beim Leser auf Sympathie stößt.

Das Paradies: Wie Millionen in Kanada kommt der Protagonist aus dem Ausland. Mit einem Hochschulabschluss in Biologie jobbt er in einer Autowaschanlage und sucht eine Anstellung, die seiner Qualifikation entspricht. Für ihn ist Toronto im Vergleich zu seiner asiatischen Insel voller Dschungelhitze und Korruption ein Stück Himmel auf Erden. Seine Partnerin, waschechte Kanadierin, hat ihn in einer Kneipe kennengelernt und fängt an, alles mit seinen Augen zu sehen. Sie erwerben mit viel Mühe ein freistehendes viktorianisches Haus. Den Winter über haben sie mit dem Renovieren zu tun. Hinter festverriegelten Fenstern entgeht ihnen, dass das Haus in einer doppelspurigen Straße mit pausenlosem Lärm bei Tag und Nacht steht. Die Frau leidet gewaltig darunter, und beide suchen Verbündete für die Umwandlung in eine Einbahnstraße. Die scheinen sie in den Anwohnern nahegelegener Einbahnstraßen zu finden. Eine Anwältin schlägt vor, einen Ausschuss zu bilden. Für eine Petition sammelt die Frau nun Unterschriften, während die Bewerbungsgespräche ihres Partners gut verlaufen, aber keine Anstellung bringen. Ein Landsmann mit Doktortitel, der seit neun Jahren Taxi fährt, sagt ihm, dass die Kanadier einem ins Gesicht lächeln, aber das Messer in den Rücken stechen. Die entscheidende Einwohnerversammlung wird zur Hölle für die beiden. Ihre vermeintlichen Verbündeten sprechen sich einhellig gegen die Umwandlung in eine Einbahnstraße aus. Als man die Frau beschimpft und verhöhnt, tröstet ihr Partner sie mit den Worten, böse Menschen gebe es sogar im Himmel.

Willkommen im Eishotel: Blake ist in Toronto geboren und hat die Stadt nie verlassen. Er beginnt eine Affäre mit einer Frau, die „bereits das absurd hohe Alter von dreißig erreicht“ hat. Sie ist unattraktiv und liederlich, „aber noch nie hatte sein Körper auf den einer Frau mit solcher Intensität reagiert“. Er nennt sie „Dirty Cougar“ („Dreckiger Puma“) und kommt nicht von ihr los. Blakes Lebensrhythmus ist durch abrupte Sprünge gekennzeichnet, impulsiv wie das krankmachende „digitale Feuer des Internets“. Er hat rund eine Viertelmillion Dollar geerbt, will eine Internetfirma gründen und zu einem Milliardenunternehmen machen. Grundlage soll eine Datenbank sein, auf der die Gesichter von Haustieren mit denen ihrer Besitzer verschmelzen. Als Blake mit einer schweren Erkrankung seiner Mutter konfrontiert wird, erkennt er im „Königreich des Krebses“, wie wertvoll das Leben ist, und gesteht Dirty Cougar am Handy seine Liebe. Die hat jetzt einen anderen, doch er meint, mit diesem Otto wolle sie ihn nur eifersüchtig machen. Als sie Blake sagt, es sei vorbei, behauptet der, er sei Millionär. Tatsächlich sind von seinem Erbe knapp 5.000 Dollar übrig. Er verfällt in Depression, die ihn von seinem Größenwahn heilt. Seine Internetpläne erkennt er als Selbsttäuschung. Im gehackten Mailkonto seiner Geliebten sieht er, dass es Otto schon lange gab. Am Ende kommt ihm Toronto vor wie ein riesengroßes Hotel aus Eis, doch es gibt ein wenig Hoffnung für ihn: „Solche Dinge lernt man, dachte Blake, wenn man erwachsen wird.“

Die vier Geschichten, in denen dreimal unglückliche Liebe und einmal gesellschaftliche Verwerflichkeit vor Augen geführt wird, bestechen durch unerbittliche psychologische Durchdringung ohne die Formulierung billiger Rezepte gegen das Unglück. Es ist am Leser, seine Schlüsse zu ziehen, um nicht durch eigenes Tun oder Nichtstun in Notlagen zu kommen wie die Protagonisten.

Titelbild

Kenneth Bonert: Toronto. Was uns durch die Nacht trägt.
Aus dem Kanadischen von Stefanie Schäfer.
Diogenes Verlag, Zürich 2021.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071511

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